Hallo Stoffel und Daniela,
Muss denn ein gutes Gedicht auch allen logischen Analysen standhalten können.
Ich denke, ein "gutes" Gedicht würde einen überhaupt nicht auf die Idee bringen, es näher analysieren zu wollen: Es wäre in sich geschlossen und ließe in seiner Aussage oder Wirkung nichts Störendes zu oder offen. Das ist hier nach meinem Empfinden nicht der Fall. Weniger wegen einzelner streitbarer Metaphern sondern seiner ungewöhnlichen Perspektive: Das lyrische Ich schildert hier seine zunehmende Dünnhäutigkeit im wahrsten Sinne des Wortes nur oberflächlich und aus einer (äußeren) Retrospektive heraus:
> Meine Augenlider
> im Takt meines Herzens
> eines Vogels raschen
> Flügelschlägen gleich
> an zu vielen Bildern
> der Erinnerung gerieben
> dünn geworden wie Papier
Ein ganzer Absatz, der fast wertfrei und emotionslos von einer mechanischen Ermüdung und Abnutzung der Augenlider erzählt. Fast möchte man fragen, wie das innere Äquivalent dazu beschaffen sein mag: Zwischen absolutem Leidensdruck, leichter Resignation oder reiner Nostalgie wäre hier vieles möglich. Dass eine solche emotionale Bestimmung unterbleibt, zeigt nach meinem Empfinden, dass es hier maßgeblich nur darum ging, das Motiv Dünnhäutigkeit möglichst breit und bildreich einzuführen, um es im Folgenden zu verallgemeinern:
> So auch meine Haut
> die pergamenten
> durchsichtig scheinend
> in die du deinen Namen ritztest
So wie ich den Text verstehe, trägt das lyrische Ich seine Erinnerungen offenbar gar nicht in sich, sondern nur draußen eingeschrieben mit sich herum und hat das Bedürfnis, diese immer wieder lesend in sich auf- und wahrzunehmen: vielleicht wie ein Baum, in dessen Rinde jemand dauerhaft Spuren hinterlassen hat. Deshalb auch das Einritzen. Aber wäre das Endergebnis dessen nicht eine völlig narbenübersähte, entstellte und verdickte Haut, die die Behauptung vom drohenden Zerreißen völlig in Frage stellt? Spätestens an dieser Stelle kann ich der Aussage des Textes nicht mehr folgen, sie erscheint mir zu gewollt, konstruiert und logisch verbogen.
Ein weiterer Schwachpunkt ist die Unbestimmbarkeit einiger elementarer Fragen: Was fühlt das lyrische Ich? -> Ist es aufgeregt, unglücklich, nachdenklich, nachtragend, abgeklärt oder pathetisch? Was verbindet es mit dem nicht weiter ausgeführten "Einritzen des Namens"? -> Prägung, Inbesitznahme oder gar Ge- oder Missbrauch wider Willen? Hier hat der Text nach meinem Empfinden noch einiges an Potential, das noch nicht ausgeschöpft wurde.
Viele Grüße
Martin