Polaris

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VEI

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Ich stand am Bahnhof und blickte auf die Uhr. Sie zeigte mir eine Minute vor zwölf Uhr an. Das konnte ich gerade so erkennen. Ein Zug rauschte an mir vorbei und warf mir meine Haare ins Gesicht. Ich drehte meinen Kopf langsam zur Seite und sah Facetten von beleuchtenden Sitzplätzen und verwaschenen Gesichtern. Der Zug war so laut, dass nicht einmal die Ansagen des Lautsprechers oder die Gespräche von Menschen zu hören waren. Ich stand sowieso Abseits von Allen unter freien Himmel. Da hatte man eine gute Aussicht auf die kahlen Bäume vom Stadtpark und auf den Fluss, der sich seine Bahnen ebnete.

Ich streifte mir die Haare aus dem Gesicht und griff mit meiner Hand in meine Jackentasche, um mir eine Zigarette aus der Packung zu holen. Ich nahm sie in die Hand und steckte sie in den Mund. Meine Hand fing an zu zittern, als ich versuchte mir die Zigarette anzuzünden und meine Augen sich in dem grauen Meer verloren. Meine Hand erhob sich leicht, winkte den Ästen zu, als diese versuchten im Wind nach mir zu greife und schloss meine Augen.

Früher war es uns erlaubt zu träumen. Die Menschheit hatte schon immer die Fähigkeit das Geschenkte wegzuwerfen. Träumen durften die, die etwas mehr waren als eine Ansammlung aus Fleisch, Blut und Knochen. Weder schätzte noch wollte ich das. Ich träumte nie.

Ich erinnerte mich, wie ich damals auf einer Schaukel saß. Ich war vierzehn Jahre alt und die Sonne tauchte die Felder vor mir in ein strahlendes Gold ein. Ich saß dort öfters allein. Es war gar nicht so weit weg von zu Hause. Ich hatte diese Schaukel irgendwann gefunden. Hier war es still und man konnte das Glänzen der Sonne und den Himmel beobachten. Ich wollte eh nirgendswo hin.

Es war schwer dort aufzuwachsen, wo ich herkam. Ich war nicht grad sehr sozial. Ich glaube, sie haben mich mit Absicht gemieden. Kinder riechen es, wie Hunde. Sie merken, wenn etwas mit einem nicht stimmte. Aber ich saß hier und lächelte. Es war mein Platz.

Man muss sich schon für jemanden interessieren, damit man Interessant für andere wird. Nur darauf hatte ich keine Lust. Ich habe das nicht als Defizit empfunden oder war traurig. Es war mir einfach egal. Ich musste mit keinem reden. Ich saß einfach nur gern auf dieser Schaukel.

Das hatte sich irgendwann geändert. Irgendwann stand ein Junge vor meiner Haustür. Er war ein bisschen älter. Seine Hände waren zittrig als er mich anlächelte und er schaute auf den Boden, als er versuchte Worte hinaus zu stammeln. Wie ein Prinz, dacht ich damals.
Wir gingen ein Eis essen und es wurde der beste Tag in meinem Leben. Ich habe gar nicht mehr aufgehört zu reden und zu lachen. Er brachte mich zum lächeln ohne etwas zu tun. Er saß da nur und hörte mir zu. Ich war wie im Rausch. Und er zu schüchtern um etwas zu sagen. Es wollte eh keiner mit mir reden, also war das für mich auch nicht von Belang. Ich würde ihn wohl nie wiedersehen.

Aber er kam mich von da an jeden Tag besuchen Er war auch gar nicht mehr nervös. Eines Tages nahm er mich bei der Hand und flüsterte mir ins Ohr: „Komm ich zeig dir eine neue Welt, deine Welt“.

Wir gingen zu ihm nach Hause. Er schloss eine Tür auf, die uns in den Keller führen sollte. Es war schmutzig und dreckig. Unten angekommen sah ich viele Musikinstrumente stehen. Meine Augen wanderten über Synthesizer. Schlagzeuge, Synthesizer, Drum-Computer. Einige Modelle waren alt. andere neu, einige verstaubt und andere blank geputzt. Wir hörten die ganze Zeit Musik. Er zeigte mir alles was er hatte. Er nannte den Ort “Polaris“.

Er brachte mir so viel bei. Hören sei nicht gut. Der nächste Schritt sei verstehen, interpretieren und dann anwenden. Er meinte alles habe einen tieferen Sinn. Jede einzelne Note hat eine Bedeutung. Sie seien vernetzt und wenn man aufmerksam zuhöre, erkenne man die tiefere Ordnung. Kein wahrer Künstler würde auch nur eine Sekunde mit einer Aktion verschwenden, die Bedeutungslos wäre. Und wenn man sich diese Ordnung erschließt, entdeckt man etwas, etwas was tief verborgen war in der Menschheit. 0,03% die keiner zu entschlüsseln vermag. Ich war glücklich. Das warme Licht wärmte mein Gesicht durch das kleine Kellerfenster.

Eines Tages wollte ich ihm meinen Ort zeigen. Ich musste es tun. Ich war nervös. Ich nahm ihn schnell bei der Hand und führte ihn zu meiner Schaukel. Als wir ankamen, sah er die Felder und die Sonne strahlte. Ich setze mich auf die Schaukel und beobachtete ihn. Er sah sich die Sonne an und sagte: „Zeig es mir.“ Ich zeigte mit dem Finger auf die untergehende Sonne und die Felder begannen Gold zu schimmern.

Er schaute sich kurz um und kam auf mich zu. Er stellte sich vor die Sonne und ich hielt mir eine Hand oberhalb vor die Augen, um nicht geblendet zu werden. Er kniete sich vor mich hin mit Tränen im Gesicht und meinte: „Du weißt, was das hier ist oder?“
„Polaris“ sagte ich. Er nickte, stand auf und schaute gegen die Sonne. „Du darfst jetzt träumen“. Von da an träumte ich. Er kam nie wieder vorbei.

Was haben wir nur daraus gemacht?
Wir haben verlernt zu träumen. Wir haben diese Fähigkeit verloren, als wir begannen unserer Selbst bewusst zu werden.
Jeder glaubt heute ein Held in irgendeiner Geschichte, etwas Besonderes zu sein. Dabei ist jeder Niemand.

Wir ertränken uns in dem Wohlgefallen uns der Völlerei hinzugeben. Wir schlingen alles konsumerable in uns rein. Jeder Einzelne glaubt Experte auf seinem Gebiet zu sein. Wir reden über Essen, Trinken, oder wie das nächste Selfie wohl aussehen solle. Hohles Gelächter erfüllt die Hallen und die Instrumente verstummten. Wir fressen alles in uns rein wie Schweine am Masttrog bis wir ersticken an uns selbst.

Wir verstecken uns hinter Meinungen, um uns selbst zu schützen. Es sind ja bloß Meinungen Wenn man leise dem Grauen zuhört, hört man Leute reden, dass sie weder männlich noch weiblich sein, sondern ihr Geschlecht Bi-sternchen-genderqueer ist, oder irgendein anderes Wort, welches ich nicht mehr vernehmen konnte in dem lauten Schmatzen von Belanglosigkeiten.

Ich habe mich früher nicht für andere interessiert und jetzt komme ich zu spät, denn jeder interessiert sich nur noch für sich selbst. Mein Telefon vibrierte in der Tasche. Es wurde mir mitgeteilt, dass wir uns heute treffen wollten, um einen Wunschbrunnen zu besichtigen, der mitten im Wald stehen sollte. Meine Augen wurden kalt und verblassten, aber ich entgegnete mit einem „JA, coole Idee“, um nicht ganz aus der Rolle zu fallen.

Die Bäume reckten sich wie schreckliche Geister über meinen Kopf. Der Himmel war grau und eisig. Wir schlängelten uns um die Bäume herum und sahen in der Ferne ein abgeschlossenes Haus stehen. Es sah alt und verwildert aus. Wir brachen mit Gewalt die Holztür auf und gingen in dem Raum hinein, indem sich in der Mitte ein Brunnen befand. Alle lachten um mich herum, als ob wir gerade etwas unglaubliches Wundervolles gefunden hätte und schon begann der erste darüber zu reden, was er doch alles über Brunnen wüsste und wieso das gebaut wurde. Ich nahm eine Münze, schaute ihn an und sagte: „Hier ist nichts“. Ich warf eine Münze in den Brunnen und alle verstummten und beobachteten mich. Ich verstand und ging.

Ich wollte einen anderen Weg zurücknehmen, aber sie folgten mir.
Ich war besser und beschleunigte meinen Schritt. Ihre Stimmen wurden leiser und leiser. Vielleicht bin ich gerannt. Ich kann mich nicht erinnern. Der Wind pfiff mir um die Ohren. Es war kalt. Ich war allein.
Ich lief schneller und schneller.
Ich drehte langsam meinen Kopf zur Seite und blickte auf eine Lichtung. An zwei Bäumen links und rechts von mir waren Seile befestigt. Ich weitete meine Augen
An den Stricken war eine Schaukel befestigt, die im Wind sich bewegte. Ich ging langsam auf sie zu.
Dann blieb ich stehen.

Irgendetwas stimmte nicht. An den Stricken war eine Rosaschleife mit einem lächelnden Gesicht befestigt. Ich wurde das Gefühl nicht los, das sich nicht allein war in diesem Moment. Ich wollte mich so gern auf sie setzen, aber irgendwas flüsterte mir. Ich schloss meine Augen, während die Schaukel von meiner Kamera gefilmt wurde. Der Wind blies mir ums Gesicht. Er wurde stärker und stärker. Ich fühlte wie etwas auf mich zukam Ich konnte es fühlen im raschelnden Laub.
Ich öffnete die Augen, drehte mich um. Nichts. Nur der Wind. Ich blickte zurück und sah dieses schon fast grinsende Smiley. Ich schaltete mein Handy aus und ging langsam.

Ich schaute mir noch den ganzen Tag das Video an, um etwas zu sehen, was nicht leicht zu sehen war. Dann schlief ich ein.
In meinem Traum erwachte ich in einer Stadt voller Menschen. Sie war mir bekannt und ich müsste mich auskennen, aber ich war verloren und allein.
Dann fasste mich jemand an die Hand und sagte zu mir, dass ich ihm folgen solle. Wir rannten durch die Seitengassen, der Sonne entgegen.
Wir erreichten eine Anhöhe mit Häuser und man konnte über die Stadt blicken. Ich drehte mich zu ihm und wusste wer es war. Er fasste mein Gesicht an und flüsterte zu mir: „Das wollte ich dir eigentlichen zeigen. Hier gehörst du hin und du darfst deine Freunde mitbringen. Du weißt, dass wir hier auf dich warten. Du bist bald da.“ Ich nickte zögerlich und war geblendet von der Wärme der Sonne.
Ich versuchte auf die Stadt hinabzublicken, aber irgendwas versperrte mir die Sicht und ich sagte zu ihm, dass ich nichts sehen könne, egal wie ich mich anstrengte. Ich sprang, dreht mich in möglichen Winkel. Ich konnte nichts sehen. „Wieso sehe ich nichts?“, schrie ich.

Er sah mich an, lächelte und nickte.

Es war mein letzter Traum. Ich senkte meine Hand, öffnete meine Augen, nahm einen Zug von der Zigarette und ging nach Hause.
Ich wollte eh nirgendswohin.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo VEI, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 



 
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