Liebe Fee,
was für ein spannendes Thema - eine ziemlich komplexe Materie, viele Modelle, Erklärungsansätze, Facetten.
Ich finde wieder keine falsche Aussage von Dir, aber ich meine dennoch etwas anderes - viel rudimentärer.
So eine Art Grundausstattung an Eigenschaften - eben das Material, aus dem wir sind, wie das Temperament, kognitive Möglichkeiten, emotionale Ansprechbarkeit und Beeindruckbarkeit.
Zwar hat unsere Umwelt einen erheblichen Anteil an unserer Entwicklung - dass man quasi blöde aufwächst ohne menschliche Berührung und Ansprache macht das offensichtlich. Und doch meine ich, dass erst einmal nur das gefördert - oder verhindert - werden kann, was da ist.
Diese Eigenschaften sind in einer Art Schatzkästlein und werden entweder 'gehoben' oder verschmäht - und viele Abstufungen dazwischen.
Ich glaube auch, dass 'Ererbtes' aus dem Artikel nicht so wörtlich zu nehmen ist. Ich würde es eher als 'Disposition' bezeichnen, wie man das biologisch nennen könnte - eine Art Veranlagung. Man hört ja manchmal so Geschichten, wie der Sohn den gleichen Gang hatte wie der Vater, den er nie kennenlernte - das kann man vom Charakter nicht sagen, weil es nicht verifizierbar ist - wohingegen man den Körperbau schon nachvollziehbarer 'erben' kann. Ich bin auch mit dem 'erworbenen' Eigenschaften nicht ganz glücklich aus Deiner Definition. Es kann sein, dass man vielleicht im Laufe seines Lebens an einen Punkt kommen kann, wo man die eine Stärke, die man nie zuvor brauchte, anwenden kann. Hat man sie dann 'erworben'?
Ich glaube tatsächlich, dass Charakter etwas ist, das uns in die Wiege gelegt wird und dann durch die Beeinflussungen von außen (positiv und negativ) geformt werden kann, aber nicht wirklich verändert.
Der Mensch kann sich nicht wirklich ändern. Er kann Verhaltensweisen ändern und seinen Horizont erweitern, aber all das auf die ihm eigene Art.
Es gibt da diese schrille Serie auf ZDFNeo - Deadlines - über vier Freundinnen um die Dreißig. Eine davon, Jo, hat eine Medienkarriere hinter sich noch als Teenager und erscheint völlig entwurzelt. Sie will nicht arbeiten, kann ihre Miete nicht zahlen, kann sich vor Verehrern nicht retten, die sie alle nicht will. Sie denkt über sich, für sie gäbe es keinen Verwendungszweck mehr. Sie mäandert durch ihr Leben, immer wieder 'aufgefangen' von ihren Freundinnen, die sie als ihr 'Baby' bezeichnen. Da steckt jede Menge drin. Für mich ist es Charakter, wie sie mit den Herausforderungen umgeht - unabhängig von den Traumata.
Das ist aber nur ein Aspekt vom Menschen. Was da noch alles reinspielt ... mir fällt da ein amerikanischer Justizfall ein. Da war ein Mann des Mordes überführt und zum Tode verurteilt worden. Bei der langen 'Wartezeit', die in den USA vergehen kann, bis ein Urteil vollstreckt wird, war bei dem Mann eine chemische Besonderheit im Gehirn aufgefallen. Er hatte einen bestimmten Stoff extrem erhöht, der zum Kontrollverlust der Affekte führen kann. Mit der geeigneten Medikation würde dieser Mann nie wieder im Affekt einen Mord begehen und hätte er es gewusst, hätte es nie so weit kommen müssen. Was also da an biochemischen Prozessen noch alles an gefühltem und hergeleitetem Wissen über den Haufen geworfen werden könnte, lässt sich gar nicht abmessen.
Außer in diesem extremen Fall macht das auch nicht unbedingt einen Unterschied, sondern ist einfach ein biochemischen Modell, dass dem anderen entspricht - ein sturer Mensch hat diesen Cocktail im Kopf, ein Optimist jenen ...
Dazu müsste eben das "Leiden an sich selbst" als solches erkannt werden. Wird es aber meist erst in fortgeschrittenem Alter - und auch dann nur, wenn die bis dahin entwickelten Verdrängungsstrategien nicht so tief sitzen, dass man anders gar nicht mehr kann (denn sonst müsste man sich ja ein Scheitern auf ganzer Linie eingestehen und wer kann und will das schon?)
Das ist eine ganz andere Baustelle ... weil von der 'Erkrankung' her gedacht wird. Und nach meiner Auffassung gibt es auch kein gescheitertes Leben, das sind Label von außen, die man verinnerlicht hat - quasi ein Kulturerbe - das nur dazu führt, dass man einen Meßbecher nimmt, der auf alle angewandt wird, aber der charakterlichen Vielfalt und der Vielfalt der Schicksale (noch so ein Unwort

) nicht gerecht wird.
Nehmen wir als Beispiel einen nichtsesshaften Alkoholkranken. Er mag in seinen Augen da sein, wo er ist, weil er gescheitert ist, aber das ist die Beurteilung von außen, die er angenommen hat - nicht im Moment auf der Straße, sondern schon vorher. Weil er vielleicht nicht sein durfte, wer er ist. Vielleicht war er ohne Ehrgeiz und wäre gerne in einer anspruchslosen, regelmäßigen Tätigkeit glücklich geworden, aber da man da meist nicht gut verdient, gab es mehr als einen Grund, sich zu verbiegen. Erst Druck der Eltern, dann vielleicht der Ehefrau, und irgendwann kam der erwartbare Knall, Job weg, Haus weg, Frau weg. Er ist 'gescheitert'. Wie er mit den Herausforderungen der Umwelt an sich umging und umgeht, das ist Charakter. Man könnte argumentieren, dass er sich aufgrund sozialer Verflechtungen (Vorbilder, Einengungen) nicht durchsetzen konnte, aber wenn man tiefer gräbt, ist es das Wesen eines Menschen, das ihn handeln lässt. Es war ihm nicht gegeben, rechtzeitig herauszufinden, wer er war und es ist ihm nicht gegeben, das Stigma des Gescheiterten abzulegen. Es ist sein Weg und er wird ihn bis zu Ende gehen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das ist nicht Fatalismus und dass man nicht Hilfsangebote machen müsste - unbedingt muss man das. Es geht hier nicht um die Verantwortung der Gesellschaft für Hilfebedürftige. Eher um die Verantwortung der Gesellschaft, mit dem 'Gescheitert-Meßbecher' weniger herumzuwedeln. (Das ist jetzt nicht auf Dich gemünzt!!!)
Die Schwäche von der Perspektive aus der Erkrankung heraus ist die Erwartung der Heilung. Aber für Charakter und Schicksal gibt es keine Heilung. Wir werden krumm und dumm und krank geboren. Wir haben eine kurze, eine lange Lebensspanne, wir sind arm und armselig. Das alles entspricht der Würde des Menschen, aber wenn wir so tun, als gäbe es dieses Maß an 'Glück' oder 'Gesundheit' für alle, verhöhnen wir als erstes diese Würde.
Es gibt Menschen, die werden mit zuwenig Grundausstattung ins Rennen geschickt, um ein Leben zu führen, das als 'nicht-gescheitert' gelten könnte nach dem Meßbecher-Prinzip und es besteht die große Gefahr, dass dies dazu führt, dass der Meßbecher zum Ausgrenzungskriterium wird wie bei den krummen Gurken, die es nicht ins Geschäft schaffen.
Eine Perspektive fehlt mir natürlich völlig, und das ist die eines Menschen, der für ein junges Leben verantwortlich ist. Ich kann mich dem Themenkomplex recht theortisch nähern, weil ich diese Aufgabe nie hatte. Und doch möchte ich meinen, dass man einen jungen Menschen am meisten unterstützt, wenn man ihm hilft, herauszufinden, wer er ist.
Jetzt bin ich aber wieder ins Schwatzen gekommen - ich hoffe, Du kannst nachvollziehen wie bei mir das eine zum anderen führte ... und irgendwie hat das auch alles etwas mit Deinem Text zu tun. (Du hast mich inspiriert!)
Liebe Grüße
Petra