rückläufig erzählt

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jon

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Teammitglied
Wahrscheinlich gibt es sowas auch (Film "Memento"). Häufiger ist vermutlich, dass es einen Vorwärtsstrang und Rückblicke gibt, die ihrerseits vor-, rück- oder "wirr"läufig sind (Film "The Prestige"). (Text-Beispiele fallen mir keine konkreten ein.)

So zu erzählen stellt aber natürlich erhöhte Anforderungen an den Leser (beim Film an den Zuschauer), dessen muss man sich bewusst sein.
 

ahorn

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Hallo jon, lange nichts mehr von dir gelesen. ;)
Hallo wolf999.

Die Zeit ist ein sehr interessantes Mittel, allerdings wird es dir sicher nicht gelingen, die Physik auf den Kopf zu stellen. Ursache-Wirkungs-Prinzip.
Was man jedoch machen kann - ich gehe davon aus, dass dies jon meinte - ist, dass man in mehreren Handlungssträngen erzählt, die sich in verschieden Zeiten befinden. Die sich unter Umständen überschneiden, ohne dass dies der Leser auf Anhieb mitbekommen.
Allerdings - da stimme ich jon zu - verlangt dieses vom Leser, und nicht zuletzt vom Autor, viel ab.
Ich weiß, wovon ich spreche. Mir raucht der Kopf. :eek:

Gruß
Ahorn
 

jon

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" ohne dass dies der Leser auf Anhieb mitbekommen " Das würde ich beim Schreiben nicht anstreben, das erzeugt eine viel zu große Verwirrung. Es ist für viele schwer genug, klar erkennbare Zeitsprünge im Kopf sortiert zu bekommen und zu behalten.
Ich habe schon öfter Texte gelesen, wo dieses "nicht mitbekommen" nicht geplant war, sondern aufgrund von Erzählfehlern passierte. Meine Erfahrung: Das stört ungemein und erschwert das Verstehen teils erheblich.
 

ahorn

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Da gebe ich dir voll uns ganz recht, soweit sich dieses auf die Protagonisten eines Handlungsstranges bezieht. Dieses wäre genauso, als träfe man sich selbst bei einer Zeitreise.
Allerdings gibt es auch Nebendarsteller, wenn diese in einem anderen Zeitstrang auftauchen - vielleicht beim Friseur, in einem Café oder Supermarkt ..?
Wichtig ist einzig - dieser Meinung bin ich -, dass immer mit offenen Karten gespielt wird, der aufmerksame Leser hinter den 'Trick' kommt.
Ob dieses funktioniert oder nicht kann ich nicht sagen. Bin eben ein kleiner Stümper. ;)
Allerdings, das Experiment wäre es wert.

Gruß
Ahorn
 

wolf999

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Der Film „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ hat mich zu der Frage animiert. Verfilmt nach der Kurzgeschichte von „The Curious Case of Benjamin Button„ von F. Scott Fitzgerald.
 

jon

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@wolf999
Die Button-Geschichte ist ja was anderes - sie wird vorwärts erzählt. Gelegentlich wird für den Film damit geworben, dass sich Button in der Zeit zurück bewegen würde - das stimmt aber gar nicht: Nur sein Körper entwickelt sich "falsch herum".


@ahorn
Klar, versuch es, wenn du einen passenden Stoff hast. Manches muss man selbst austesten und wie bei allem gilt: Dass etwas schwierig ist, heißt nicht, dass es unmöglich ist.
 

lietzensee

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Hallo Wolf,
ich sehe das wie Ahorn, Physik und die Reihenfolge von Ursache und Wirkung kann man nicht austricksen. Schon bei einem einzigen Satz kann ich mir schwer vorstellen, wie "echtes" rückwärtiges Erzählen funktionieren soll. Wie willst du "Der Mann schloss die Tür." rückwärts erzählen? "Die Tür wurde vom Mann entöffnet?" Ich denke, bei solchen Versuchen kommen immer in sich gestaffelte Rückblenden heraus. Aber auch die können ja reizvoll sein.

Es ist sicher nicht das was du meinst, aber mir fällt dazu dieser Text ein. (Quelle: Internet). Hier kann man die Kausalkette quasi in beide Richtungen lesen:

For want of a nail the shoe was lost,
for want of a shoe the horse was lost,
for want of a horse the knight was lost,
for want of a knight the battle was lost,
for want of a battle the kingdom was lost.
So a kingdom was lost—all for want of a nail.

Viele Grüße
lietzensee
 
Hallo zusammen,

natürlich kann man nicht wortwörtlich rückwärts erzählen, wie lietzensee richtig erkannt hat. Es sind immer gestaffelte Rückblenden. Das könnte zum Beispiel bei einer Kriminalgeschichte funktionieren. Den Anfang macht die Urteilsverkündung. Der Erzähler schildert dann die Beweisführung rückwärts. Ganz am Ende steht dann die Tat und erst dann wird das Motiv entschlüsselt. Interessante Überlegung ...

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
In der Fernsehserie "Doktor Who" gibt es einen Handlungsstrang, in dem die Zeit für eine der Hauptpersonen rückwärts verläuft. Sie kann sich also an das, was für die anderen schon geschehen war, nicht erinnern, dafür kennt sie deren Zukunft.

Die Frage beim Rückwärtserzählen: Verläuft die Erzählerzeit rückwärts? Dann kann auch rückwärts erzählt werden und die Geburt liegt in der Zukunft.

Ich bin vor einem Tag gestorben. Es gab dann einen Leichenschmaus. Anschließend wurde ich ins Grab gelegt. Ich bin Ingenieur und sehr krank. Ich werde mich nicht sehr vorsehen. Irgendwann komme ich bei meiner Mutter an, die mich später gebiert. Daran kann ich mich noch nicht erinnern, ich bin ja 70 Jahre alt.

(Sehr stark vereinfacht.)

Hier verläuft das Gedächtnis rückwärts.
 

ahorn

Mitglied
Dat kann sich ganz mächtig verknoten. o_O
Bernd, bei deinem Beispiel stirbt er auch an einer falschen Stelle. Oder ist er ein Zombie? :cool:
Wenn ich mir dann eine komplette, komplexe Geschichte vorstellen. :oops:

Gruß
Ahorn
 

wolf999

Mitglied
Jetzt habe ich mir das Buch F S Fitzgerald „ Der selstame Fall des Benjamin Button“ durchgelesen. Da läuft zwar das Leben des Protagonisten rückwärts, aber die Geschichte wird „in die Zukunft“ erzählt.
Es stellt sich die einfach kindliche Frage: „Warum geht das nicht?“:oops:
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Was geht nicht? Das zu erzählen? Das geht - beweist ja das Buch. Aber das ist ja nicht die Ausgangsfrage, die war "Kann man rückwärts erzählen?", nicht "Kann man etwas erzählen, das rückwärts abläuft?"
Oder meinst du, warum das biologisch nicht geht?
 

Hans Dotterich

Mitglied
Eine ziemlich bekannte rückwärts erzählte Story ist die "Kuh Elsa", ein Sketch von Dieter Hallervorden: "Die Kuh Elsa ist tot.", "Pech für die Kuh Elsa, wer ist die Kuh Elsa?", Und am Ende erfährt man, dass der ganze Hof abgebrannt ist.

Wie sagte einst Erich Honnecker: "Rückwärts immer, vorwärts nimmer."

Seht Ihr, es geht!

Hans
 
Ich glaube Memento ist da als großer Film ziemlich einzigartig und das macht ihn auch letztlich so erfolgreich. Ich finde Christopher Nolan als Regisseur maximal gut, aber nicht herausragend. Was er aber wie kein anderer versteht ist das Editing (engl. Schnitt). Damit ist die Kunst gemeint zu wissen, wann in der Geschichte welche Szene gezeigt werden soll um den bestmöglichen Effekt zu erzielen. In Memento hat Nolan das fast schon perfektioniert. Der Film hat eig. eine Geschichte, die chronologisch erzählt wie eine x-beliebige Krimi-Geschichte wäre. Aber die Art und Weise, wie der Film erzählt wird, macht die Geschichte unfassbar spannend mit einem Wendepunkt, der sogar noch tiefgründige moralische Fragen aufwirft.

Dazu sei aber gesagt, dass es Geschichten gibt, die sich eher für so ein Shuffeling von Szenen eignet als andere. Eine sich aufbauende Beziehung zwischen zwei Charakteren halte ich für so etwas eher ungeeignet, weil man als Leser oder Zuschauer die Entwicklung nachvollziehen muss.
Auch eignet sich so etwas mehr für Filme, als für Bücher. So ein Film dauert im Regelfall um die 2 Stunden. In der kurzen Zeit kann man sich vieles merken und Schlüsse ziehen, weil man bei der Sache ist.
Ein Buch liest da meist länger. Und ich will behaupten, dass die wenigsten Menschen ein Buch, das über 300 Seiten hat, am Stück durchlesen. Ich bin zwar ein langsamer Leser, aber selbst meine Mutter liest Bücher über mehrere Tage hinweg verteilt. Um da einen Überblick zu behalten, wann was im Buch geschehen ist, brauche ich eine Aufmerksamkeitsspanne, die der eines Übermenschen gleicht. Oft habe ich schon nach ein paar Kapiteln vergessen, was ich gerade alles im Detail gelesen habe.
Bestenfalls habe ich in einem Buch verschiedene Timelines, die aber auch linear erzählt werden. Gelegentlich kann man mal einen Rückblick irgendwo einbauen, aber mehr würde ich meinen Lesern da nicht zumuten. Darum wird in Büchern selten durcheinander erzählt, weil das einfach nicht so gut funktioniert.
 

Günter Wendt

Mitglied
Die meisten Geschichten fangen bei einem Standpunkt (A) und entwickeln sich in die Zukunft (B).
Zurückliegende Ereignisse werden dann mit Rückblenden erzählt.
Jetzt würde mich interessieren, gibt es auch Geschichten die „rückläufig“ erzählt werden? Also von B nach A?
Eine interessante Frage.
Ich hab da mal recherchiert. Das Buch heißt Tick Tack - Wie lange kannst du lügen? Von Megan Miranda.
Auszug aus dem Klappentext:
„ … Zwei Wochen später wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Wer ist sie? Was ist in der Zwischenzeit passiert? Auf unheimlich geschickte Weise erzählt Megan Miranda diese Geschichte rückwärts. Von Tag 15 zu Tag 14 zu Tag 13 bis schließlich zurück bis zu Tag 1 offenbart sich uns nach und nach, was seit Nics Rückkehr passiert ist – und was zehn Jahre zuvor mit Corinne geschah.“

Interessant auch ein Text der Uni Münster:
Zitat aus dem PDF Dokument:
“Jede Form der Dissonanz zwischen den Zeitformen im Erzählverlauf, wie sie auch bei rückwärtsgerichteten Erzählformen vorliegen, bezeichnet Genette als ,Anachronie‘ (Genette 1994: 25f.). Kuhn (2011: 204) stellt die Frage, ob solche Filme, die nach der Jahrtausendwende als ,Rückwärtserzählungen‘ deklariert und vermarktet wurden, auch im buchstäblichen Sinne rückwärts erzählen. Mit Fokus auf die kommerziell erfolgreichen Filme Memento , Irréversible und 5x2 merkt er an, dass es sich lediglich um schrittweise Zurücksprünge innerhalb des Erzählverlaufs handelt. Die jeweiligen Erzählabschnitte verlaufen eigentlich in sich chronologisch, woraus der Eindruck des Rückwärtserzählens kreiert wird. Jedoch handelt es sich dabei um eine rückwärtsgewandte Schleifenstruktur des Erzählens, die durch den systematischen Einsatz von Analepsen mit der Zeitwahrnehmung der RezipientInnen spielt.“

Auf jeden Fall eine Erzählform, die von Autoren und Lesern viel abverlangt.
 



 
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