Rudi und der Rotstift

4,50 Stern(e) 2 Bewertungen

lietzensee

Mitglied
Rudi und der Rotstift​

Ein Blatt und ein Halbes waren vollgeschrieben. Die Geschichte war erzählt und Rudi lehnte sich zurück. Ihr Kern war ein Erlebnis, das er vor Jahren im Keller des alten Fleischerhauses gehabt hatte. Da Rudi fertig war, musste nun der Rotstift ran.
Die erste Szene war die Beste des Textes, ironisch und gleichzeitig beklemmend. Man spürte die Dunkelheit in der eigenen Brust. Die Szene hatte nur ein Problem. Sie gehörte nicht zu der Geschichte. Sie erzählte von derselben Person am selben Ort. Aber die eigentliche Geschichte begann erst nach dem Ende der Szene.
"Könnte sie nicht trotzdem bleiben?", bat Rudi, wie für ein streunendes Kätzchen.
Es ging hin und her. Aber die letzte Entscheidung lautete: "Nein." Der Rotstift strich den Absatz.
Die Sprache im Hauptteil war blumig. "Diese Sprache wuchert." Der Rotstift setzte an. Er strich faulig vor Moder und durchdringend vor dem Quietschen. "Und Lippen muss man nicht extra beschreiben, bevor die Zähne aufblitzen." Rote Farbe saugte sich in die Poren des Papiers. Vom langen Korridor, dem Zwang an seinem Anfang und der Angst am Ende, blieb nur die Szene hinter der blutigen Kellertür. Mit den Fingern trommelte Rudi auf den Tisch. Er versuchte in Worte zu fassen, warum er an manchen Worten so hing. Manchmal schrieben sich zwei Begriffe einfach besser als einer alleine. Aber der Stift fiel über sie her wie ein Räuber, ein Marodeur.
Rote Striche zwischen Anführungszeichen. "Der Dialog ist viel zu langatmig. Den muss man zuspitzen wie einen Dolch. Und diese Metaphern sind Rohrkrepierer." Rudi biss sich auf die Lippe. Er bekam Angst um seine Geschichte. Der Rotstift schrammte übers Papier. "Gleich ist es vorbei." Das klang wie beim Zahnarzt. Schließlich blieb nur noch ein einziger Satz stehen. Rudi lass ihn unsicher. Doch der Stift war noch nicht fertig. "Seien wir mutig!"
Als es wirklich vorbei war, atmete Rudi tief aus. Dann legte er den Rotstift zurück in seine Schachtel. Das Kürzen war ein Streit mit sich selbst. Schwer war es, den Rotstift anzusetzen. Aber schwerer war es dann, ihn zu zügeln. Auf dem Blatt war nur noch ein Wort übrig. Rudi las: Kellertür. Er las das Wort noch einmal. Dann nickte er. Da steckte alles drin, was er hatte zu Papier bringen wollen.
 
Guten Morgen, lietzensee,

was für eine gute Idee, welche gute Umsetzung.

Ein Blatt und ein Halbes waren vollgeschrieben. Die Geschichte war erzählt und Rudi lehnte sich zurück.
Hätte er da mal lieber sofort die Blätter weggelegt. :cool:

Bei "Ein Blatt und ein Halbes" vermute ich stark, dass es "Ein Blatt und ein halbes" heißt.

Die erste Szene war die Beste des Textes, ironisch und gleichzeitig beklemmend.
Auch hier: "die beste".
Gegenprüfung: "Achim war ein toller Kerl, er war der Beste." --> Hier bedeutet "der Beste" nicht "der beste Kerl", sondern ist ein eigenes Hauptwort.

Würde mich echt interessieren, ob dazu jemand die passende Regel findet.

"Könnte sie nicht trotzdem bleiben?", bat Rudi, wie für ein streunendes Kätzchen.
Es ging hin und her. Aber die letzte Entscheidung lautete: "Nein." Der Rotstift strich den Absatz.
Schön, wie er hier mit dem Stift zu kommunizieren scheint.

Rudi las: Kellertür. Er las das Wort noch einmal. Dann nickte er. Da steckte alles drin, was er hatte zu Papier bringen wollen.
Finde ich auch. "Kellertür" sagt alles.
Er traut sich quasi gar nicht mehr, diese zu öffnen.

Sehr schön.

LG, Franklyn Francis
 



 
Oben Unten