@ofterdingen - Titel
An einem der heißesten Tage des letzten Sommers geschah das Unfassbare: Das Haus, in dem Miriam, von Urlauben und gelegentlichen Übernachtungen bei Freundinnen oder Freunden abgesehen, schon fast neunzehn Jahre lang ununterbrochen gewohnt hatte, dieses Haus war eines Tages mitten durchgerissen. Miriam entdeckte es morgens beim Aufwachen, weil ihr im Bett Staub ins Gesicht wehte. Sie stand gleich auf und fuhr zu ihrer Freundin Esther, der sie davon erzählte, und als diese mitkam, um das Unglück in Augenschein zu nehmen, sah das Haus zwar noch aus wie ein einziges, aber beim Näherkommen entdeckten die beiden Mädchen doch, dass der Riss so breit war, dass Wespen aus und einflogen und dass die zwei schräg auseinander gerissenen Haushälften fast schon fremd nebeneinander standen.
@Spaetschreiber
„Nun also auch bei dir“, sagte Esther, Miriam nickte. „Ich war die Letzte“, erwiderte sie. „Hast du schon ein Angebot?“, fragte ihre Freundin aus dem Nachbarort, der alles noch vor sich hatte. „Natürlich“, murmelte die Hausbesitzerin abwesend und steckte ihre Hand durch den Spalt. „Wirst du es eingehen?“, wurde sie wieder gefragt. „Weiß nicht“, sagte sie. „Vielleicht.“
Das Telefon funktionierte noch und ein Anruf rüttelte gerade am Hörer. Henry war dran und erfragte den Stand der Dinge. Sie müsse sofort das Haus verlassen schrie er ins Telefon. Miriam legte einfach auf, denn sie wusste, wenn sie das tat, würden nur zwanzig Minuten vergehen und er würde dort auftauchen. So wars dann auch. Der Feigling parkte sein Auto ca. zweihundert Meter entfernt drüben bei Weynhold, die hatten alles schon hinter sich. Schon von Weitem brüllte er sich die Seele aus dem Leib und blieb in Sichtweite stehen. Inzwischen passten schon beide Frauenhände durch die Risse im Haus und winktem ihm zu.
@ Heidrun D.
Doch ob es sich tatsächlich um ein Winken handelte? Zuweilen konnte Henry nur die gestreckten Mittelfinger beider Mädchen ausmachen ... Sein lästiges Geschrei verstummte deshalb mit der Zeit. Esther und Miriam gewannen der Situation mittlerweile das Beste ab. Aus der gegenüberliegenden Seite höhlten sie sich eine formschöne Steinbar, auf der sie bequem ihre Getränke absetzen konnten. Auch ein Musiker fand sich ein, der die beiden mit Stücken aus dem Repertoire von Jethro Tull unterhielt, dem erklärten Liebling der Mädchen. - Nicht einen Augenblick zitterte die Querflöte in seinen Händen. Naturgemäß war dieser beliebte Treffpunkt jedoch nicht auf Dauer angelegt.
@Spaetschreiber
Henry schnaufte die kleine Anhöhe hinauf und wischte sich von Zeit zu Zeit mit dem Ärmel über sein Gesicht. Heute muss er es ihr sagen, heute. Aber er muss es vorsichtig machen, sehr vorsichtig, es ging schließlich um Millionen. Den Bericht des deutschen regionalen seismischen Netzes kann man nicht länger von der Öffentlichkeit fernhalten und wenn Miriam mitkriegen würde, wie die Sache stand, also alle Daten kennen würde, dann hätte ihr Revolverblatt endlich wieder Futter in diesem Sommerloch, in dem einfach nichts passierte. Seit fast einem Jahr war Ruhe und die Wogen hatten sich in der Medienlandschaft geglättet. Die ganze Sache war aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden und Henry hatte einen beachtlichen Anteil daran. Zwei Millionen Euro Bestechungsgelder hatte er gezahlt und das Konsortium, dass die alten Bergwerke verwaltete, vertraute ihm. Dass nun gerade seine Liebste, die Letzte in der Reihe der Haus und Grundstücksbesitzer war, lag ihm auf der Seele. Heute muss sie den Kaufvertrag unterschreiben. Heute! Wenn nur diese blöde Esther nicht anwesend wäre. Die hatte ihm gerade noch gefehlt. Die kann doch nicht die Klappe halten. Details über Kaufsumme und Stand der Dinge dürften niemals an die Öffentlichkeit kommen, dann würden sich die Entschädigungen in den Nachbarorten vervierfachen, davor hatte man ihn gewarnt, obwohl das nicht nötig gewesen wäre, denn es ging auch um sein Geld, um seine Provisionen. Unten an der Haustür hörte er ihre Stimmen. Die Frauen unterhielten und betranken sich. Ein Blick genügte und ihm standen die Haare zu Berge. Der Riss im Haus war inzwischen zwanzig Zentimeter breit und die Damen warfen gerade wieder eine Flasche Sekt in seine Richtung. Ok, dachte er, vielleicht ist es leichter, wenn sie betrunken sind. Aus dem Radio brüllte irgendein Engländer was von „To old to Rock’n Roll, but too young to die“, wenn der wüsste …
@Rhea_Gift
"Guck mal..." lachte Esther angetrunken, "wie Henry da hochgeschnauft kommt..." Miriam schaute durch den Riss in die gedeutete Richtung. "Ja..", lachte sie, "da kommt das unfreiwillige Unheil... Du, ich will gar nicht umziehen... wie mach ich ihm das bloß klar? Ich hab irgendwie das Gefühl, das ist kein Zufall... guck doch mal, die ganzen Häuser... das ist doch nicht normal. Da steckt doch irgendeine Immobilienfirma dahinter... Die hier wer weiß was bauen will... Nur - wie kriegen die das hin, die Häuser zerplatzen zu lassen?"
Esther hickste kurz.
"Hmpf, das klingt mir zu sehr nach Verschwörung... ist sicher nur ne Störung im Boden oder sowas... und das Mauerwerk ist halt grob gehauen..."
"Ach was, das stände längst in der Zeitung - bei so vielen Häusern ists ne verdammt GROSSE Bodenstörung - und ICH wüsste das doch dann noch, bevors gedruckt erschiene, hmmmm...?" kicherte sie.
"Stimmt", nickte Esther.
"Weißt du, was ich wirklich glaube?" nuschelte Miriam, langsam träge werdend vom Sekt und der schwirrenden Hitze.
"Nö, was?"
"Das ist 'n Traum", flüsterte sie geheimnisvoll, "oder ich lieg eigentlich irgendwo auf ner Freud-Couch und sehe unter Hypnose mein Ich-Haus gespalten... hihihi... und die vielen Wespen, all die vielen emsigen Einflüsterer, tu dies tu das summsumm... hihihi..."
"Ach Miriam, du bist nur betrunken", mahnte Esther lakonisch, "dein Haus ist hin, da gibt's kein Vorbeigucken..."
Nun lachte Miriam erst richtig los.
"Na, ich guck nicht vorbei, ich sehe doch gerade genau hin - und du, du bist die Ablenkung, die Beruhigung, die Wogenglättung - dich gibt's gar nicht - Du bist nur ne Stimme in meinem Kopf, hahaha..."
Esther starrte sie besorgt an.
"Also ehrlich, Miriam... ich glaub, du trinkst besser nichts mehr."
Miriam stierte böse zurück.
"Ja, Mama, genau Mama - haha, damit hast du dich selbst verraten!"
Und noch bevor Esther den Mund öffnen konnte, kamen die Wespen.