Pränatal

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Anonym

Gast
Die Nachbarin gibt Milch in ihren Kaffee, rührt um und blickt auf meine neugeborenen Zwillinge, die friedlich im Reisebett schlafen. "Niedlich", sagt sie. "Und beide gesund?", fügt sie an und trinkt einen Schluck Kaffee.

"Ja", erwidere ich, "Gott sei Dank", setze ich noch hinzu. Ich weiß, dass sie auch religiös ist, ich treffe sie oft im Gottesdienst.

Jetzt streichelt die Frau ihren gewölbten Leib. "Wir haben unser Kind untersuchen und eine Chorionzottenbiopsie machen lassen", erklärt sie in sanftem Ton und erläutert dann die Vorgehensweise. "Jetzt wissen wir, dass wir ein Mädchen bekommen und es ganz gesund sein wird", sagt sie weiter.

"Warum haben Sie das machen lassen?", rutscht es mir heraus. "Wir wollten kein krankes Kind", antwortet sie und trinkt erneut von ihrem Kaffee.

Ich sage noch, dass ich meine Kinder keinem vergleichbaren Text unterzogen habe. Danach schweigen wir.

Heute sah ich das ungeborene Mädchen von damals. Sie ist inzwischen erwachsen. Hattest du ein Glück dass du gesund warst, dachte ich.

Sonst wärest du nicht da.
 
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Aufschreiber

Mitglied
Ich gestehe, dass mich so sehr fromme Personen immer schon ein wenig geängstigt haben.
Im viertletzten Satz könnte das "X" noch Austausch finden, ansonsten finde ich es sehr gelungen.
 

Anonym

Gast
Vielen Dank!

Ich bin überrascht über die positive Einschätzung, da der Text bei anderen nicht so gut ankam.

Die Nachbarin ist in der Tat bigott.

Gruß A.
 

Aufschreiber

Mitglied
Ich mag den Text besonders, weil er sich mit eigenen Erfahrungen deckt. Der ehemalige Leiter eines ultrafrommen Bibelkreises, dessen "Lebensziel" die "Errettung verlorener Schafe" gewesen ist, wurde nach der Wiedervereinigung zu einem berüchtigten Arbeitgeber in der Gesundheitsbranche, der nur damit beschäftigt ist, Patienten abzuzocken und seine (deshalb stark fluktuierende) Mannschaft auszuputzen.
Aber er hat "Danke, Jesus" am Giebel seines neu erbauten Praxisgebäudes stehen ...

Das macht dann sicher alle Schweinereien wett. - ODER?
 
Für mich ist die Ich-Erzählerin kein bisschen besser als die Nachbarin. Das Gerede über die Kirche spielt für mich auch keine Rolle. Ich finde den Text platt, denn er dient nur dazu, die Botschaft zu vermitteln: Du darfst keinesfalls abtreiben, ganz egal, warum. Wenn du es tust, dann bist du schlecht und böse. Der Text ist wahrhaftig plakativ.
 
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Aufschreiber

Mitglied
@SilberneDelfine:
Ich bin erstaunt, wie unterschiedlich man den Text lesen kann. Das mit dem Abtreiben konnte ich (also jetzt ich) dem nirgends - als Botschaft - entnehmen. Aber sicher gibt es da Interpretationsspielräume.
Meine erwähnten Erfahrungen lassen mich das eben komplett anders lesen.
 
@Aufschreiber
Nun, du bist keine Frau... Ich habe über die Thematik eine Geschichte zum Frauentag geschrieben, wenn du Lust hast, kannst du mal reinschauen.

Was noch in dieser Geschichte durchscheint für mich, ist der Gedanke, dass man ein krankes Kind auf jeden Fall austragen soll, auch wenn damit weder dem Kind noch der Mutter geholfen ist.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 

Aufschreiber

Mitglied
Hmmm. Ich gestehe, dass mich die Anmerkung zu meinem Geschlecht nicht lockt, Deinen Text zu lesen.
Männer-Frauen Diskurse sind mir herzlich zuwider.

Deine Interpretation differiert von meiner. Mehr mag ich da jetzt nicht mehr sagen.
 
Das mit dem Abtreiben konnte ich (also jetzt ich) dem nirgends - als Botschaft - entnehmen
Wie interpretierst du den Satz:

. Heute sah ich das ungeborene Mädchen von damals. Sie ist inzwischen erwachsen. Hattest du ein Glück dass du gesund warst, dachte ich.
denn sonst?

Männer-Frauen Diskurse sind mir herzlich zuwider.
Mir auch. Meine eigene Geschichte handelt auch nicht davon. Aber egal.
 
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Anonym

Gast
Eine kontroverse Diskussion ist immer gut.

Normalerweise schweigt der Autor über die Entstehung/Inspiration zum Text und den Anteil von Dichtung und Wahrheit, aber in diesem Fall kann ich sagen, dass der Text auf einer wahren, sehr lange zurück liegenden Begebenheit beruht.

Zuallererst geht es nicht um Abtreibung, sondern um pränatale Diagnostik und ihren Umgang damit. Das hat Aufschreiber schon richtig erkannt. Mit dieser Problematik ist natürlich das Thema Abtreibung verbunden.

Denn: Wie umgehen mit einem positiven Ergebnis einer pränatalen Diagnostik, hier die Chorionzottenbiopsie - treibt die Frau ab oder nicht? Ist es besser, nichts zu wissen (wie die Ich-Erzählerin?) Oder ist es besser, eine Behinderung vorgeburtlich zu wissen und sich dann zu informieren, wie die Eltern damit umgehen können und welche Hilfs/Fördermaßnahmen es gibt?

Das Thema ist natürlich superkomplex, aber in diesem kurzen Text kommt alles vor, denn zusätzlich ist noch der christliche Gedanke eingebunden, dass du nicht töten darfst.

Die Ich-Erzählerin hat eine andere Entscheidung als die Nachbarin getroffen und gibt ihre Gefühle wieder, als sie das Mädchen sah. Es ist mir klar, dass der Text provoziert. Und auch sehr einfach rüberkommen kann.

Ein Meinungsaustausch zu diesen Themen ist immer schwierig, denn ein bisschen schwanger gibt es ebenso wenig wie ein bisschen abtreiben. Die Folgen sind jedes Mal lebenslang.

Wenn der Text zumindest ein Nachdenken auslöst, hat er schon etwas bewirkt.

Gruß A.
 

Aufschreiber

Mitglied
Danke A.

ich hatte mir auch eingebildet, das so verstanden zu haben. - Aber sicher gibt es immer andere Perspektiven.

@SilberneDelfine

Ich interpretiere den Satz so, dass die Eltern sich gegen ihr Kind entschieden hätten, wäre das Ergebnis nicht zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen. - Und das hätte dem "Glauben", der ja wohl auch betont wird, widersprochen, um das einmal freundlich auszudrücken.
Als fromme Christen wären sie doch angehalten gewesen, das Kind zuerst einmal als gottgewolltes Leben zu akzeptieren, denn hätte ER es nicht gewollt, wäre die Schwangerschaft nicht so weit gediehen.

Und meinem Empfinden nach hat das nicht primär mit Abtreibung zu tun - oder mit dem Akzeptieren von Kindern, die "anders" sind (siehe Autismus oder Andersartigkeiten, die man eben nicht diagnostiziert hat), sondern mit der Einstellung zu dem werdenden Menschen und der eigenen Religion.
Darüber hinaus sehe ich nicht wirklich einen Bezug zwischen meinem Geschlecht und der Interpretation.

Mein Fazit:
Ich finde den Text immernoch gut.
 
Ich verstehe den Text eigentlich als Widerspruch zum christlichen Glauben. Die schwangere Dame hat überlegt, ihr Kind abzutreiben, falls es krank ist, obwohl sie an Gott glaubt, der alle Lebewesen liebt, gleich welche Besonderheiten sie aufweisen.

Für ihre Freundin dagegen, scheinbar keinen Glauben angehörend und dennoch den christlichen Gebot folgend, wäre es eine Selbstverständlichkeit, auch ein Kind mit Besonderheiten auf die Welt zu bringen.
 

Anonym

Gast
Ich verstehe den Text eigentlich als Widerspruch zum christlichen Glauben. Die schwangere Dame hat überlegt, ihr Kind abzutreiben, falls es krank ist, obwohl sie an Gott glaubt, der alle Lebewesen liebt, gleich welche Besonderheiten sie aufweisen.
Richtig erkannt.


Für ihre Freundin dagegen, scheinbar keinen Glauben angehörend und dennoch den christlichen Gebot folgend, wäre es eine Selbstverständlichkeit, auch ein Kind mit Besonderheiten auf die Welt zu bringen.
Doch, die Ich-Erzählerin gehört auch dem christlichen Glauben an, das sollte eigentlich in dem Satz

"Ich weiß, dass sie auch religiös ist, ich sehe sie oft in der Kirche."

deutlich werden. Sie sind gemeinsam in der Kirche!

Das habe ich wohl missverständlich formuliert. Ich werde mir eine Alternative überlegen.

Danke für die großzügige Bewertung!
 



 
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