Schein

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Elvira zupfte an meiner Krawatte und wischte eine imaginäre Fluse vom Jackett.
„Ich habe dir Brote mit Schinken und Gürkchen gemacht“, sagte sie, reichte mir die Aktentasche und küsste mich auf die Wange. „Schönen Tag, Schatz.“
„Danke, dir auch“, antwortete ich lächelnd. Elvira hielt mir die Tür auf.

Draußen schaute ich zum Fenster, winkte meiner Frau zu und ging weiter Richtung Bushaltestelle. Als ich außer Sichtweite war, verharrte ich und atmete aus.

Der Kaffee in der SB-Bäckerei war heiß und bitter. Nicht so wohlschmeckend wie im Café, dafür aber günstig. Ich fuhr das Notebook hoch und nippte an der Tasse, während ich die üblichen Internetseiten durchforstete und mir Notizen machte.

Am Kiosk verlangte ich die Börsen-Zeitung, die Frankfurter und das Handelsblatt und steckte sie so in das Seitenfach der Aktentasche, dass die Titel herauslugten. Ich nahm den Bus, verspeiste die Brote und stieg am Hauptbahnhof aus.

Mehrmals schaute ich mich um, bevor ich das Pfandhaus betrat. Eintausendfünfhundert Euro gab mir der Mann hinter der Scheibe. Mehr wäre für die goldene Uhr meines Großvaters nicht drin. Zusammen mit dem Rest, den ich besaß, würde es für die nächsten zwei Raten bei der Bank reichen, und viele Erbstücke hatte ich nicht mehr.

Das südliche Westend erreichte ich zu Fuß. Ich blickte auf die Hochhäuser. Weiter hinten befand sich der Glaskasten. Näher als hierhin hatte ich es seitdem nicht mehr geschafft.
Auf einer freien Bank nahm ich Platz, studierte die Zeitungen und machte mir wieder Notizen. Drei Monate lag die Aktienblase nun zurück, bei der unsere Kunden ihr Geld verloren hatten. Keiner wollte auf mich hören. Ich, der die Zahlen richtig deutet, Anzeichen und Zusammenhänge erkennt, eins uns eins einfach nur zusammenzuzählen braucht.
Mit angefeuchteten Finger blätterte ich weiter durch die Seiten. Irgendwo zwischen den Zeilen würde ich es finden.

Der Eintopf in der Kantine des Bankhauses schmeckte mir nicht. Aber ich schnappte ein paar interessante Gesprächsfetzen an den Nebentischen auf. Unterhaltungen über Geld und ähnliches zu sanfter Musik aus den Lautsprechern und dem Geruch von Gemüse, Fett und verschwitzten Oberhemden.

Den Rest des Tages fuhr ich die Aufzüge rauf und runter, gesellte mich zu den Leuten in den Raucherbereichen vor den Gebäuden, hörte da zu, lauschte dorthin, hielt Augen und Ohren offen, saugte alles in mich auf, verarbeitete es, nahm an den Debatten der Anzugträger teil, indem ich zustimmend nickte oder bloß ein paar gescheite Worte an passenden Stellen beitrug, las die Ticker in den Foyers der Finanzinstitute und auf meinem Handy, führte Smalltalk mit Leuten, die irgendwie dazugehörten.

Es war gegen siebzehn Uhr, als ich heimkam.
„Na, wie war es heute? Harter Tag?“, fragte Elvira.
Ich nickte und wusste nicht, ob sie mich bemitleiden oder ohrfeigen würde.
Sie nahm mir Aktentasche und Jackett ab und ging ins Wohnzimmer vor, wo mich Thomas auf der Chaiselongue sitzend erwartete.
Ich hatte ganz vergessen, dass mein Schwager kommen wollte. Er beabsichtigte, sein gesamtes Gespartes zu investieren, einen mittleren fünfstelligen Betrag. Aktien, Optionen oder Neue Märkte, was jetzt halt so angeboten würde. Eine sichere Nummer. Schneller Gewinn für den Hausbau, für seine Familienplanung.
Er gierte nach den Tipps eines Profis, der seit dreißig tagtäglich weltweit Abermillionen bewegte, Geld vermehrte, Bescheid wusste. Dem er vertrauen konnte, der zur Familie gehörte.
„Hallo, Thomas.“
Er stand auf und reichte mir lächelnd die Hand. „N’Abend, Josef“, sagte er.
„Bleib sitzen“, sagte ich und schüttelte seine Hand. „Nein, bleib ruhig stehen, Tom. Bitte … entschuldige … ich …“
„Alles in Ordnung?“ Zuerst musterte er mich, dann Elvira, die im Türrahmen stehengeblieben war und sich die Hand vor dem Mund hielt.
Ich seufzte, löste meine Krawatte, legte sie ordentlich gefaltet auf den Couchtisch und stützte mich am Sessel ab. Zahlen, Kurven und Kurse schossen durch meinen Kopf. DAX, STOXX, Dow Jones, Nikkei.
„Tom, mein Lieber.“ Ich öffnete die beiden oberen Knöpfe meines Hemdes und presste für einen Moment die Lippen zusammen. “Tom, es ist besser, wenn du ... wenn du wieder gehst.“
 
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G

Gelöschtes Mitglied 22242

Gast
Hi,

fand den Text gut, allerdings war recht schnell klar woher der Wind weht und der wurde dann auch nicht am Ende nochmals gedreht.
Umgesetzt fand ich die Idee aber sehr gut von dir :)

VG aus dem Rhein Main Gebiet mit Blick auf die Skyline,
Tommy
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Franklyn,

da hätte man sicher einen andren Schluss in der Kurzprosa setzen können.
Aber ich denke, es ist genau dieser Teufelskreis, aus dem sich der Protagonist nicht mehr befreien kann, den du beschreiben wolltest.
Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Manfred
 
Hallo Tommy,

danke für Kommentar und Bewertung.

allerdings war recht schnell klar woher der Wind weht und der wurde dann auch nicht am Ende nochmals gedreht.
Ja, ist eher ein Flash Fiction-Text, sehr kurz, kein Platz für eine Wendung am Ende.
Nein - natürlich hätte es anders enden können, ich wollte aber, dass der Prota in diesem Teufelskreislauf gefangen bleibt. So lange, bis alles zusammenbricht.

Bye the Way: An welche Wendung hättest du gedacht?

Umgesetzt fand ich die Idee aber sehr gut von dir
Danke sehr.

VG aus dem Rhein Main Gebiet mit Blick auf die Skyline,
Na, da hast du ja den Blick auf das Gebäude des Protas :)


Hallo Franke,

danke auch dir!

Aber ich denke, es ist genau dieser Teufelskreis, aus dem sich der Protagonist nicht mehr befreien kann, den du beschreiben wolltest.
Und irgendwann sind alle Ersparnisse aufgebraucht und er hat nichts mehr, was er versilbern könnte ...
Was dann? Wie lange läuft das noch gut?

Sehr gerne gelesen!
Prima!



@WolfgangFridolin
Dankeschön für die Bewertung.

Wünsche euch einen tollen Tag.

LG, Franklyn Francis
 

Vitelli

Mitglied
Hallo Franklyn,

kann mich da meinen Vorrednern nur anschließen: schön geschrieben, aber vorhersehbar. Kurz: schnell gelesen, schnell verdaut. Und: Dass die Frau, die du so liebevoll und fürsorglich beschreibst, zum Geburtstag einen Nerzmantel haben möchte, ist a) unglaubwürdig und b) aus der Zeit gefallen. Ich würde die Story noch etwas feintunen.

Viele Grüße,
Vitelli
 
Hallo Vitelli,

danke fürs Lesen und Kommentieren.

kann mich da meinen Vorrednern nur anschließen: schön geschrieben
Danke sehr.

aber vorhersehbar.
Ja, stimmt.
Ich habe mich hier vom Format her an eine Flash Fiction herangewagt. M.E. muss eine FF nicht unbedingt eine Entwicklung haben, so wie ich es sonst immer bei meinen Kurzgeschichten handhabe.
Sicher könnte ich den Text zu einer KG ausbauen. Die hätte dann sicher mehr Details und ein anderes Ende. Das Ende müsste ja im Verlauf der Story ausgebaut werden, dafür braucht man Platz. Den hatte ich mir hier aber in der FF nicht gesetzt.

Dass die Frau, die du so liebevoll und fürsorglich beschreibst, zum Geburtstag einen Nerzmantel haben möchte, ist a) unglaubwürdig und b) aus der Zeit gefallen.
Ja, ich überlege mir was anderes, was besser zur Zeit passt. Vielleicht ein modernes Gadget :cool:

Ich würde die Story noch etwas feintunen.
Hast du das was Spezielles im Auge?

Danke dir.

LG, Franklyn Francis
 

Vitelli

Mitglied
Hi Franklyn

Ja, stimmt.
Ich habe mich hier vom Format her an eine Flash Fiction herangewagt. M.E. muss eine FF nicht unbedingt eine Entwicklung haben, so wie ich es sonst immer bei meinen Kurzgeschichten handhabe.
Flash Fiction musste ich erstmal in die Suchmaschine werfen, aber auch dafür gilt (lt. Wiki): Protagonist, Konflikt, Hindernis und Komplikation sowie die Lösung.

Wie Tommy treffend schrieb, ist halt recht schnell klar, wo die Reise hingeht - und dann kommt nicht mehr viel; man wartet vergebens auf ne Kurve.

Ich find die Geschichte auch in sich nicht so stimmig, da die Scheinwelt, die du beschreibst, relativ unkritisch wiedergeben wird. Also: Warum gehört der P. dieser Welt nicht mehr an? Warum möchte er ihr zugehören? Warum macht er so weiter, anstatt den Ausschluss als Chance zu begreifen? Interessant wäre mMn den Widerspruch herauszuarbeiten, warum der P. sich von dieser Welt gleichzeitig angezogen und abgestoßen fühlt.

Sicher könnte ich den Text zu einer KG ausbauen. Die hätte dann sicher mehr Details und ein anderes Ende. Das Ende müsste ja im Verlauf der Story ausgebaut werden, dafür braucht man Platz. Den hatte ich mir hier aber in der FF nicht gesetzt.
Sehe ich anders. Eben weil du sehr lange und ausführlich das Gleiche beschreibst, hättest du Platz für mehr Details/Wendungen oder was auch immer.

Ja, ich überlege mir was anderes, was besser zur Zeit passt. Vielleicht ein modernes Gadget :cool:
Löst m. E. das Problem nicht. Denn: Wie gesagt, dass eine liebevolle und fürsorgliche Frau, so wie du sie ja beschreibst, auf teure Geschenke aus ist, ist unglaubwürdig.

Hast du das was Spezielles im Auge?
Kürzen. Und: s.o.

Gruß,
Vitelli
 
Hallo @Vitelli

danke schon mal für deinen erneuten Kommentar.

Ich habe viel drüber nachgedacht und mittlerweile kann ich mir auch nicht mehr vorstellen, dass eine Ehefrau, die ihrem Mann ein Brot mit Gürkchen macht, auf Nerzmäntel steht :)

Auch dass neben dir auch andere sagen ( @Tommy Sechsundachzig + @Franke ) sagen, das Ende sei nicht überraschend, es gäbe keine Wendung o.ä., spornt mich an. Eine kleine Andeutung am Ende wäre vielleicht passend. So, dass es als offen interpretiert werden kann.

Ich mache mir Gedanken und bastle etwas herum. Melde mich wieder.

LG, Franklyn Francis
 
@Tommy Sechsundachzig , @Franke und @Vitelli

Hallo zusammen,

ich habe den Text nun überarbeitet. Ist quasi eine andere Version.

Der Nerzmantel für die Frau ist nun durch Bankraten ersetzt.
Der Grund, warum er nicht mehr dazugehört, ist drin.
Das Ende ist komplett anders. Es gibt eine Wendung, ein Ende des Teufelskreises. Das Kartenhaus fällt zusammen. Doch lest selbst, wenn ihr möchtet. :)

Danke nochmals für eure Tipps und Anregungen.

Schönen Start ins Wochenende.
LG, Franklyn
 
Hallo Franklyn,

ich habe jetzt nur den überarbeiteten Text gelesen. Also für mich ist das eine Kurzgeschichte, mit Anfang, Mitte, einem etwas zu brav geratenen Schluss und eigentlich schon viel zu viel Erklärungen. Kurzprosa ist eine Momentaufnahme, eine Skizze - der Text hier ist eher schon eine kleine Erzählung. Ich sehe es so wie Vitelli: kürzen. Zumindest, wenn es Kurzprosa sein soll. Oder du schmückst die Geschichte mehr aus und machst eine Erzählung daraus.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:
Hier noch ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind:

Danke, dir auch“, antwortete ich lächelnd und trat durch die Tür, die Elvira mir aufhielt.
Zu umständlich ausgedrückt. Besser: „Elvira hielt mir die Tür auf". Dass der Protagonist dann hindurch geht, braucht man nicht extra zu erwähnen.

Das hier:

Zu dieser Stunde war in der SB-Bäckerei nicht viel los. Der Kaffee war heiß und günstig – es gab sogar einen Keks dazu –, und das WLAN kostenlos. Ich nippte an der Tasse, während das Notebook hochfuhr. Die Internetseiten hatte ich als Favoriten angelegt. Ich scrollte mich durch, machte mir Notizen und trank zwei weitere Kaffees.
kann man vollkommen weglassen, ist für die Geschichte nicht relevant.

Der Eintopf in der frei zugänglichen Kantine des Bankhauses schmeckte mir nicht
Auch unwichtig.

Das Dessert holte ich mir später, damit ich am anderen Tisch wichtigen Leuten lauschen konnte.
Egal, ob satt oder nicht, wiederholte ich das Ganze in einer anderen Kantine und an zwei Würstchenbuden, von denen ich wusste, dass die Anzugträger sie aufsuchten.
Zuviel Erklärungen.

Drei Monate lag die Aktienblase nun zurück, bei der unsere Kunden ihr Geld und ich meinen Job verloren hatten
Das ist der Knackpunkt - durch die Erklärung verliert die Geschichte an Spannung.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo SilberneDelfine,

Also für mich ist das eine Kurzgeschichte,
Ja, ich denke auch, der Text passt nicht zu "Kurzprosa" (wenn ich mir auch die anderen Texte dieser Rubrik in ihrer Kürze so ansehe).
In meinen Augen ist es vielleicht sogar eine Flash Fiction, also eine sehr kurze Kurzgeschichte. Wegen der Kürze hatte ich sie bei "Kurzprosa" gepostet, da ich nichts Vergleichbares zu Flash Fiction hier gefunden hatte.

Hier noch ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind:
Vielen Dank vorab. Da sind sehr gute Hinweise bei, über die ich nachdenke.
Ich passe den Text an und melde mich nochmal detailliert zu deinem tollen Kommentar.

@Franke
Könntest du bitte den Text zu den Kurzgeschichten verschieben? Danke.

Schönen Tag noch und
LG, Franklyn
 
Hallo SilberneDelfine,

danke, dass du dich so intensiv mit meiner kleinen Geschichte auseinandergesetzt hast.

Zu umständlich ausgedrückt. Besser: „Elvira hielt mir die Tür auf". Dass der Protagonist dann hindurch geht, braucht man nicht extra zu erwähnen.
Klar, hast recht. So etwas würde ich bei anderen Texten auch sofort merken, nur bei meinem eigenen nicht. ;-)

Das ist der Knackpunkt - durch die Erklärung verliert die Geschichte an Spannung.
Das hatte ich erst kürzlich eingeschoben, vorher gab es diese Erklärung nicht.
Ist nun wieder raus. Es sollte und dürfte auch ohne funktionieren.

mit Anfang, Mitte, einem etwas zu brav geratenen Schluss
Apropos "brav". Der Prota scheint nun alles seiner Frau beichten zu wollen und schickt seinen Schwager nach Hause, damit er dies nicht mitbekommt. Außerdem will er ihm auch keine Finanztipps geben, da er einsieht, es nicht (mehr) zu können und ihn schützen möchte.
Ich finde das nicht brav, sondern brave (Englisch), also mutig :)

Auch das meiste von dir Genannte habe ich gekürzt. Eine kleine Änderung gibt es aber noch zu dem Kaffeetrinken in der preisgünstigen SB-Bäckerei. Es wird nun erwähnt, dass er im Gegensatz dazu früher ein "richtiges Café" aufgesucht hatte. Das als kleiner Hinweis, der auf Finanzielles hinweisen könnte.

Vielen Dank noch mal und
LG, Franklyn
 



 
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