Hey Tula,
Ich entschuldige mich für die Verspätung. In den letzten zwei Wochen war ich, ähm,
non compos mentis und musste obendrein eine Deadline einhalten. War gar nicht so einfach, das unter einen Hut zu bringen...
Ich wollte mich trotz der Verzögerung noch einmal bei dir für dein Interesse an diesem Thread und deine eingebrachte Erfahrung bedanken. Meiner eigenen Erfahrung nach machen sich zu wenige Leute wie du die Mühe und versuchen Leute wie B. oder mich zu verstehen, ganz zu schweigen davon, dass sie anschließend über sich und ihr Verhalten uns gegenüber nachdenken. Dass du dazu offensichtlich bereit dazu bist, spricht definitiv für dich.
Das Problem, das du mit deinem Bericht noch einmal offen ansprichst, beschäftigt auch mich schon seit einigen Jahren. Mir ist
schmerzhaft bewusst, dass sich mit einem Spektrumsbegriff im Vergleich zu einer spezifischeren Diagnose nur schwer arbeiten lässt und gerade bei so etwas wie Autismus liegen zwischen 'oben' und 'unten' Welten. Für Leute wie mich, die dem 'oberen' Spektrum zugerechnet werden, ist das nur schwer zu verkraften. Für die einen sind wir automatisch zu behindert, um integriert zu werden (das Wort "unfähig" ist ein ständiger Begleiter) und falls es doch einmal passieren sollte, führt das meistens nicht zu Inklusion, sondern zu Assimilation. Für die anderen sind wir jedoch nicht (mehr) behindert genug, um autistisch zu sein. Wir können uns zwar durchaus durch den Tag quälen und für eine Weile so tun, als hätten wir unser Leben unter Kontrolle, aber das ist nichts anderes als eine Aufführung für andere, damit sie uns den Freiraum lassen, den wir zum Überleben brauchen (Stichpunkt:
Masking). Oder um es zusammenzufassen: Wir haben keinen Platz in dieser Welt.
Hinzu kommen die Probleme, die Autismus nun mal mit sich führen kann. Du hast es bereits selbst angesprochen. Auch ich habe ziemliche Schwierigkeiten, die man meinem blau gefiederten Vogel nicht ansieht und auch nicht ansehen kann. Niemand sieht die 16 Jahre kürzere Lebenserwartung, die soziale Isolation, die Mobbing-bedingten Depressionen, das 20%-Suizidrisiko, die gesundheitlichen Probleme, Phobien und Manien, die Schwierigkeiten mit
gesprochener Sprache (das hier ist
geschriebene Sprache), die ständigen
Meltdowns, Panikattacken und nassgeweinten Kissen. Und das ist nur die Spitze dessen, was mir gerade aus meinen letzten 14 Tagen spontan in den Sinn kommt. Was Außenstehende nicht bedenken (und damit meine ich Leute, die keinen direkten Kontakt zu Autisten haben), ist, dass selbst die 'leichten' Formen von Autismus automatisch mit einer 50% Schwerbehinderung einhergehen - und die bekommt man nicht zum Spaß. Das eine ist ohne das andere einfach nicht zu haben.
Ich habe für mich die Lösung gefunden, dass ich versuche, eine 'Brücke' zu errichten. Ich kann weder Einfluss auf die Fachwelt nehmen und den Autismusbegriff eigenhändig in handhabbare Einzeldiagnosen zerlegen, noch kann ich das Spektrum als Einzelstimme angemessen repräsentieren. Was ich aber tun kann, ist, zumindest dazu beizutragen, dass Autisten als Menschen anerkannt werden und nicht als störendes Beiwerk. Das funktioniert aber nur, wenn nicht-autistische Menschen einen Zugang zu uns finden können, der nicht über Mitleid führt (Stichpunkt: "lebensunwürdiges Leben" und "Gnadentod"; Es gibt beunruhigende Anzeichen dafür, dass wir als Gesellschaft uns gerade wieder in diese Richtung bewegen). Dafür braucht es jedoch eine Mischform, damit sich sowohl Autisten als auch Nicht-Autisten in den dargestellten Figuren wiederfinden können. Und das sind in der Regel wir aus dem 'oberen' Spektrum. Dass ich damit nicht allen gerecht werden kann, tut mir leid, ist im Augenblick aber kaum anders lösbar. (Es gibt durchaus ansehliche Versuche in dieser Richtung, doch sprechen solche Geschichten in erster Linie ein ohnehin 'eingeweihtes' Publikum an. Ist die Titelheldin nonverbal (und noch dazu eine Frau), legen die meisten das Buch sofort wieder auf die Seite).
Dein Beispiel mit den Reaktionen auf den Blogger ist übrigens genau das, was ich mit 'nicht über uns nachdenken' gemeint habe. Solche Reaktionen sind typisch für Nicht-Autisten. Ich selbst könnte einige Beispiele dafür nennen, bei denen es mir eiskalt den Rücken heruntergelaufen ist, aber das Vorzeichen umgekehrt war (Schon mal was von "Defeat Autism" gehört? Das ist genau die Art von "Hilfe", vor der ich mich fürchte. Und einem Kommentar wie bei deinem Beispiel mit dem Klo würde auch ich energisch widersprechen). Um solche Reaktionen in Zukunft auf ein Minimum zu reduzieren, ist es wichtig, dass Autismus als mehr betrachtet wird denn als eine Ansammlung von Schwächen, Defekten oder Schwierigkeiten. Für Leute wie B. ist der Spektrumsbegriff daher insofern hilfreich, dass ein besseres Verständnis (im Idealfall) auch zu besserer Unterstützung führt, auch wenn die erste Reaktion darauf lautet "wer so davon schreibt, versteht das Problem wohl nicht".
Ich hoffe, du verstehst, dass ich nicht aus einer bloßen Laune heraus so über Autismus schreibe, wie ich es tue, sondern mir ernsthaft Gedanken dazu mache - und nimmst es mir entsprechend nicht übel, dass ich eine andere Sichtweise vertrete. An Anerkennung führt in meinen Augen einfach kein Weg vorbei.
Mit Grüßen aus dem Spektrum heraus
Feivel
P.s.: Ich versuche mich in Zukunft wirklich kürzer zu halten. Gefiedertes Ehrenwort!