Dichter Erdling
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Nadja ist müde. In der Straßenbahn ist es voll.
Nur mit Mühe ergattert sie einen Sitzplatz, direkt vor der Kinderwagenzone.
Sowie sie sich hinsetzt, ist sie auf Augenhöhe mit dem Kleinkind im Buggy.
Warm hier drin. Die Fensterscheiben sind von außen mit Werbung beklebt und von innen beschlagen, außerdem dunkelt es draußen. Nadjas Blick schweift im hellerleuchteten Fahrgastraum zwischen den Passagieren umher.
Der Kleine im Kinderwagen trägt eine graue Strickmütze und lutscht halbherzig am Daumen. Seine Mutter kitzelt und liebkost ihn, als er wiederholt anfangen will mit unzufriedenem Wimmern. Mit Erfolg, es bleibt ruhig in der Straßenbahn. Kein Geschrei. Die Mutter ist aufmerksam, liebevoll.
Nach drei Stationen steigt ein weiterer Kinderwagen zu. Er wird neben den anderen geschoben, sodass der Kleine mit der grauen Strickmütze jetzt einen Sitznachbarn hat.
Kind 2 trägt ebenfalls eine graue Strickmütze. Auf den ersten Blick schaut es aus wie der Zwillingsbruder von dem anderen. In seiner Kinderhand hält der zugestiegene Bub ein Pufuleti, dieses längliche Maisgebäck, das man zu hunderten in der Tüte kaufen kann.
Die beiden Buben sind sich auf Anhieb sympathisch und sind sogleich aneinander interessiert, das merkt man. Wie ähnlich sie sich sehen mit ihren fast identischen Mützchen! Sie sind im selben Alter, zwei Jahre vielleicht. Die winzigen Hände greifen jeweils hinüber in den anderen Kinderwagen, als wollten sie sich begrüßen, abtasten. Sie sind gleichermaßen neugierig aufeinander und auf die Welt.
Alsbald beugt sich der Zugestiegene vor zu der stoffüberzogenen Haltestange vor seiner Nase. In regelmäßigen Abständen sind hier Nieten eingelassen, in die sich so ein kleiner Finger gut hineinbohren lässt, das macht ihm sichtlich Spaß. Augenblicklich ist auch Kind 1 bei der Sache und macht es dem anderen nach. Gemeinsam stecken sie nun ihre Fingerchen in die Vertiefungen und jauchzen.
Dann allerdings erspäht Kind 1 die Knabberei in der Hand von dem anderen und will nun auch danach grabschen. So weit geht die Freundschaft jetzt aber noch nicht, dass der Zugestiegene seine Knabberei teilen würde. Das Pufuleti gibt er nicht her! Fast kommt es zu einer Auseinandersetzung, sodass die Mütter eingreifen müssen.
Die Mutter von Kind 1 versucht ihrem Sohn zu erklären, dass er das Naschi-Naschi leider nicht haben kann, was natürlich nicht hilfreich ist für den Moment.
Zum Glück entpuppt sich die andere Mutter als nett und großzügig - und klug. Sie bietet Mutter 1 eine Maisstange aus der Packung an, damit diese, so sie es will, die Knabberei an ihr Kind weiterreichen kann.
Alsbald sitzen die Kinder wieder friedlich nebeneinander und mampfen gemeinschaftlich Pufuleti. Einmal schaut es so aus, als würden sie damit anstoßen wie mit einem Glas.
Die Mütter lächeln sich an. Im Gegensatz zu ihren Kindern sind sie gut zu unterscheiden. Die Zugestiegene ist blond und trägt einen beigefarbenen Wollmantel ohne Gürtel; dagegen die Mutter von Kind 1 trägt einen dunkelblauen Wollmantel, tailliert mit Gürtel und ein dazu passendes Kopftuch.
Nadja fragt sich, ob und wann sich die beiden Buben aus dem Kinderwagen in ihrem späteren Leben nochmal über den Weg laufen könnten. Sie werden sich wohl nicht daran erinnern, dass sie einmal zwei gleichermaßen neugierige Augen und Hände waren, die zusammen die Welt erkunden wollten.
Als die Blonde mit dem Kinderwagen aussteigt, fängt das Kind vom blauen Wollmantel an zu heulen.
Später muss auch Nadja umsteigen.
Die Sache mit den Kindern hat sie bewegt irgendwie.
Die alte Frau neben ihr, die ebenfalls alles mitgekriegt hat, hat zwischenzeitlich mal einen Blick zu ihr rübergeworfen, der wohl sowas sagen wollte wie „Ist das nicht entzückend?“, aber da waren Nadja schon die Augen nass und sie konnte den Blick nicht erwidern. Sie ärgert sich, dass sie so leicht zu rühren ist. So wenig Anrührendes gibt es in der Welt, dass schon so eine kleine Begebenheit ausreicht, um ihr die Tränen in die Augen zu treiben.
In der anderen Straßenbahn sind keine Kleinkinder zugegen.
Nadja schafft es erneut, einen Sitzplatz zu kriegen.
Einen am Fenster, in einer dieser Zweierreihen. Das ist eine Plusminsus-Sache. Plus: Wenn man innen sitzt, kommt man nicht in die Verlegenheit, einer Oma den Platz anbieten zu müssen, dafür ist man (Minus) relativ eingesperrt, sobald sich ein Zweiter dazusetzt. Wenn man aussteigen will, muss man den Außensitzenden erst auffordern, den Weg frei zu machen, dann muss man sich an diesem Fremden vorbei winden.
Auch diese Bahn ist gut besetzt. Die Passagiere hier sind unauffällig, fast langweilig, denkt sich Nadja, aber dann kommt der Mann mit den vielen Taschen.
Der Mann mit den vielen Taschen lässt sich in der Zweierreihe vor Nadja nieder, sodass sie direkt hinter ihm sitzen muss.
Sie riecht es sofort: Dieser Mensch ist obdachlos. Der Geruch ist unverkennbar und unwillkürlich hält man die Luft an. Der Mann neben Nadja riecht es auch. Er steht auf, aber nicht etwa, um auszusteigen, sondern um sich weiter weg wieder hinzusetzen. Der Vater mit den Zwillingsmädchen in den zueinanderpassenden Schultaschen zieht seine Kinder ebenfalls weg, sagt: „Kommt, da vorne ist was frei…“, obwohl das gar nicht wahr ist. Rund um den Mann mit den vielen Taschen wird es leer.
Nadja bringt es nicht übers Herz, sich umzusetzen. Das kommt ihr falsch und unhöflich vor.
Gut, sie könnte so tun, als müsse sie aussteigen und für eine Weiterfahrt einfach die nächste Bahn nehmen, um ihre Absichten zu verschleiern, aber vor sich selbst müsste sie sich trotzdem schämen – und sie ist müde. So bleibt sie sitzen, direkt hinter dem Mann mit den vielen Taschen.
Unter einer seltsam bunten Wollmütze stehen borstige, fettige Haare ab.
Den Kopf hat der Mann zunächst an die Scheibe gelehnt, den Ellbogen am Fenstersims aufgestützt.
Nach einer Weile verbirgt er das Gesicht in den Händen und fängt an zu wimmern. Erst leise, dann lauter, bis es sich fast wie Geschimpfe anhört. Nadja glaubt, die Sprache des Mannes ist italienisch.
Sie vernimmt Worte wie „Pomodori“ und „Domani“. Ob der Mann morgen gern Tomaten essen würde?
Nadja fragt sich, was der Mann heute wohl gegessen hat und wo er später noch hingehen wird. Es ist Ende November, es ist schon Abend und der Wetterbericht hat Schnee angekündigt. Wohl wird der Mann Straßenbahn fahren, solange man ihn lässt. Solange niemand eine Fahrkarte kontrolliert oder sich aufregt. Wenn er weiter so wimmert und schimpft, wird sich vermutlich bald jemand aufregen.
Nadja starrt auf die schmutzigen, drallen Finger des Mannes direkt vor ihren Augen. Dicker schwarzer Rand unter den Nägeln.
Als hätte er ihre Blicke gespürt, dreht sich der Mann unvermittelt zu ihr um und brabbelt unverständliche Laute. Er scheint überrascht, dass Nadja noch nicht vor ihm geflohen ist, dass da noch jemand sitzt.
Verlegen schaut Nadja weg und tut so, als müsse sie grad jetzt in ihrer Tasche kramen, um nur ja nicht in eine Interaktion mit dem Mann verwickelt zu werden.
Vielleicht würde er sie anbetteln oder auch aggressiv angehen, weil sie es besser hat als er. Darauf gibt es nicht viel zu sagen. Zum Glück macht der Mann keine Anstalten, Nadja anzusprechen, sondern dreht sich bald wieder um, während Nadja noch mit ihrer Handtasche beschäftigt ist. Beim Kramen in der Tasche sucht sie schon mal nach den Schlüsseln. Sie hat nicht mehr weit, bald muss sie aussteigen. Die paar Stationen will sie es auch noch hier aushalten. Aber schon nochmal dreht sich der Mann zu ihr um, diesmal wortlos, ein stummer Blick, dann sackt er auf dem schmalen Sims entlang der Fensterfront zusammen. Der Sims verläuft direkt zwischen Nadja und dem Mann. Wenn sie wollte und wenn es etwas helfen würde, könnte sie ihm tröstend die Hand auf die Schulter legen.
Zwei Stationen bis zum Ziel.
Wie sie grad in der Tasche gekramt hat, ist es Nadja just wieder eingefallen, dass sie noch so ein Pickup und ein Pocket Coffee da drin hat. Das ist noch von neulich, als sie in der Früh keine Zeit fürs Frühstück hatte, da hat sie sich das vorsorglich eingesteckt und dann aber vergessen.
Das Pickup, ein mit Schokolade gefüllter Butterkeks, ist seinerseits noch vom Halloween-Teller übrig, den sie extra für die Nachbarskinder mit Markenprodukten bestückt hatte; die Kaffeepralinen hatte ihr jemand geschenkt.
Ob sie die Nascherei an den Mann weitergeben sollte? Teilen, wie es die blonde Mutter vorhin getan hat? Einfach, um den Moment ein bisschen besser zu machen?
Nadja weiß nicht so recht.
Keine Ahnung, wie der Mann reagieren würde.
Möglicherweise unwirsch, weil die geringe Gabe nicht wirklich was besser macht für ihn, weil es das Unrecht der Welt eben nicht aufwiegen kann.
Möglicherweise auch dankbar und froh – aber selbst darauf hat Nadja keine Lust. Sie weiß, dass ein bisschen Schokolade das Unrecht der Welt ja doch nicht aufwiegen kann. Sie will nicht gönnerhaft wirken wegen so einer Kleinigkeit.
Auch möglich, das befürchtet sie ernsthaft, wird sich einer der anderen Passagiere aufregen. Der Nadelstreif-Typ schaut schon recht angewidert herüber und Nadja traut es ihm ohne weiteres zu, dass er sie anschnauzen wird, weil sie Ungeziefer anfüttert, das man dann nicht mehr loswird. Dass Menschen solcherart reden, hält sie durchaus schon für möglich. Je mehr Obdachlose in der Stadt sichtbar sind, umso weniger Herz können sie sich erwarten.
In ihrer Handtasche tastet Nadja unentschlossen nach dem Pickup. Sie spürt, der Keks ist schon ein bisschen zerbröselt. Das kleinere Pocket Coffee findet sie nicht sofort, aber da ist es, eingepackt in braunrote Folie, in Nadjas Hand.
Kurz bevor sie an ihrer Haltestelle rausspringt, legt sie die Süßigkeiten auf den schmalen Fenstersims, auf dem der Mann seinen Ellbogen aufgestützt hat. Bis an seinen Ärmel heran schiebt sie das kleine Geschenk. Er muss sich nur nochmal umdrehen.
Nur mit Mühe ergattert sie einen Sitzplatz, direkt vor der Kinderwagenzone.
Sowie sie sich hinsetzt, ist sie auf Augenhöhe mit dem Kleinkind im Buggy.
Warm hier drin. Die Fensterscheiben sind von außen mit Werbung beklebt und von innen beschlagen, außerdem dunkelt es draußen. Nadjas Blick schweift im hellerleuchteten Fahrgastraum zwischen den Passagieren umher.
Der Kleine im Kinderwagen trägt eine graue Strickmütze und lutscht halbherzig am Daumen. Seine Mutter kitzelt und liebkost ihn, als er wiederholt anfangen will mit unzufriedenem Wimmern. Mit Erfolg, es bleibt ruhig in der Straßenbahn. Kein Geschrei. Die Mutter ist aufmerksam, liebevoll.
Nach drei Stationen steigt ein weiterer Kinderwagen zu. Er wird neben den anderen geschoben, sodass der Kleine mit der grauen Strickmütze jetzt einen Sitznachbarn hat.
Kind 2 trägt ebenfalls eine graue Strickmütze. Auf den ersten Blick schaut es aus wie der Zwillingsbruder von dem anderen. In seiner Kinderhand hält der zugestiegene Bub ein Pufuleti, dieses längliche Maisgebäck, das man zu hunderten in der Tüte kaufen kann.
Die beiden Buben sind sich auf Anhieb sympathisch und sind sogleich aneinander interessiert, das merkt man. Wie ähnlich sie sich sehen mit ihren fast identischen Mützchen! Sie sind im selben Alter, zwei Jahre vielleicht. Die winzigen Hände greifen jeweils hinüber in den anderen Kinderwagen, als wollten sie sich begrüßen, abtasten. Sie sind gleichermaßen neugierig aufeinander und auf die Welt.
Alsbald beugt sich der Zugestiegene vor zu der stoffüberzogenen Haltestange vor seiner Nase. In regelmäßigen Abständen sind hier Nieten eingelassen, in die sich so ein kleiner Finger gut hineinbohren lässt, das macht ihm sichtlich Spaß. Augenblicklich ist auch Kind 1 bei der Sache und macht es dem anderen nach. Gemeinsam stecken sie nun ihre Fingerchen in die Vertiefungen und jauchzen.
Dann allerdings erspäht Kind 1 die Knabberei in der Hand von dem anderen und will nun auch danach grabschen. So weit geht die Freundschaft jetzt aber noch nicht, dass der Zugestiegene seine Knabberei teilen würde. Das Pufuleti gibt er nicht her! Fast kommt es zu einer Auseinandersetzung, sodass die Mütter eingreifen müssen.
Die Mutter von Kind 1 versucht ihrem Sohn zu erklären, dass er das Naschi-Naschi leider nicht haben kann, was natürlich nicht hilfreich ist für den Moment.
Zum Glück entpuppt sich die andere Mutter als nett und großzügig - und klug. Sie bietet Mutter 1 eine Maisstange aus der Packung an, damit diese, so sie es will, die Knabberei an ihr Kind weiterreichen kann.
Alsbald sitzen die Kinder wieder friedlich nebeneinander und mampfen gemeinschaftlich Pufuleti. Einmal schaut es so aus, als würden sie damit anstoßen wie mit einem Glas.
Die Mütter lächeln sich an. Im Gegensatz zu ihren Kindern sind sie gut zu unterscheiden. Die Zugestiegene ist blond und trägt einen beigefarbenen Wollmantel ohne Gürtel; dagegen die Mutter von Kind 1 trägt einen dunkelblauen Wollmantel, tailliert mit Gürtel und ein dazu passendes Kopftuch.
Nadja fragt sich, ob und wann sich die beiden Buben aus dem Kinderwagen in ihrem späteren Leben nochmal über den Weg laufen könnten. Sie werden sich wohl nicht daran erinnern, dass sie einmal zwei gleichermaßen neugierige Augen und Hände waren, die zusammen die Welt erkunden wollten.
Als die Blonde mit dem Kinderwagen aussteigt, fängt das Kind vom blauen Wollmantel an zu heulen.
(Teil 1 Ende)
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(Umsteigen zu Teil 2)
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(Umsteigen zu Teil 2)
Später muss auch Nadja umsteigen.
Die Sache mit den Kindern hat sie bewegt irgendwie.
Die alte Frau neben ihr, die ebenfalls alles mitgekriegt hat, hat zwischenzeitlich mal einen Blick zu ihr rübergeworfen, der wohl sowas sagen wollte wie „Ist das nicht entzückend?“, aber da waren Nadja schon die Augen nass und sie konnte den Blick nicht erwidern. Sie ärgert sich, dass sie so leicht zu rühren ist. So wenig Anrührendes gibt es in der Welt, dass schon so eine kleine Begebenheit ausreicht, um ihr die Tränen in die Augen zu treiben.
In der anderen Straßenbahn sind keine Kleinkinder zugegen.
Nadja schafft es erneut, einen Sitzplatz zu kriegen.
Einen am Fenster, in einer dieser Zweierreihen. Das ist eine Plusminsus-Sache. Plus: Wenn man innen sitzt, kommt man nicht in die Verlegenheit, einer Oma den Platz anbieten zu müssen, dafür ist man (Minus) relativ eingesperrt, sobald sich ein Zweiter dazusetzt. Wenn man aussteigen will, muss man den Außensitzenden erst auffordern, den Weg frei zu machen, dann muss man sich an diesem Fremden vorbei winden.
Auch diese Bahn ist gut besetzt. Die Passagiere hier sind unauffällig, fast langweilig, denkt sich Nadja, aber dann kommt der Mann mit den vielen Taschen.
Der Mann mit den vielen Taschen lässt sich in der Zweierreihe vor Nadja nieder, sodass sie direkt hinter ihm sitzen muss.
Sie riecht es sofort: Dieser Mensch ist obdachlos. Der Geruch ist unverkennbar und unwillkürlich hält man die Luft an. Der Mann neben Nadja riecht es auch. Er steht auf, aber nicht etwa, um auszusteigen, sondern um sich weiter weg wieder hinzusetzen. Der Vater mit den Zwillingsmädchen in den zueinanderpassenden Schultaschen zieht seine Kinder ebenfalls weg, sagt: „Kommt, da vorne ist was frei…“, obwohl das gar nicht wahr ist. Rund um den Mann mit den vielen Taschen wird es leer.
Nadja bringt es nicht übers Herz, sich umzusetzen. Das kommt ihr falsch und unhöflich vor.
Gut, sie könnte so tun, als müsse sie aussteigen und für eine Weiterfahrt einfach die nächste Bahn nehmen, um ihre Absichten zu verschleiern, aber vor sich selbst müsste sie sich trotzdem schämen – und sie ist müde. So bleibt sie sitzen, direkt hinter dem Mann mit den vielen Taschen.
Unter einer seltsam bunten Wollmütze stehen borstige, fettige Haare ab.
Den Kopf hat der Mann zunächst an die Scheibe gelehnt, den Ellbogen am Fenstersims aufgestützt.
Nach einer Weile verbirgt er das Gesicht in den Händen und fängt an zu wimmern. Erst leise, dann lauter, bis es sich fast wie Geschimpfe anhört. Nadja glaubt, die Sprache des Mannes ist italienisch.
Sie vernimmt Worte wie „Pomodori“ und „Domani“. Ob der Mann morgen gern Tomaten essen würde?
Nadja fragt sich, was der Mann heute wohl gegessen hat und wo er später noch hingehen wird. Es ist Ende November, es ist schon Abend und der Wetterbericht hat Schnee angekündigt. Wohl wird der Mann Straßenbahn fahren, solange man ihn lässt. Solange niemand eine Fahrkarte kontrolliert oder sich aufregt. Wenn er weiter so wimmert und schimpft, wird sich vermutlich bald jemand aufregen.
Nadja starrt auf die schmutzigen, drallen Finger des Mannes direkt vor ihren Augen. Dicker schwarzer Rand unter den Nägeln.
Als hätte er ihre Blicke gespürt, dreht sich der Mann unvermittelt zu ihr um und brabbelt unverständliche Laute. Er scheint überrascht, dass Nadja noch nicht vor ihm geflohen ist, dass da noch jemand sitzt.
Verlegen schaut Nadja weg und tut so, als müsse sie grad jetzt in ihrer Tasche kramen, um nur ja nicht in eine Interaktion mit dem Mann verwickelt zu werden.
Vielleicht würde er sie anbetteln oder auch aggressiv angehen, weil sie es besser hat als er. Darauf gibt es nicht viel zu sagen. Zum Glück macht der Mann keine Anstalten, Nadja anzusprechen, sondern dreht sich bald wieder um, während Nadja noch mit ihrer Handtasche beschäftigt ist. Beim Kramen in der Tasche sucht sie schon mal nach den Schlüsseln. Sie hat nicht mehr weit, bald muss sie aussteigen. Die paar Stationen will sie es auch noch hier aushalten. Aber schon nochmal dreht sich der Mann zu ihr um, diesmal wortlos, ein stummer Blick, dann sackt er auf dem schmalen Sims entlang der Fensterfront zusammen. Der Sims verläuft direkt zwischen Nadja und dem Mann. Wenn sie wollte und wenn es etwas helfen würde, könnte sie ihm tröstend die Hand auf die Schulter legen.
Zwei Stationen bis zum Ziel.
Wie sie grad in der Tasche gekramt hat, ist es Nadja just wieder eingefallen, dass sie noch so ein Pickup und ein Pocket Coffee da drin hat. Das ist noch von neulich, als sie in der Früh keine Zeit fürs Frühstück hatte, da hat sie sich das vorsorglich eingesteckt und dann aber vergessen.
Das Pickup, ein mit Schokolade gefüllter Butterkeks, ist seinerseits noch vom Halloween-Teller übrig, den sie extra für die Nachbarskinder mit Markenprodukten bestückt hatte; die Kaffeepralinen hatte ihr jemand geschenkt.
Ob sie die Nascherei an den Mann weitergeben sollte? Teilen, wie es die blonde Mutter vorhin getan hat? Einfach, um den Moment ein bisschen besser zu machen?
Nadja weiß nicht so recht.
Keine Ahnung, wie der Mann reagieren würde.
Möglicherweise unwirsch, weil die geringe Gabe nicht wirklich was besser macht für ihn, weil es das Unrecht der Welt eben nicht aufwiegen kann.
Möglicherweise auch dankbar und froh – aber selbst darauf hat Nadja keine Lust. Sie weiß, dass ein bisschen Schokolade das Unrecht der Welt ja doch nicht aufwiegen kann. Sie will nicht gönnerhaft wirken wegen so einer Kleinigkeit.
Auch möglich, das befürchtet sie ernsthaft, wird sich einer der anderen Passagiere aufregen. Der Nadelstreif-Typ schaut schon recht angewidert herüber und Nadja traut es ihm ohne weiteres zu, dass er sie anschnauzen wird, weil sie Ungeziefer anfüttert, das man dann nicht mehr loswird. Dass Menschen solcherart reden, hält sie durchaus schon für möglich. Je mehr Obdachlose in der Stadt sichtbar sind, umso weniger Herz können sie sich erwarten.
In ihrer Handtasche tastet Nadja unentschlossen nach dem Pickup. Sie spürt, der Keks ist schon ein bisschen zerbröselt. Das kleinere Pocket Coffee findet sie nicht sofort, aber da ist es, eingepackt in braunrote Folie, in Nadjas Hand.
Kurz bevor sie an ihrer Haltestelle rausspringt, legt sie die Süßigkeiten auf den schmalen Fenstersims, auf dem der Mann seinen Ellbogen aufgestützt hat. Bis an seinen Ärmel heran schiebt sie das kleine Geschenk. Er muss sich nur nochmal umdrehen.