Saure Trauben (Sonett)

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's gibt solche, die mäandern durch ihr Leben;
vermögen, scheint's, bloß ziellos drin zu schreiten.
Als strebten sie danach, hindurchzugleiten -
ganz ohne Höh'n und Tiefen: glatt und eben

soll'n Lebensfäden sein: stets leicht zu weben!
Kein Ehrgeiz lässt Erfolge sie erstreiten.
Im Kleinkarierten sucht man nicht nach Weiten.
So bleibt man schlicht am Altvertrauten kleben.

Doch welches Recht, so sag mir, mag erlauben,
solch strenges Urteil leichterhand zu fällen?
Wer sagt, dass diese niemals an sich leiden?

Dass sie den Machern deren Drang nicht neiden,
und so, als hingen an zu hohen Stellen,
sie gleich dem Fuchs verachten saure Trauben...





.dez_2022
 

petrasmiles

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Liebe Fee,

wieder wunderbar gedichtet! Habe ich mir (sogar) laut vorgelesen.

Beim dritten Mal ist mir dann aber die Typisierung 'entglitten'.
Ich glaube nämlich, dass die ziellos Mäandernden nicht dieselben sind, die in Kleinkariertem stecken oder an Altvertrautem kleben.
Aber die Bilder, meine Gute, zum Niederknien!

Liebe Grüße
Petra
 

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Danke, liebe Petra!


Ich glaube nämlich, dass die ziellos Mäandernden nicht dieselben sind, die in Kleinkariertem stecken oder an Altvertrautem kleben.
Darüber muss ich erst eine Weile nachdenken.
Du meinst, letztere stecken und kleben da immer ganz bewusst? Also mit sehr konkreter Vorstellung von einem geglückten Lebensvollzug?
Ich meinte es eher so, dass unsere Horizonte nicht von uns allein "gesteckt" werden. Ja - nicht einmal die Sicht auf diese ist für jeden gleich weit und frei. Lebensmuster werden ja auch weitervererbt als "Wahrheiten über das Leben und wie man es lebt" - gänzlich unreflektiert.
 

petrasmiles

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Du hast mit allem recht, aber ich denke eben, dass Ziellosigkeit eine Frage des Charakters ist. Wir sind mit unterschiedlichen Stärken ausgestattet, und wenn man trotz Talenten und Intelligenz 'nichts zustande' bringt, dann hat das mehr mit dem Charakter zu tun als diesen psychosozialen Rahmenbedingungen. Jemand, der seine gewohnten Trampelpfade nicht verlassen 'kann', hat einen Plan.
Lebensmuster sind das eine und die Auseinandersetzung des Charakters mit diese Faktoren - dem Überwinden oder Entsprechen - sind etwas anderes.
Meine ich.

Liebe Grüße
Petra

P.S. Oder ist Charakter mittlerweile old school und wird gar nicht mehr berücksichtigt?
 

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ist Charakter mittlerweile old school und wird gar nicht mehr berücksichtigt?
Was ist Charakter denn eigentlich?

Oxford Languages definiert ihn so:

"Cha·rak·ter
...

Substantiv, maskulin [der]
...
individuelles Gepräge eines Menschen durch ererbte und erworbene Eigenschaften, wie es in seinem Wollen und Handeln zum Ausdruck kommt"

Die ererbten Eigenschaften sehe ich hier als das, was Charakter manchmal schwer fassbar macht, denn auf denen klebt nun mal kein Etikett drauf wie zum Beispiel "vom Onkel väterlichterseits geerbt". Noch schwieriger, wenn das Erbe - was oft der Fall ist (aus Familien-systemischen Gründen) - eine oder zwei Generationen überspringt und man es als Eltern (oder auch man selbst) gar nicht oder nur schwer einordnen kann, warum der Spross sich jeglichen Vorbildwirkungen und Erziehungsansätzen gerade in diesem oder jenem Aspekt als resistent erweist.

Wo hat die Erziehung zu kurz gegriffen oder versagt und wo "ist man einfach, wie man ist"? Und kann es in letzterem Falle überhaupt gelingen, dieses aktiv zu überwinden? Dazu müsste eben das "Leiden an sich selbst" als solches erkannt werden. Wird es aber meist erst in fortgeschrittenem Alter - und auch dann nur, wenn die bis dahin entwickelten Verdrängungsstrategien nicht so tief sitzen, dass man anders gar nicht mehr kann (denn sonst müsste man sich ja ein Scheitern auf ganzer Linie eingestehen und wer kann und will das schon?). Manchmal aber - behaupte ich - geschieht genau das. Das Erkennen. Meist in einer besonders heftigen aktuellen Lebenskrise, die ein Umdenken und Hinschauen erzwingt. Wer dann das Glück hat, einen guten Therapeuten zu haben, der einen nicht zu sehr "schont", hat die Chance, sein Leben endlich in Bahnen zu lenken, in denen er sich endlich spürt und wiederfindet.

Die Ziellosigkeit beobachte ich nicht selten als genau dieses unbewusste Verharren in einer gefühlten Zwickmühle (oft auch als eine Form der Depression oder in Form von totaler Resignation) ohne, dass dieses Gefühl genauer analysiert wird. Nie zu Ende gebrachte Ausbildungen (damit wenigstens irgendetwas geschieht), ein Leben nach Schema F, das aber nie "erfüllt", weil kein wirklich eigenes Ziel gefasst wird (der Betroffene das aber nicht erkennt, weil zu sehr in Familien-Glaubenssätzen gefangen, die allesamt für ihn nur Scheiterkonzepte darstellen)....es gibt viele Möglichkeiten, sein Leben "hinter sich" zu bringen und es dennoch nicht gelebt zu haben im Sinne eines geglückten Lebensvollzugs.
Und diese Menschen spüren das - auch, wenn sie es nicht greifen können oder verstehen, warum sie so "herumwurschteln", wie sie das tun. Oder warum ihnen immer etwas "fehlt", das sie aber nicht benennen können.

Charakter ist ein Wort, das sehr oft noch mit Wertung von außen einhergeht. Ich mag es, ehrlich gesagt, nicht besonders, weil es eine gewisse Endgültigkeit bezüglich der Handlungsfreiheit des Einzelnen ausdrückt. "Man ist halt so. Da kann man nichts machen." Also in der "old school"-Verwendung jedenfalls.
 

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Jemand, der seine gewohnten Trampelpfade nicht verlassen 'kann', hat einen Plan.
Da bin ich mir eben nicht so sicher. Jeder hat Strategien, würde ich eher sagen. Manche davon helfen, die Planlosigkeit zu übertünchen. Das kann auch die Strategie des rastlosen Schneller-Höher-Weiter in Beruf und/oder Freizeit sein. Solche Personen brechen irgendwann total zusammen. Andere, die das Muster der Depression in ihren Genen und/oder auch vorgelebt bekommen haben, werden wohl eher - salopp gesagt - "herumeiern" mit dem, was ihnen mangels Glauben an ihre Selbstwirksamkeit an Energie eben zur Verfügung steht. Ziellos im Sinne von "Erfüllung" sind sie beide in gewisser Weise.

Der "echte Plan" fehlt beiden. Und auch das Aufstellen stets neuer Pläne und Ziele kann ein Trampelpfad in die falsche Richtung sein...

Und den Plan des Leidensgewinns (also das Verharren in Scheiterkonzepten, die nicht glücklich machen und meist mit mehr oder weniger starkem Leid einhergehen, um sich nicht der Angst stellen zu müssen, die mit großen Entscheidungen, Verantwortung und Veränderungen in Richtung Neuland einhergehen) haben wir alle hier und da.
 

petrasmiles

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Liebe Fee,

was für ein spannendes Thema - eine ziemlich komplexe Materie, viele Modelle, Erklärungsansätze, Facetten.
Ich finde wieder keine falsche Aussage von Dir, aber ich meine dennoch etwas anderes - viel rudimentärer.
So eine Art Grundausstattung an Eigenschaften - eben das Material, aus dem wir sind, wie das Temperament, kognitive Möglichkeiten, emotionale Ansprechbarkeit und Beeindruckbarkeit.
Zwar hat unsere Umwelt einen erheblichen Anteil an unserer Entwicklung - dass man quasi blöde aufwächst ohne menschliche Berührung und Ansprache macht das offensichtlich. Und doch meine ich, dass erst einmal nur das gefördert - oder verhindert - werden kann, was da ist.
Diese Eigenschaften sind in einer Art Schatzkästlein und werden entweder 'gehoben' oder verschmäht - und viele Abstufungen dazwischen.

Ich glaube auch, dass 'Ererbtes' aus dem Artikel nicht so wörtlich zu nehmen ist. Ich würde es eher als 'Disposition' bezeichnen, wie man das biologisch nennen könnte - eine Art Veranlagung. Man hört ja manchmal so Geschichten, wie der Sohn den gleichen Gang hatte wie der Vater, den er nie kennenlernte - das kann man vom Charakter nicht sagen, weil es nicht verifizierbar ist - wohingegen man den Körperbau schon nachvollziehbarer 'erben' kann. Ich bin auch mit dem 'erworbenen' Eigenschaften nicht ganz glücklich aus Deiner Definition. Es kann sein, dass man vielleicht im Laufe seines Lebens an einen Punkt kommen kann, wo man die eine Stärke, die man nie zuvor brauchte, anwenden kann. Hat man sie dann 'erworben'?
Ich glaube tatsächlich, dass Charakter etwas ist, das uns in die Wiege gelegt wird und dann durch die Beeinflussungen von außen (positiv und negativ) geformt werden kann, aber nicht wirklich verändert.
Der Mensch kann sich nicht wirklich ändern. Er kann Verhaltensweisen ändern und seinen Horizont erweitern, aber all das auf die ihm eigene Art.

Es gibt da diese schrille Serie auf ZDFNeo - Deadlines - über vier Freundinnen um die Dreißig. Eine davon, Jo, hat eine Medienkarriere hinter sich noch als Teenager und erscheint völlig entwurzelt. Sie will nicht arbeiten, kann ihre Miete nicht zahlen, kann sich vor Verehrern nicht retten, die sie alle nicht will. Sie denkt über sich, für sie gäbe es keinen Verwendungszweck mehr. Sie mäandert durch ihr Leben, immer wieder 'aufgefangen' von ihren Freundinnen, die sie als ihr 'Baby' bezeichnen. Da steckt jede Menge drin. Für mich ist es Charakter, wie sie mit den Herausforderungen umgeht - unabhängig von den Traumata.

Das ist aber nur ein Aspekt vom Menschen. Was da noch alles reinspielt ... mir fällt da ein amerikanischer Justizfall ein. Da war ein Mann des Mordes überführt und zum Tode verurteilt worden. Bei der langen 'Wartezeit', die in den USA vergehen kann, bis ein Urteil vollstreckt wird, war bei dem Mann eine chemische Besonderheit im Gehirn aufgefallen. Er hatte einen bestimmten Stoff extrem erhöht, der zum Kontrollverlust der Affekte führen kann. Mit der geeigneten Medikation würde dieser Mann nie wieder im Affekt einen Mord begehen und hätte er es gewusst, hätte es nie so weit kommen müssen. Was also da an biochemischen Prozessen noch alles an gefühltem und hergeleitetem Wissen über den Haufen geworfen werden könnte, lässt sich gar nicht abmessen.
Außer in diesem extremen Fall macht das auch nicht unbedingt einen Unterschied, sondern ist einfach ein biochemischen Modell, dass dem anderen entspricht - ein sturer Mensch hat diesen Cocktail im Kopf, ein Optimist jenen ...
Dazu müsste eben das "Leiden an sich selbst" als solches erkannt werden. Wird es aber meist erst in fortgeschrittenem Alter - und auch dann nur, wenn die bis dahin entwickelten Verdrängungsstrategien nicht so tief sitzen, dass man anders gar nicht mehr kann (denn sonst müsste man sich ja ein Scheitern auf ganzer Linie eingestehen und wer kann und will das schon?)
Das ist eine ganz andere Baustelle ... weil von der 'Erkrankung' her gedacht wird. Und nach meiner Auffassung gibt es auch kein gescheitertes Leben, das sind Label von außen, die man verinnerlicht hat - quasi ein Kulturerbe - das nur dazu führt, dass man einen Meßbecher nimmt, der auf alle angewandt wird, aber der charakterlichen Vielfalt und der Vielfalt der Schicksale (noch so ein Unwort ;)) nicht gerecht wird.
Nehmen wir als Beispiel einen nichtsesshaften Alkoholkranken. Er mag in seinen Augen da sein, wo er ist, weil er gescheitert ist, aber das ist die Beurteilung von außen, die er angenommen hat - nicht im Moment auf der Straße, sondern schon vorher. Weil er vielleicht nicht sein durfte, wer er ist. Vielleicht war er ohne Ehrgeiz und wäre gerne in einer anspruchslosen, regelmäßigen Tätigkeit glücklich geworden, aber da man da meist nicht gut verdient, gab es mehr als einen Grund, sich zu verbiegen. Erst Druck der Eltern, dann vielleicht der Ehefrau, und irgendwann kam der erwartbare Knall, Job weg, Haus weg, Frau weg. Er ist 'gescheitert'. Wie er mit den Herausforderungen der Umwelt an sich umging und umgeht, das ist Charakter. Man könnte argumentieren, dass er sich aufgrund sozialer Verflechtungen (Vorbilder, Einengungen) nicht durchsetzen konnte, aber wenn man tiefer gräbt, ist es das Wesen eines Menschen, das ihn handeln lässt. Es war ihm nicht gegeben, rechtzeitig herauszufinden, wer er war und es ist ihm nicht gegeben, das Stigma des Gescheiterten abzulegen. Es ist sein Weg und er wird ihn bis zu Ende gehen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das ist nicht Fatalismus und dass man nicht Hilfsangebote machen müsste - unbedingt muss man das. Es geht hier nicht um die Verantwortung der Gesellschaft für Hilfebedürftige. Eher um die Verantwortung der Gesellschaft, mit dem 'Gescheitert-Meßbecher' weniger herumzuwedeln. (Das ist jetzt nicht auf Dich gemünzt!!!)

Die Schwäche von der Perspektive aus der Erkrankung heraus ist die Erwartung der Heilung. Aber für Charakter und Schicksal gibt es keine Heilung. Wir werden krumm und dumm und krank geboren. Wir haben eine kurze, eine lange Lebensspanne, wir sind arm und armselig. Das alles entspricht der Würde des Menschen, aber wenn wir so tun, als gäbe es dieses Maß an 'Glück' oder 'Gesundheit' für alle, verhöhnen wir als erstes diese Würde.
Es gibt Menschen, die werden mit zuwenig Grundausstattung ins Rennen geschickt, um ein Leben zu führen, das als 'nicht-gescheitert' gelten könnte nach dem Meßbecher-Prinzip und es besteht die große Gefahr, dass dies dazu führt, dass der Meßbecher zum Ausgrenzungskriterium wird wie bei den krummen Gurken, die es nicht ins Geschäft schaffen.

Eine Perspektive fehlt mir natürlich völlig, und das ist die eines Menschen, der für ein junges Leben verantwortlich ist. Ich kann mich dem Themenkomplex recht theortisch nähern, weil ich diese Aufgabe nie hatte. Und doch möchte ich meinen, dass man einen jungen Menschen am meisten unterstützt, wenn man ihm hilft, herauszufinden, wer er ist.

Jetzt bin ich aber wieder ins Schwatzen gekommen - ich hoffe, Du kannst nachvollziehen wie bei mir das eine zum anderen führte ... und irgendwie hat das auch alles etwas mit Deinem Text zu tun. (Du hast mich inspiriert!)

Liebe Grüße
Petra
 

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Irre spannend DICH zu lesen, liebe Petra!

Als "Schwatz" würde ich das aber eher nicht bezeichnen, berührt es doch sehr tiefgreifende Themen. ;)

Ich glaube, ich stoße mich wohl eigentlich am Wort "Charakter" selbst. Denn ich bin in allem, was du schreibst, ziemlich bei dir.
Ich kann nur vermuten, warum. Bei uns daheim wurde es ausnahmslos negativ konnotiert verwendet - ich denke, das pfuscht mir da auf einer bestimmten Ebene immer unterschwellig mit rein.

die Erwartung der Heilung
von einer mangelhaften "Grundausstattung" fürs Leben würde ich eher als "Hoffnung auf die Möglichkeit einer Heilung bzw. Überwindung"sehen wollen. Eine Erwartung zu haben, wäre ja wieder sehr passiv - das passte dann aber nicht zu einem vorhanden Plan (egal, ob der nun ein bewusst oder unbewusst gefasster ist).

Die Perspektive aus der Erkrankung heraus ist die, mit der ich nun mal vertrauter bin - also kann ich nur von dieser Warte aus überzeugend schreiben. Ich sage ja nicht, dass dies die einzig mögliche Herangehens- und Sichtweise ist. Mein Sonett stellt lediglich eine von mehreren möglichen Thesen auf. Und deine Ausführungen dazu sind eine großartige Ergänzung!

... wenn wir so tun, als gäbe es dieses Maß an 'Glück' oder 'Gesundheit' für alle, verhöhnen wir als erstes diese Würde.
Ich rede ja nicht von einem einheitlichen (großen) Maß an Glück oder Gesundheit, sondern davon, dass es Menschen gibt, die aufgrund ihrer Grundausstattung oder traumatisierender Ereignisse in ihrer Kindheit (wie bei meiner Mutter beispielsweise) gar nicht mehr versuchen, schwierige Lebenssituationen, unter denen sie offenkundig leiden, zu verbessern - und wenn es nur ein Quäntchen mehr Lebensqualität ist. Die aber sehr wohl Energien aufbringen können, sie aber in ihre Scheiterkonzepte investieren, um sich dort nur noch tiefer in die Abwärtsspirale zu drehen und zu erschöpfen.


doch möchte ich meinen, dass man einen jungen Menschen am meisten unterstützt, wenn man ihm hilft, herauszufinden, wer er ist.
Ja. Und das ist wirklich das Schwierigste! Dazu musst du nämlich erkennen können, was du glaubst über dein Kind zu wissen. :cool:

Wir kämpfen gerade, den richtigen Mittelweg zwischen "Anleiten" (im Sinne von Halt-Geben) und "kommentarlos-Zusehen-und-bei-Anfrage-Fördern" zu finden. Ist besonders schwierig, wenn der junge Mann selbst noch sehr schwankt.
Ach, ich möchte echt nicht in seiner Haut stecken! Die junge Leute heute glauben anscheinend irgendwie - keine Ahnung, woher das genau kommt - , sie müssten schon direkt nach dem Schulabschluss ihr ganzes Leben gezielt und detailliert vorausplanen können. Raum für "Versuch und Irrtum" gibt es für sie irgendwie nicht. Schrecklich, oder? Wo können sich junge Menschen denn dann ausprobieren? Dafür ist kein Raum und keine Zeit mehr.
Was müssen Gesellschaft und Schule da für einen Druck ausüben, um solchen Stress zu erzeugen?!

Aber ich schweife ab...

Nochmal zum eigentlichen Thema: ich glaube schon, dass man es zu einem Teil in der Hand hat, seine Lebenssituation zu lenken, um an einen Punkt zu gelangen, wo man sich "am rechten Fleck und auf dem richtigen Weg" fühlt. Sei es in der Lebensplanung oder zum Beispiel im Umgang mit chronischer Erkrankung. Natürlich innerhalb der Grenzen, die die jeweilige Situation ihm steckt. Aber manchmal helfen schon kleine Perspektivverschiebungen, um das eine oder andere "Leiden an sich selbst" zu lindern.

Die Altersforschung hat inzwischen auch herausgefunden, dass entgegen der bisherigen Auffassung, ein Mensch wäre mit ca. 28 Jahren "fertig" in der Ausbildung seiner Persönlichkeit, der Mensch auch noch im Alter von 60 oder 70 dazulernt und sich neue Verhaltensmuster aneignet. Ja, sogar leichter, weil mit der größeren Gelassenheit und Altersweisheit Sturheit oder unbewusste Ängste kein so großes Problem mehr darstellen. Ist doch toll, oder?
 

petrasmiles

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Liebe Fee,

ich stelle gerade fest, dass ich auf Deine wunderbare Antwort noch gar nicht reagiert hatte, dabei habe ich lange und gründlich darüber nachgedacht :) Zumindest habe ich jetzt gerade den Kopf freier für eine Antwort ...

Nochmal zum eigentlichen Thema: ich glaube schon, dass man es zu einem Teil in der Hand hat, seine Lebenssituation zu lenken, um an einen Punkt zu gelangen, wo man sich "am rechten Fleck und auf dem richtigen Weg" fühlt.
Den ersten Teil des Satzes unterschreibe ich sofort - sogar noch mehr als nur ein Teil - nur muss das, was 'man' als 'auf dem richtigen Weg' empfindet, nicht mit dem übereinstimmen, was der/die Betroffene darüber denkt. Leidensdruck ist so individuell - und man weiß es doch von sich, was man alles an work arounds findet oder erfindet, um dem Löwen nicht ins Maul schauen zu müssen. Ich habe mal ältere meiner Tagebücher angeschaut und musste feststellen, dass es ein bestimmtes Thema (im Umgang mit mir selbst) ist, das mich umtreibt und umgetrieben hat - und wofür ich bis heute keine Lösung gefunden habe. Aber mittlerweile sehe ich das Thema und mich gelassener und orientiere mich lieber daran, was ich doch immerhin alles auf die Reihe bekommen habe.

Wenn ich funktioniere, sieht mir einen Leidensdruck keiner an, das kann also kein Kriterium sein, festzustellen, ob es Leidensdruck gibt.
Nein, ich bleibe dabei, dass wir uns an grantige, ungerechte, sich selbst körperlich oder seelisch verwahrlosede Menschen gewöhnen sollten, weil sie eine Daseinsberechtigung haben. Auch ein traumatisierter Mensch kann aus diesem Verharren in seiner Situation und aus dem Trotz, den er dabei entwickelt, die Kraft für den nächsten Tag gewinnen. Man muss ihn ja nicht in seiner Nähe haben wollen und darf ihn sich auch von der Pelle halten. Natürlich haben alle diese Angebote der Hilfe zur Selbsthilfe auch einen sozialen Aspekt: Ich nehme sie an, weil ich für meine Mitmenschen 'erträglicher' sein will. Ich nehme das so ernst, dass ich bereit bin, etwas zu verändern, was zu dieser Irritation führt. Und wenn nicht, dann nicht.
Was Du sagst, hat für mich etwas von einem Kinderglauben (dem ich durchaus auch anhänge :cool:), dass die Welt schön und der Mensch gut ist und es für jedes Problem eine Lösung gibt. Aber nicht jeder verbitterte Alm-Öhi hat eine Heidi, die ihm das Herz aufschließt. Manchmal sieht man, was jemand bräuchte, und kann es ihm doch nicht geben - und selbst wenn, könnte er es nicht annehmen. Das ist dann so.

Also, das habe ich eh nie geglaubt, dass der Mensch mit 28 'fertig' sei - eine erschreckende Vorstellung - da hat garantiert einer biochemische Prozesse im Auge gehabt, der die Theorie aufstellte. Nicht alles, wo Wissenschaft drauf steht, ist auch Vernunft drin :D Die Haltbarkeit wissenschaftlicher Theorien ist mit der inflationär betrieben Theoriebildung verarmt.

Ich habe manchmal die Befürchtung, dass diese Parolen der neoliberalen Hochzeit vor allem die psychosiziale Gesundheit der jungen Menschen gefährdet hat und gefährdet. Das fing ja alles vor - sagen wir mal - in den Neunzigern an, dann wurde es zehn Jahre propagiert, zehn Jahre war es wirksam und zehn Jahre wird es wieder hinterfragt, hat aber seine Wirkmacht noch nicht verloren, weil es eben in diverse Rahmenbedingungen eingesickert ist. Nehmen wir mal die Aufwertung eines Auslandsjahres während des Studiums. Das war mal die Ausnahme und den Kindern reicher Eltern vorbehalten. Die hatten dann die Elite-Aktentasche in der Hand. Mittlerweile ist das Standard, wenn man zu den 'Guten' gehören will; da gibt es zwar mittlerweile auch Zuschüsse und Stipendien, aber die decken natürlich nur die härtesten Kosten und dann gibt es doch nur Nudeln mit Ketchup, wenn die Eltern das nicht auffangen können. Aber diese Marktmacht ist so verinnerlicht, dieses sich präsentieren müssen - nehme doch mal dieses 'Höhle des Löwen' vom Konzept her. Ist doch auch eine Form der Prostitution - man soll sich anbiedern an reiche Leute, die checken, ob sie mit Deiner Idee noch reicher werden können, und wenn nicht, bist Du der Looser. Wie pervers ist das denn?
Und diese ganzen bildbetonten (und fakeanfälligen) Gradmesser darüber, was gerade angesagt ist. Und daran verdienen Leute sich dumm und dusselig, die als junge Menschen mal eine markttagliche Idee hatten und heute junge Menschen, die ja wohl mehrheitlich gestört sein dürften (ich meine die sogenannten influencer), weil sie es schaffen, sich gut und erfolgreich zu fühlen, wenn sie andere junge Menschen dazu verleiten, in einer Produktwelt potentielle Käufer zu werden. An diesen Nahtstellen habe ich manchmal den Eindruck, dass die Amerikanisierung (und damit Barbarisierung) unseres Landes schon nicht mehr aufzuhalten ist, weil der materielle Erfolg Scham und Mitgefühl übertönt hat.
Doch welches Recht, so sag mir, mag erlauben,
solch strenges Urteil leichterhand zu fällen?
Wer sagt, dass diese niemals an sich leiden?
Das werden sie und darum hört das auch nie auf. Das sind dann die Sonette der Zukunft :D

Liebe Grüße
Petra
 



 
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