Philipp Hallen
Mitglied
-
Empfohlener Beitrag
- #1
Fensterputzen. Wer mag sowas schon, aber heute ist es wieder mal so weit. Langsam ziehe ich den Abzieher nach unten und ärgere mich über den zurückgebliebenen Streifen. Mit einem Fasertuch und kräftigem Schrubben schaffe ich auch dieses lästige Überbleibsel aus der Welt. Noch zwei Fensterscheiben und ich habe erstmal wieder Ruhe für ein paar Wochen. Oder Monate? Wie oft sollte man eigentlich Fenster putzen? Beim Nachhängen dieses Gedankens fällt mir eine alte Frau auf der Straße auf, die ihre Nase mit einem Stofftaschentuch schnäuzt. Ich mustere sie durchs saubere Fenster, sie erinnert mich an meine Oma. Weiße schulterlange Haare, ein dunkelrotes Kopftuch, beige Jacke und eine dunkelbraune Hose. Sie verstaut das Taschentuch in ihrer Hosentasche und verlagert mit einem Satz das Gewicht auf den Gehstock. Beim Weitergehen fällt eine kleine Karte aus ihrer Tasche. Impulsiv möchte ich ihr zurufen, es sieht aus wie eine Scheckkarte. Doch am Fenstersims stehen meine Putzutensilien und versperren den Weg. Hastig greife ich nach dem Wassereimer, in dem der Schwamm vollgesogen schwimmt und stelle ihn auf den Boden. Etwas Seifenwasser schwappt hinaus und ich fluche. Beim Öffnen des Fensters ist die Frau schon verschwunden. Verdammt, wie schnell kann die mit ihrem Stock eigentlich gehen? Egal! Ich renne zur Wohnungstür, schnappe meine Schlüssel und beeile mich die Treppe hinunter. Zwei Stufen auf einmal und schon stehe ich auf der Straße. Es ist ihr Personalausweis, doch von ihr fehlt jede Spur.
Gerda Maria Hildebrand
geboren am 22. März 1937 in Lünedorf.
Ihr Foto lächelt mich an, ihre Augen sind schön. Ich drehe den Ausweis um und finde ihre Adresse:
Heinrich Heine Straße 4
Das ist ja gleich ums Eck! Spontan gehe ich zur Straßenecke und biege in die Heinrich Heine ein. Bei der Nummer 4 angekommen fahre ich mit dem Zeigefinger über das Klingelbrett und meine Lippen bewegen sich langsam beim Lesen der Namen.
Hildebrand, da ist es. Ich klingle und warte geduldig. Nach einer Weile krächzt die Gegensprechanlage und eine freundliche Stimme fragt:
„Ja bitte?“
„Frau Hildebrand?“
„Ja?“
„Ah gut, ich hab hier Ihren Personalausweis.“
Stille.
Dann wieder die freundliche Stimme:
„Ach so?“
„Ja, Sie haben den gerade auf der Straße verloren und ich wollte ihn nur zurückbringen.“
„Och das ist ja fürchterlich lieb von Ihnen. Warten Sie, ich mache Ihnen die Tür auf. Zweiter Stock.“
Dann summt der Türöffner und ich schlüpfe in das fremde Haus. Vor mir ein alter Aufzug mit Metalltür zum selber öffnen. Doch in den zweiten Stock kann ich auch gehen. Das Treppenhaus riecht etwas muffig und ist kaum beleuchtet. Von oben hallt mir laute Musik entgegen. Im zweiten Stock angekommen bieten sich zwei Wohnungstüren an, links klebt mit Tesafilm unterm Türspion ein selbst gemaltes Bild. Eindeutig von einem Kind gemalt, zeigt es vier Strichmännchen, zwei Erwachsene und zwei Kinder. Darunter hat jemand Familie Baumann gekritzelt. Hinter der rechten Tür dröhnt die laute Musik.
Du hast mich!
Du hast mich!
Du hast mich gefragt...
Du hast mich gefragt...
Du hast mich gefragt und ich hab‘ nichts gesagt...
Das kann ja nicht stimmen. Ich nähere mich der Tür und versuche auf der Klingel den Namen zu lesen. Im selben Moment öffnet die alte Frau mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie nimmt mir den Personalausweis aus der Hand und strahlt übers ganze Gesicht.
„Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen“. Im Hintergrund dröhnt Lindemanns rollendes R.
„Wollen Sie noch reinkommen, auf eine Tasse Tee? So als kleines Dankeschön?“
Willst du bis der Tod euch scheidet
Treu ihr sein für alle Tage?
NEIN!
Ich stehe da und stammle vor mich hin:
„Äh ja, also, gern...“
Mit einer einladenden Handbewegung deutet sie mir einzutreten. Kurz zögere ich und gehe hinein. Die alte Frau, so gar nicht meine Oma, schließt die Tür und verkündet fröhlich:
„Rammstein und Kamillentee.“
© 2021
Gerda Maria Hildebrand
geboren am 22. März 1937 in Lünedorf.
Ihr Foto lächelt mich an, ihre Augen sind schön. Ich drehe den Ausweis um und finde ihre Adresse:
Heinrich Heine Straße 4
Das ist ja gleich ums Eck! Spontan gehe ich zur Straßenecke und biege in die Heinrich Heine ein. Bei der Nummer 4 angekommen fahre ich mit dem Zeigefinger über das Klingelbrett und meine Lippen bewegen sich langsam beim Lesen der Namen.
Hildebrand, da ist es. Ich klingle und warte geduldig. Nach einer Weile krächzt die Gegensprechanlage und eine freundliche Stimme fragt:
„Ja bitte?“
„Frau Hildebrand?“
„Ja?“
„Ah gut, ich hab hier Ihren Personalausweis.“
Stille.
Dann wieder die freundliche Stimme:
„Ach so?“
„Ja, Sie haben den gerade auf der Straße verloren und ich wollte ihn nur zurückbringen.“
„Och das ist ja fürchterlich lieb von Ihnen. Warten Sie, ich mache Ihnen die Tür auf. Zweiter Stock.“
Dann summt der Türöffner und ich schlüpfe in das fremde Haus. Vor mir ein alter Aufzug mit Metalltür zum selber öffnen. Doch in den zweiten Stock kann ich auch gehen. Das Treppenhaus riecht etwas muffig und ist kaum beleuchtet. Von oben hallt mir laute Musik entgegen. Im zweiten Stock angekommen bieten sich zwei Wohnungstüren an, links klebt mit Tesafilm unterm Türspion ein selbst gemaltes Bild. Eindeutig von einem Kind gemalt, zeigt es vier Strichmännchen, zwei Erwachsene und zwei Kinder. Darunter hat jemand Familie Baumann gekritzelt. Hinter der rechten Tür dröhnt die laute Musik.
Du hast mich!
Du hast mich!
Du hast mich gefragt...
Du hast mich gefragt...
Du hast mich gefragt und ich hab‘ nichts gesagt...
Das kann ja nicht stimmen. Ich nähere mich der Tür und versuche auf der Klingel den Namen zu lesen. Im selben Moment öffnet die alte Frau mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie nimmt mir den Personalausweis aus der Hand und strahlt übers ganze Gesicht.
„Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen“. Im Hintergrund dröhnt Lindemanns rollendes R.
„Wollen Sie noch reinkommen, auf eine Tasse Tee? So als kleines Dankeschön?“
Willst du bis der Tod euch scheidet
Treu ihr sein für alle Tage?
NEIN!
Ich stehe da und stammle vor mich hin:
„Äh ja, also, gern...“
Mit einer einladenden Handbewegung deutet sie mir einzutreten. Kurz zögere ich und gehe hinein. Die alte Frau, so gar nicht meine Oma, schließt die Tür und verkündet fröhlich:
„Rammstein und Kamillentee.“
© 2021
Zuletzt bearbeitet: