Schräge Vögel

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Feivel Veys

Mitglied
Ist dir schon mal ein Mann begegnet,
nicht ganz verflucht, nicht ganz gesegnet,
nicht ganz dort und nicht ganz hier?
Falls ja, dann gratulier’ ich dir -
er ist vermutlich genderqueer.

In meinem Fall war es ein Vetter
mit blauem Haar und dunklen Federn,
der mich, bei Hitze, Sonne, Wind und Wetter,
mit seinem Hoodie konnte ködern.

Man sagt, er sei ein schräger Vogel;
autistisch, queer und depressiv,
einfühlsam und expressiv,
schüchtern gar, ja rezessiv,
und manchmal suizidal
(wenn die Laune zu ihm passt).

Mir persönlich ist das gleich.
Nenn’ es Leichtsinn, nenn’ es Mut,
nenn’ es Frohsinn oder bunten Hut,
zwischen uns braucht es keinen Deich -
denn schräge Vögel denken gleich.

Seither schreibe ich Geschichten
über queere Vögel, Kunstautisten,
über Dichter, Schreiber, schlechtes Wetter,
über Füchse, Fische, blaue Blätter,
nicht ganz verflucht, nicht ganz gesegnet,
nicht ganz dort und nicht ganz hier.
Ich tue es für mein Vogeltier.
 

Sidgrani

Mitglied
Hei Feivel,

schräge Vögel haben auch ihr Gutes und sie haben es verdient, einmal in einem (schrägen) Gedicht gewürdigt zu werden.

Gruß Sid
 

Feivel Veys

Mitglied
Hey Sid,

Soo schräg ist das Gedicht doch nicht... oder? Für meine Verhältnisse ist es fast schon wieder zu 'normal'. :p

Aber schön zu sehen, dass es zumindest jemandem gefällt.

Ob dir das am Ende nicht noch auf die Füße fällt?

Egal.

...

(Sorry, wegen der Reime. Berufskrankheit.)

Feivel Grüße,
Gefiederte
 

sufnus

Mitglied
Hey Feivel,
ich finde in diesen Zeilen durchaus erstaunliche Schwingungen, sozusagen ein gemäßigter Expressionismus, der mit einem leicht in "naive" Töne spielenden Gestus verreimt wurde. Ich freue mich, mehr von Dir zu lesen! :)
LG!
S.
 

Tula

Mitglied
Och nöh, bitte nicht Autisten/autistisch wer so davon schreibt, versteht das Problem wohl nicht.

Tula
 

sufnus

Mitglied
Hey Tula,
Du musst aber dabei bedenken, dass der Begriff Autismus in den letzten Jahren einen Bedeutungswandel erfahren hat, ein nicht seltenes Phänomen bei medizinischen Fachtermini. Ich persönlich finde die Entwicklung, die der Begriff genommen hat auch nicht so glücklich, aber dass ist eher etwas, was man den Fachgesellschaften vorwerfen muss, als den Menschen, die als Betroffene (mit vergleichsweise viel leichterer Ausprägung im sog. "Autismusspektrum") den Begriff von ihren Therapeuten übernehmen.
Aber... wie hoffentlich rüberkommt... ich verstehe Dich.
LG!
S.
 

Feivel Veys

Mitglied
Hey Tula & Sufnus,
Och nöh, bitte nicht Autisten/autistisch wer so davon schreibt, versteht das Problem wohl nicht.
Es stimmt. Es ist ausgesprochen schwierig 'angebracht' über Autismus zu schreiben und praktisch unmöglich, das Spektrum als ganzes Abzubilden, zumal es in diesem speziellen Gedicht um etwas ganz anderes geht. Und du hast recht: Ich verstehe das Problem nicht. Ich lebe es. Es mag sein, dass ich 'nur' am 'oberen Ende' des Spektrums meinen Platz gefunden habe, aber auch ich weiß, dass deutlich mehr dahinter steckt, als ein paar "naive Töne", wie Sufnus das höflich ausgedrückt hat. Ich habe sie tatsächlich ganz gezielt gesetzt, da besagter Vetter -lyrisch oder nicht- praktisch im sterben liegt und sich nur noch mit Galgenhumor am Leben halten kann. Und ja, auch das ist eine Lebensrealität, die man dem Schlagwort 'Autismus' nicht anhört, da sie kulturell stets ausgeblendet wird. Und dagegen schreibe ich gezielt mit solchen Gedichten/Geschichten an. :cool:

Sollte ich dich falsch verstanden haben oder hier irgendwie zynisch klingen, dann tut es mir leid. Denn wie du bereits festgestellt hast: Ich verstehe das Problem nicht. Ich lebe es.

Oh, und was die Begrifflichkeit angeht - hier bin ich mir nun wirklich nicht sicher, ob ich euch beide richtig verstanden habe. Ich für meinen Teil verwende für gewöhnlich den Begriff des Spektrums, nicht den des Autismus, da die Bandbreite an Symptomen oder geteilten Erfahrungswerten einfach zu groß ist. Es ist im Augenblick einfach nicht möglich, das sprachlich adäquat auszudrücken. Um ehrlich zu sein, war es das für Autisten noch nie (Stichpunkt "autistische Psychopathen").

Unabhängig davon wollte ich mich aber auch bei euch beiden für die Kritik Bedanken. Eine ehrliche Meinung ist schließlich bedeutend mehr wert als eine geheuchelte.

Mit gefiederten Grüßen
Feivel
 

Tula

Mitglied
Hallo Feivel
Danke für deine ausführliche Antwort. Es war nicht mehr als ein Hinweis, da dieser Begriff sogar bei Politikern gern verwendet wird, um dem anderen vorzuwerfen, dass er nicht hören WILL.

Ich kenne Autismus etwas anders, in der Regel mit verheerender Beeinträchtigung im Bereich der Kommunikation und von jeder Form künstlerischer Kreativität weit entfernt.

LG
Tula
 

Feivel Veys

Mitglied
Hey Tula,
(Fast) kein Problem. Autismus ist schwer zu fassen und hat nicht nur eine schwierige, sondern eine katastrophale Begriffsgeschichte hinter sich. Dass in der jüngsten Forschung alle Formen unter einem Schlagwort zusammengefasst wird, ist wie in diesem Fall nicht immer hilfreich (Stichpunkt: ASS; vielen Dank für die nähe zum Englisch ass, Leute! :rolleyes:), aber dringend notwendig, da ansonsten die hier angesprochenen Stereotype der alten Begriffe immer weitergetragen werden. Und gerade wenn Politiker oder Therapeuten oder andere 'Experten' über "psychische Krankheiten" oder Behinderungen im Allgemeinen reden, sollte man praktisch immer weghören und lieber bei den Betroffenen selbst nachfragen. Aber das ist fast schon wieder eine Binsenweisheit und sollte eigentlich für alle Themen gelten, nicht wahr? Macht nur leider keiner...

Deine Vorstellung, dass wir Autisten weit von "jeder Form künstlerischer Kreativität" entfernt sind, ist so ein altes Stereotyp, dass mit der Realität fast nichts zu tun hat. Klar, 40% von uns haben Schwierigkeiten, sich verbal auszudrücken und bleiben es häufig auch ihr ganzes Leben. Die restlichen 60% (und ich möchte hier das Offensichtliche aussprechen und betonen, dass das die Mehrheit darstellt) haben durchaus teils überdurchschnittlich ausgeprägte Sprachfähigkeiten. Die Kommunikationsschwierigkeiten entstehen vor allem dadurch, dass man uns nicht zuhört -verbal oder nonverbal- und lieber die Schuld bei Therapeuten sucht, die den Begriff Autismus aufweichen würden. Ich selbst habe annähernd 15 Jahre lang geübt und mehrere tausend Stunden Narrative gewälzt (Bücher, Filme, Computerspiele, etc.), um heute fließend auftreten zu können. Panikattacken inklusive. Davor hat man mir regelmäßig vorgeworfen, man müsste mir jeden Wurm einzeln aus dem Schnabel ziehen. ;)

Was die Kunst angeht - auch das ist ein absolutes Fehlverständnis. Auch hier gilt, dass viele von uns von Zahlen (Mein Favorit: 3.141592653589), Naturwissenschaften (Schon mal über Einstein-Rosenbrücken nachgedacht?) oder schlicht von wiederkehrenden Mustern (Fraktale sind wirklich cool) fasziniert sind. Aber auch das sind nur Menschen unter Menschen und unterscheiden sich so grundlegend von anderen wie du etwa von deinen Freunden. Viele von uns -und das schließt mich mit ein- sind eher von den Geisteswissenschaften angetan und stürzen sich mit einer Begeisterung auf linguistische Spielereien, obskure historische Entwicklungen (Hühner sind selten jugendfrei) oder Kunst in einem allgemeinen Sinn, die man bei 'normalen' Menschen nur selten findet. Tatsächlich hat sich im Englischen bereits der Fachbegriff "Autistic Art" dafür etabliert. Entsprechend kommt es vor, dass zumindest manche von uns Fähigkeiten aufweisen, die normalerweise als untypisch gelten und daher nicht als Autisten anerkannt werden - häufig mit einem Zusatz wie "Du bist überhaupt nicht behindert", "Du verstehst das Problem nicht" (sorry, aber dein ursprünglicher Kommentar ist alles andere als ungewöhnlich für uns, ganz egal, wie er gemeint gewesen ist) oder den Vorwurf, wir würden lediglich "den Begriff von [unseren] Therapeuten übernehmen" (Sorry, Sufnus, aber auch das ist ein klassisches Vorurteil).

Ich für meinen Teil habe mich entschieden, mich auf Literatur zu spezialisieren, da ich von vornherein aus einer künstlerisch veranlagten Familie stamme (Mein Künstlername geht auf einen Ur-Ur-Großvater zurück; er war ein jüdischer Kunstbildhauer am Berliner Bauhaus und hat sich 1933 selbst umgebracht, um Hitler zuvor zu kommen; davor habe ich wahnsinnigen Respekt) und ich durch hoffentlich zunehmend unterhaltsamer werdende Geschichten dazu beitragen kann, diese Missverständnisse auszugleichen. Wenn es unterwegs zu Reibungen kommt, ist das vielleicht auch gar nicht so schlecht, da es bedeutet, das zumindest andere Leute daraus lernen können. Wenn ich also "Danke" sage, meine ich es wirklich ernst.

(Die Hälfte von dem Zeug hier habe ich auch nicht gewusst, bevor ich mich nicht gezielt bei autistischen Schriftstellern eingelesen habe).

Um das ganze vielleicht noch mal in einem Satz zusammenzufassen: Wenn du einen Autisten getroffen hast, hast du genau einen Autisten getroffen.

Mit nach wie vor gefiederten Grüßen
Feivel
 

Feivel Veys

Mitglied
To whom it may concern,
Ich entschuldige mich für meine langen Kommentare in diesem Thread. Es gibt einfach noch immer zu viele Sachen, die anscheinend dringend gesagt werden müssen. Der englische Sprachraum ist in diesem Fall schon deutlich weiter als der Deutsche. Wer sich also für die Diskussion in diesem Thread interessiert und genügend Englisch versteht, um sich im Internet zurechtzufinden, den lade ich herzlich ein, sich selbst ein Bild davon zu machen, ob man so über Autismus schreiben kann, wie ich es hier scheinbar gemacht habe (Das Gedicht hier dreht sich nicht um Autismus, aber das nur am Rande). Die populäre Seite tvtropes.com hat einen Schreibratgeber online gestellt, in dem eine Reihe von Hilfestellungen gegeben werden, wie man akkurater über Autisten schreibt. Wer möchte, kann sich den Beitrag dort einmal ansehen und ihn mit meinem Gedicht hier abgleichen.

Immerhin, Autisten sind auch nur Menschen - und können sich irren.

Seltsam gefiederte Grüße
Feivel
 

Tula

Mitglied
Hallo Feivel
Danke für deinen ausführlichen und auch aufrichtigen Kommentar. Eigentlich wollte ich hier anfangs auch nichts Persönliches schreiben, einfach nur auf den leidlichen Missbrauchs eines Begriffs hinweisen. Dabei sei bemerkt, dass mich das Problem "zwangsläufig" seit 21 Jahren täglich und in der Regel recht intensiv beschäftigt. Meinen dichterischen Erlebnisbericht dazu findest du unter "Frühstück mit B.", den ich hier vor wenigen Monaten einstellte.

Nun hatte ich in all den Jahren gewiss bereits einige Hundert Autisten (bei nicht wenigen gleichzeitig mit weiteren Behinderungen) vor Augen und etwas näher kennengelernt (d.h. im direkten Umfeld in den Einrichtungen die B. besucht/hat) immerhin einige Dutzend. Sie sind alle verschieden, teilen aber die grundsätzlichen Merkmale des Autismus, mit tiegreifender Störung in der Kommunikation, oftmals (fast immer) mit schweren kognitiven Defiziten und den stereotypen Verhaltensweisen, vom totalen Unverständnis sozialer Normen (im Gegensatz zu anderen mit Down-Syndrom) ganz zu schweigen. Mit B. könnte ich jedenfalls nackend durch die Stadt ziehen, es würde ihn in keinster Weise stören.

In dieser Hinsicht möchte ich an dieser Stelle jedem interessierten Leser den französischen Film "Alles außer gewöhnlich" empfehlen; für mich der erste und einzige Film, der nicht ohne Komik auf realistische Weise das Thema darstellt. Er entspricht weitestgehend meiner persönlichen Beobachtung, einschließlich einiger sozial-dramatischen Fälle.

Der Knackpunkt hier scheint mir ein anderer zu sein: Reden bzw. schreiben wir hier über dasselbe Phänomen? Ist der Junge, der stets und überall jedem (auch fremden Menschen) über sein Hobby die Ohren vollplappert und nicht bemerkt, dass sich andere über ihn lustig machen, ist der nur eine 'milde Form' des anderen, der nach 21 Jahren noch mit Windeln schlafen muss? Vielleicht ist eine frische Warze ja auch ein Krebs?

Natürlich meinte ich beim ersten Kommentar niemanden mit einem leichten Asperger-Syndrom, und gewiss weiß ich auch, dass die WHO sich entschieden hat, alles Mögliche in denselben Topf bzw. dasselbe Spektrum zu werfen. Wie du selbst schreibst, ist das nicht unbedingt hilfreich. Aus meiner persönlichen Erfahrung sind diese 'spektralen Erscheinungsformen' eben nicht vergleichbar. Hinzu kommt, dass die Forschung bis heute die Ursachen des Autismus in seinen möglichen Varianten nicht identifiziert hat, allenthalben sekundäre Indikatoren, bei denen keiner weiß ob sie überhaupt Ursache oder Nebenerscheinung sind. Einige Ärzte jedenfalls haben uns ihre Meinung gegeben, dass mehrere (und unter Umständen völlig verschiedene (im weiteren Sinne organische) Ursachen existieren, die dann "von außen betrachtet" autistische Verhaltensweisen bewirken. Diese Sichtweise wird von nicht wenigen Fachleuten geteilt. Der Mensch kann eben auch aus verschiedenen Gründen hinken, schlecht hören usw.

Nun weiß ich nicht, mit welchen konkreten Problemen du dich durchs Leben schlagen musst. Die Frage bleibt für mich dennoch die oben gestellte, ob das eine wirklich mit dem anderen vergleichbar ist. Also wenn, warum nicht deutlicher "Asperger", "ASS", "autistische Züge" usw. und nicht das irreführend verallgemeinderne "Autist". Jedenfalls wäre es hilfreich, aufzuklären und nicht über unglückliche Verallgemeinerungen zu einer Verharmlosung zu gelangen. Damit meine ich jetzt nicht dich persönlich.

Wie ein Blogger im Internet, der die Menschheit darüber unterrichtet, wie man 'einen Autisten erkennt'. Neulich sah ich mir solch einen Beitrag mal an und hätte vor Wut heulen können. Der Typ (selbstverständlich selbst Autist! wie auf seinem T-Shirt gut erkennbar) hätte mit seinen kommunikativen Fähigkeiten in unserer Firma in Vertrieb oder Marketing gute Aussichten auf eine erfolgreiche Karriere. Ich stimmte noch seinem ersten Merkmal zu; meiner ist eigentlich ein lieber Kerl, aber drücken lässt er sich auch nicht gern. Dann wurde es von Punkt zu Punkt schwachsinniger. Die Leser alle begeistert ob des neu erlangten Wissens. Ein Kommentar in etwa: "Oh herzlichen Dank! Ich ahnte schon immer, dass mit meinem Mann etwas nicht stimmt. Auch er verbringt gern eine Stunde mit der Zeitung auf dem Klo!" Ich verklemmte mir eine böse Antwort bzw. Frage, ob sie nicht selbst mit ihrem nerven-sägenden Gebrabbel der wahre Grund hinter dem Verhalten ihres Mannes sein könnte. Ich vermutete es.

LG
Tula
 
Zuletzt bearbeitet:

Feivel Veys

Mitglied
Hey Tula,
Ich entschuldige mich für die Verspätung. In den letzten zwei Wochen war ich, ähm, non compos mentis und musste obendrein eine Deadline einhalten. War gar nicht so einfach, das unter einen Hut zu bringen... o_O

Ich wollte mich trotz der Verzögerung noch einmal bei dir für dein Interesse an diesem Thread und deine eingebrachte Erfahrung bedanken. Meiner eigenen Erfahrung nach machen sich zu wenige Leute wie du die Mühe und versuchen Leute wie B. oder mich zu verstehen, ganz zu schweigen davon, dass sie anschließend über sich und ihr Verhalten uns gegenüber nachdenken. Dass du dazu offensichtlich bereit dazu bist, spricht definitiv für dich. ;)

Das Problem, das du mit deinem Bericht noch einmal offen ansprichst, beschäftigt auch mich schon seit einigen Jahren. Mir ist schmerzhaft bewusst, dass sich mit einem Spektrumsbegriff im Vergleich zu einer spezifischeren Diagnose nur schwer arbeiten lässt und gerade bei so etwas wie Autismus liegen zwischen 'oben' und 'unten' Welten. Für Leute wie mich, die dem 'oberen' Spektrum zugerechnet werden, ist das nur schwer zu verkraften. Für die einen sind wir automatisch zu behindert, um integriert zu werden (das Wort "unfähig" ist ein ständiger Begleiter) und falls es doch einmal passieren sollte, führt das meistens nicht zu Inklusion, sondern zu Assimilation. Für die anderen sind wir jedoch nicht (mehr) behindert genug, um autistisch zu sein. Wir können uns zwar durchaus durch den Tag quälen und für eine Weile so tun, als hätten wir unser Leben unter Kontrolle, aber das ist nichts anderes als eine Aufführung für andere, damit sie uns den Freiraum lassen, den wir zum Überleben brauchen (Stichpunkt: Masking). Oder um es zusammenzufassen: Wir haben keinen Platz in dieser Welt.

Hinzu kommen die Probleme, die Autismus nun mal mit sich führen kann. Du hast es bereits selbst angesprochen. Auch ich habe ziemliche Schwierigkeiten, die man meinem blau gefiederten Vogel nicht ansieht und auch nicht ansehen kann. Niemand sieht die 16 Jahre kürzere Lebenserwartung, die soziale Isolation, die Mobbing-bedingten Depressionen, das 20%-Suizidrisiko, die gesundheitlichen Probleme, Phobien und Manien, die Schwierigkeiten mit gesprochener Sprache (das hier ist geschriebene Sprache), die ständigen Meltdowns, Panikattacken und nassgeweinten Kissen. Und das ist nur die Spitze dessen, was mir gerade aus meinen letzten 14 Tagen spontan in den Sinn kommt. Was Außenstehende nicht bedenken (und damit meine ich Leute, die keinen direkten Kontakt zu Autisten haben), ist, dass selbst die 'leichten' Formen von Autismus automatisch mit einer 50% Schwerbehinderung einhergehen - und die bekommt man nicht zum Spaß. Das eine ist ohne das andere einfach nicht zu haben.

Ich habe für mich die Lösung gefunden, dass ich versuche, eine 'Brücke' zu errichten. Ich kann weder Einfluss auf die Fachwelt nehmen und den Autismusbegriff eigenhändig in handhabbare Einzeldiagnosen zerlegen, noch kann ich das Spektrum als Einzelstimme angemessen repräsentieren. Was ich aber tun kann, ist, zumindest dazu beizutragen, dass Autisten als Menschen anerkannt werden und nicht als störendes Beiwerk. Das funktioniert aber nur, wenn nicht-autistische Menschen einen Zugang zu uns finden können, der nicht über Mitleid führt (Stichpunkt: "lebensunwürdiges Leben" und "Gnadentod"; Es gibt beunruhigende Anzeichen dafür, dass wir als Gesellschaft uns gerade wieder in diese Richtung bewegen). Dafür braucht es jedoch eine Mischform, damit sich sowohl Autisten als auch Nicht-Autisten in den dargestellten Figuren wiederfinden können. Und das sind in der Regel wir aus dem 'oberen' Spektrum. Dass ich damit nicht allen gerecht werden kann, tut mir leid, ist im Augenblick aber kaum anders lösbar. (Es gibt durchaus ansehliche Versuche in dieser Richtung, doch sprechen solche Geschichten in erster Linie ein ohnehin 'eingeweihtes' Publikum an. Ist die Titelheldin nonverbal (und noch dazu eine Frau), legen die meisten das Buch sofort wieder auf die Seite).

Dein Beispiel mit den Reaktionen auf den Blogger ist übrigens genau das, was ich mit 'nicht über uns nachdenken' gemeint habe. Solche Reaktionen sind typisch für Nicht-Autisten. Ich selbst könnte einige Beispiele dafür nennen, bei denen es mir eiskalt den Rücken heruntergelaufen ist, aber das Vorzeichen umgekehrt war (Schon mal was von "Defeat Autism" gehört? Das ist genau die Art von "Hilfe", vor der ich mich fürchte. Und einem Kommentar wie bei deinem Beispiel mit dem Klo würde auch ich energisch widersprechen). Um solche Reaktionen in Zukunft auf ein Minimum zu reduzieren, ist es wichtig, dass Autismus als mehr betrachtet wird denn als eine Ansammlung von Schwächen, Defekten oder Schwierigkeiten. Für Leute wie B. ist der Spektrumsbegriff daher insofern hilfreich, dass ein besseres Verständnis (im Idealfall) auch zu besserer Unterstützung führt, auch wenn die erste Reaktion darauf lautet "wer so davon schreibt, versteht das Problem wohl nicht". ;)

Ich hoffe, du verstehst, dass ich nicht aus einer bloßen Laune heraus so über Autismus schreibe, wie ich es tue, sondern mir ernsthaft Gedanken dazu mache - und nimmst es mir entsprechend nicht übel, dass ich eine andere Sichtweise vertrete. An Anerkennung führt in meinen Augen einfach kein Weg vorbei.

Mit Grüßen aus dem Spektrum heraus
Feivel

P.s.: Ich versuche mich in Zukunft wirklich kürzer zu halten. Gefiedertes Ehrenwort!
 

Tula

Mitglied
Hallo Feivel
Danke für deine ausführliche Antwort. Ich verstehe deine Sichtweise und Standpunkte und du sicherlich auch meine Motivation für den ursprünglichen Einwand. Ich denke, dass jede einigermaßen ernsthafte Debatte zu diesem Thema auch so differenziert sein sollte wie die Definitionen des ASD, ansonsten bleibt es bei Verallgemeinerungen, die als solche keine Gültigkeit haben (können). Ich würde jedenfalls nachwievor zwischen Autismus als solchen, Asperger und anderweitigen ASD-Störungen unterscheiden, um Missverständnissen vorzubeugen. (Der zitierte Blogger trägt übrigens aus meiner Sicht zu diesen bei.)

Das beinhaltet keinerlei Geringschätzung. Natürlich kann auch ein auf den ersten Blick weniger gravierendes Problem im täglichen Leben riesengroße Herausforderungen und Beeinträchtigungen mit sich bringen, unabhängig vom 'Label', das man von den Ärzten bekommt. Das wollte und will ich nicht in Frage stellen.

Da wir hier auf LL der literarischen Unterhaltung dienlich sein wollen, will ich an dieser Stelle mit Wunsch und Rat verbleiben, der Kreativität einfach freien Lauf zu lassen. Das ist auch für mich als 'Normalo' eine gute 'Therapie', um mich erfolgreich von anderem abzuwenden und den Abenden einen zusätzlichen Sinn zu verleihen.
In diesem Sinne, mit besten Wünschen und LG
Tula
 

Feivel Veys

Mitglied
Hey Tula,
Kein Problem und danke für deine geduldige Beteiligung. Ich verstehe deine Position, vielleicht sogar besser, als du ahnst. Entsprechend habe ich mir auch ziemlich viel Mühe gegeben, mich zurückzuhalten. Zwischendurch schimmern in deinen Kommentaren durchaus Positionen und Formulierungen durch, die schon ziemlich nahe an "Diskriminierung" (confirmation bias/Bestätigungsfehler; ablesplaining) heranreichen. Vieles von dem, was du in deinen Kommentaren als autistisch ansprichst oder auf das du dich stützt, sind tatsächlich Komorbiditäten (hab' ich das überhaupt richtig geschrieben?), sind also ergänzende Begleitsymptome, die bei uns zwar gehäuft auftreten, aber nicht Teil des Autismus selbst sind. Autismus gilt nicht umsonst als eine "seelische" und nicht als eine psychische oder gar physische Behinderung. Solche Komorbiditäten aber als Ausgangslage für die Beurteilung, ob eine Position noch autistisch ist oder nicht, ganz zu schweigen von der Frage, was Autisten helfen kann, heranzuziehen, ist bestenfalls fragwürdig, um es einmal vorsichtig auszudrücken. :confused:

Ich schreibe das hier nicht, um noch einmal nachzutreten und setze den Begriff bewusst in Anführungszeichen, da ich weiß, dass bei dir keine böswillige Absicht dahinter steckt, sondern lediglich, damit andere verstehen, wie rasch man Autisten ein verbales Messer in die Brust rammen kann. Der autistisch-depressive Vogel in dem Gedicht, um das es hier eigentlich gehen sollte, ist genau deswegen suizidal, weil er sich fünfzehn Jahre lang solche Sachen anhören musste und den ständigen Rechtfertigungsdruck, den selbst Vertrauenspersonen auf ihn ausüben, einfach nicht mehr aushält. Das einzige, was ihm noch geblieben ist, ist, darüber lachen zu können. Daher auch meine Art, in diesem Fall "naiv" über Autismus/Autisten zu schreiben.

Auf einer sprachlichen Ebene würde ich dir daher raten, dass du idealerweise weniger allgemein von Autismus sprichst, sondern lieber auf spezifische Symptome eingehst. Die alten "Label", wie du das nennst, sind tot und müssen das auch bleiben, da sie aus einer Zeit stammen, in der selbst Homosexualität offiziell noch als Geisteskrankheit bewertet wurde (Schon mal was von Konversionstherapien gehört? Das autistische Äquivalent dazu heißt übrigens Applied Behavior Analysis (ABA)). Die Forschungslücken seither sind enorm. Es werden definitiv neue Kategorien entstehen, da das Spektrum nur als Überbegriff funktionieren kann und nicht auf Einzelfälle anwendbar ist. Dafür war es ohnehin niemals ausgelegt. Bis dahin sind wir alle Autisten. ;)

Ich möchte aber noch einmal betonen, dass ich dir weder einen Vorwurf mache, noch einen Groll gegen dich hege. Ich möchte diese Diskussion selbst beenden, kann sie aber nicht ausklingen lassen, ohne vorher auf die sprachliche Dimension der gesellschaftlichen Debatte zumindest hingewiesen zu haben. Denn bei aller Liebe zu Ausdifferenzierung, Kategorisierung und Hilfsbereitschaft sind am Ende wir es, die unter solchen Debatten leiden müssen.

Vielleicht verfasse ich demnächst einen Beitrag für die Rubrik Theoretisches. Dann hätten wir zumindest einen Ort für solche Diskussionen. Bis dahin

Grüße mit gerupften Federn
Feivel
 

Tula

Mitglied
Hallo Feivel
Es gibt absolut nichts worüber du mir böse sein könntest. Ich wollte hier keine theoretische Debatte und habe mir auch nichts ausgedacht. Es geht um die klassischen Formen wie zum Beispiel im wiki zusammengefasst:

Wiki zum Thema

Ich muss nochmals betonen, dass nichts von dem in irgendeiner Weise eine Geringschätzung bzw. -achtung der sogenannten 'anderen' und in der Regel milden Formen, die im ASD mit berücksichtigt werden, beinhaltet, während umgekehrt das eine nicht stellvertretend für das andere dargestellt werden sollte, weil dies zu Verallgemeinerungen und auch Verharmlosungen führt. Das ging soweit, dass mir mal ein Uni-Professor regelrecht gratulierte (!!!), als ich ihm vor mehr als 15 Jahren von der Diagnose meines Sohnes erzählte. Das konnte nur ein Einstein werden, was für ein Glück, so einen hätte er auch gern gehabt ...

Es geht bei Autismus auch nicht nur um eine andere Form das Seins, wie ebenfalls oft irreführend verharmlost wird, sondern um reale Beeinträchtigungen mit verschiedenen Schweregraden. Ich gebe zu, dass mir die schweren Fälle weitaus geläufiger sind als die leichteren. Wie oben bekräftigt, ich ignoriere nicht die Probleme der anderen.

Einer theoretischen Debatte werde ich meinerseits nicht folgen. Zum einen gibt es durchaus fachlich detaillierte Informationen im Netz, man muss nur suchen. Zum anderen ist das nicht das Ziel eines Literaturforums.

In diesem Sinne, wenden wir jetzt der Literatur zu.

LG
Tula
 

Feivel Veys

Mitglied
Hey Tula,
Du hast recht. Das hier ist ein Literaturforum und ich habe weder beabsichtigt, noch damit gerechnet, in so eine Debatte verwickelt zu werden. Ganz im Gegenteil. Ich hatte eigentlich gehofft, hier einen sicheren Raum zu haben, in dem ich mich auf meine Texte konzentrieren kann und ich mich nicht ständig für meine Existenz rechtfertigen muss. Stattdessen bin ich seit fast fünf Wochen ein nervliches Wrack, kann mich kaum noch konzentrieren und zittere so stark mit meinen Fingern, dass ich Schwierigkeiten habe, die Tasten zu treffen. Tatsächlich fürchte ich mich inzwischen davor, wieder auf die Leselupe zurückzukehren und spiele sogar mit dem Gedanken, mich wieder zurückzuziehen. Warum? Nicht wegen dem, was du beabsichtigt hast, sondern wegen dem, was du tatsächlich gesagt hast. Was du hier vom Zaun gebrochen hast, ist keine "theoretische Debatte", wie du das nennst, sondern Ausdruck meines Versuchs, mit den ständigen Vorwürfen zurechtzukommen, die du mir mit deinen Kommentaren unterschwellig an den Kopf wirfst. Subtext, versteht sich. Auf der bloßen Textebene hast du keinen Fehler gemacht.

Natürlich sind Verallgemeinerungen ein Problem. Natürlich ist der Spektrumsbegriff schwierig zu handhaben. Und natürlich gibt es unterschiedliche Schweregrade. Da widerspreche ich dir überhaupt nicht. Wenn das aber darauf hinausläuft, dass du Autismus einteilen möchtest in Autisten mit teils massiven Beeinträchtigungen und diejenigen mit einer anderen Diagnose, dann sprichst du all jenen Autisten, die irgendwie von deinem Bild abweichen ihren Autismus ab. Kannst du dir vorstellen, was du für einen Schaden mit solchen Positionen anrichten kannst? Am Ende sind wir es, die darunter leiden müssen.

Das ist es nämlich auch, was in deinen Kommentaren ständig bei mir ankommt. Nicht deine Absicht, nicht deine eigenen Erfahrungen, sondern der Vorwurf, Autisten würden Autismus nicht verstehen. Du sprichst uns damit ab, eine eigene Stimme zu besitzen, nur weil Nicht-Autisten uns nicht oder falsch verstehen. Und so etwas ist tödlich.

Grüße
Feivel
 

Tula

Mitglied
Hallo Feivel
Gewiss wollte keiner von uns dem anderen irgendetwas absprechen oder gar unterstellen, wir habens uns ausgetauscht, jeder aus der Perspektive seiner persönlichen Erfahrung. Das können wir beide sicherlich akzeptieren. Und ich kann deine Sichtweise ganz gewiss gut nachvollziehen.

Ich schlage vor, wir wenden uns jetzt der Freude am Spaß, also der Literatur zu, ob Prosa, ob Lyrik Du hast ja bereits weitere und unterhaltsame Texte eingestellt, zu denen ich mich ja auch gemeldet habe.

Mit besten Wünschen
Tula
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich schlage vor, wir wenden uns jetzt der Freude am Spaß, also der Literatur zu, ob Prosa, ob Lyrik
Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag und ich möchte darum bitten, die Diskussion jetzt zu beenden.
Ansonsten muss ich den Faden sperren.

Liebe Grüße
Manfred
 



 
Oben Unten