Was bisher geschah:
@ofterdingen
An einem der heißesten Tage des letzten Sommers geschah das Unfassbare: Das Haus, in dem Miriam, von Urlauben und gelegentlichen Übernachtungen bei Freundinnen oder Freunden abgesehen, schon fast neunzehn Jahre lang ununterbrochen gewohnt hatte, dieses Haus war eines Tages mitten durchgerissen. Miriam entdeckte es morgens beim Aufwachen, weil ihr im Bett Staub ins Gesicht wehte. Sie stand gleich auf und fuhr zu ihrer Freundin Esther, der sie davon erzählte, und als diese mitkam, um das Unglück in Augenschein zu nehmen, sah das Haus zwar noch aus wie ein einziges, aber beim Näherkommen entdeckten die beiden Mädchen, dass der Riss so breit war, dass Wespen aus und ein flogen und dass die zwei schräg auseinander gerissenen Haushälften fast schon fremd nebeneinander standen.
@Spaetschreiber
„Nun also auch bei dir“, sagte Esther. Miriam nickte: „Ich bin die Letzte.“ „Hast du schon ein Angebot?“, fragte die Freundin aus jenem Nachbarort, dem das alles vielleicht noch bevorstand. „Natürlich“, murmelte Miriam abwesend und steckte ihre Hand durch den Spalt. „Wirst du drauf eingehen?“ „Weiß nicht“, sagte sie. „Vielleicht.“
Das Telefon funktionierte noch und ein Anruf rüttelte gerade am Hörer. Henry war dran und erkundigte sich nach dem letzten Stand der Dinge. Sie müsse sofort das Haus verlassen, schrie er. Miriam legte einfach auf. Wie sie ihn kannte, würde er nach zwanzig Minuten sowieso auftauchen. Henry, der ewige Feigling, parkte sein Auto zweihundert Meter entfernt, drüben bei Weynhold. Weynholds hatten alles schon hinter sich. Schon von Weitem brüllte er sich die Seele aus dem Leib, blieb aber stehen in sicherem Abstand. Die beiden jungen Frauen, deren Hände jetzt durch den Riss passten, winkten ihn heran.
@Heidrun D.
Falls es sich um Winken tatsächlich handelte. Vor allem die gestreckten Mittelfinger an den reizenden Mädchenhänden fielen Henry störend ins Auge. Allmählich wurde er leiser.
Esther und Miriam konnten der bizarren Situation offenbar auch gute Seiten abgewinnen. Einen Sims, den der Riss hatten stehen lassen, funktionierten sie anscheinend zu einer formschönen Steinbar um und stellten dort wohl auch schon kalte Getränke bereit.
Dann war da plötzlich auch noch dieser aufdringliche Musiker, ein Unikum aus der Nachbarschaft, das, stets auf einem dürren Bein balancierend, das Dorf mit angegammelten Hits von Jethro Tull zu malträtieren pflegte. Trotz den spitzen Schuhen und dem bunten Röckchen, das er heute wieder trug, zitterte die Querflöte in seinen Händen nicht einen Augenblick. Miriam und Esther tranken und lachten und klatschen in die Hände, als sei Classic Rock ihr erklärtes Lieblingsgenre. Naturgemäß, erkannte Henry und sagte es sich jetzt mit kalter Entschiedenheit, naturgemäß kann dieser fröhliche Volksauflauf im Angesicht so einer Menschheitskatastrophe nicht von wirklicher Dauer sein.
@Spaetschreiber
Von Zeit zu Zeit das Gesicht am Ärmel abwischend schnaufte er die Anhöhe hinauf. Heute musste er es sagen, heute. Aber man musste behutsam vorgehen, äußerst behutsam. Schließlich ging es um Millionen. Den Bericht des Deutschen Regionalverbands Seismisches Netz konnte man nicht länger fernhalten von der Öffentlichkeit. Wenn diese Esther mitkriegen würde, wie die Sache stand, alle Fakten endlich kennen würde, hätte sie ausreichend Stoff, das Sommerloch bei ihrem Revolverblatt zu stopfen.
Vor zehn Jahren war die ganze Sache schon einmal aufgekocht, es hatte Henry nicht wenig Mühe gekostet, die Wogen wieder zu glätten und aus dem Fokus der Medienlandschaft zu bringen. Das Konsortium, das die alten Bergwerke verwaltete, vertraute ihm jetzt. Zwei Millionen Bestechungsgeld hatte er den wichtigsten Meinungsmachern zugeschoben, meist in Form von Sachleistungen wie Nutten. Dass aber ausgerechnet Miriam, vielleicht ein wenig jung für ihn, aber der Traum seiner schlaflosen Nächte, nun auch noch drankam, die Letzte in der Reihe der Hausbewohner und Grundstücksbesitzer, lag ihm wie ein Stein auf der schwarzen Seele. Heute muss sie den Kaufvertrag unterschreiben, heute, dachte er schwitzend und den Mädchen möglichst unbeschwert zunickend.
Aber dann diese blöde Esther, diese Praktikantin vom Boulevardblatt in Köln. Die hatte ihm gerade gefehlt. Die konnte die Klappe nicht halten, schon wegen dem erhofften Karriereeinstieg nicht.
Details, Kaufsummen, Vertragsklauseln dürften niemals an die Öffentlichkeit dringen. Er wusste es selbst, war aber unmissverständlich gewarnt worden. In den Nachbarorten würden sich die Entschädigungen vervierfachen. Es ging auch um sein Geld, um seine Provision.
Ein Blick genügte und ihm standen die Haare zu Berge. Der Riss im Haus war inzwischen weit über zwanzig Zentimeter breit und die holde Weiblichkeit hatte nichts anderes zu tun, als ihm zur Begrüßung eine leere Flasche Sekt vor die Füße zu kegeln. Die betranken sich ja. Okay, dachte er, vielleicht macht es die Sache auch leichter. Aus dem Radio brüllte ein Engländer „Too old to rock’n’roll too young to die“ und dazu trillerte der Querflötblödheini sich eins. Wenn der wüsste.
@Rhea_Gift
„Guck mal“, lachte Esther, „wie Henry wieder schnauft!“ „Ja“, kicherte Miriam, „das unfreiwillige Unheil kommt. Das ist doch nicht normal. Ich hab irgendwie das Gefühl, das ist kein Zufall. Nur: Wie kriegen die das hin, die Häuser zerplatzen zu lassen? Da steckt doch irgendeine Immobilienfirma dahinter. Du, ich will hier weg. Wie mach ich das dem Henry nur klar?“
Esther hickste. „Hmpf, klingt mir zu sehr nach Verschwörung. Ist sicher nur ne Störung im Boden oder so was. Das Mauerwerk ist halt grob. Er ja auch.“ Und sie schüttete sich aus vor Lachen, verschluckte sich und begann schrecklich zu husten.
„Ist ne verdammt große Störung. Müsste das nicht in deiner Zeitung stehen, wenn’s so wäre?“, kicherte Miriam.
„Stimmt.“ Esther nickte.
„Weißt du, was ich glaube?“, nuschelte Miriam träge von der schwirrenden Hitze.
„Nö, sag!“
„Das ist’n Traum. Oder ich lieg auf ner Freud-Couch unter Hypnose und sehe mein Ich-Haus gespalten. Um mich rum immer nur Wespen, summ summ, tu dies, tu das. All die emsigen Einflüsterer. Das ist genau der Grund, warum der Henry seit fünf Minuten um uns rumzappelt, aber keinen anständigen Satz rausbekommt. Er summt, er ist ne Wespe. Du etwa auch?“
„Euer Haus ist hin, da gibt’s kein Vorbeigucken“, mahnte Esther lakonisch. „Summ, summ, summ!“, lachte Miriam erst richtig los. „Na, du bist also die Wogenglättung. Dich gibt’s gar nicht. Du bist ne Stimme in meinem Kopf. Wie wohl tuend, endlich klar zu sehen.“ Esther starrte sie an.
„Miriam, du trinkst jetzt nichts mehr. Trinkt man den Sekt von seinen Eltern weg, wenn das Haus der Familie in Flammen steht? Ich mein, im Staub versinkt. Oder zumindest entzwei gerissen wird.“
„Haha, damit hast du dich verraten!“ Miriam stierte Esther böse an. „Mama! Ja, genau. Mama! Mama, Mama!“, lallte sie mit der Stimme einer Vierjährigen.
Esther wollte etwas sagen, aber da waren wirklich viele Wespen um sie.
@suzah
Und es waren nicht nur Wespen, die herausflogen aus dem klaffenden Spalt. „Iih, Mäuse!“ schrie Esther, zog die Beine hoch und stemmte ihre Sohlen gegen die der Steinbar gegenüber liegende, nun gut fünfzig Zentimeter weggerückte Bruchkante. Miriam lachte schrill. Eine vielköpfige Mäusefamilie verließ tiefer unten das sinkende Schiff und die Mauer bewegte sich.
„Wer ist hier betrunken, du oder ich?“, lallte Miriam auf ihren schwankenden Beinen. „Hilfe, ich rutsche! Halt mich mal!“ Unter ihren Füßen rutschte der Boden weg.
Aber Esther war eine Stimme in ihrem Kopf, eine Wespe im Gemäuer, summ summ, eine Wogenglätterin genau wie ihre Mutter. Halten konnte die nichts, wenn man zu Boden plumpste. Der Spalt wurde immer breiter, der Riss in ihrem Leben tiefer. „Jetzt haben wir richtig Platz zum Feiern!“, schrie sie hysterisch vor Freude, da, plumm!, pack! klatschte sie auf den unter ihr sich alleine zu helfen suchenden Henry, rammte ihm die Sektflasche, aber es war jetzt nur noch der Hals davon, eine schwankende Mauer hatte sie geköpft, versehentlich in den wabbeligen Unterleib. Henry, der sie eher spöttisch als verletzt zu betrachten schien und kein Wort sagte, immer noch nicht, fiel mit dem Kopf nach hinten und kam wie ein Bobschlitten, auf dem sie nun lag, ins Rutschen und in rasende Fahrt hinein. Das Glas in ihrer Hand war voller Blut, das wurde immer mehr. Sie wusste nicht, war es ihres, war es seines. Miriam schwamm, auf Henrys Bauch liegend, wie auf einer gewaltigen Woge nach unten.
Sie wurde mitgezogen und ritt, während sie sich an dieses Stück Flasche krallte wie an einen Lebensrettungsnippel, auf Henry und auf all dem Dreck, dieser Explosion aus Steinen und Sand, wie auf einer Lawine den Hügel abwärts, wo alles, Miriam, der gepfählte Henry und diese ganze Schmutzflut alsbald Henrys Auto unter sich begrub und zerdrückte.
Der Musikclown stand traumverloren im Gras und pustete den Staub von seiner gleißenden Flöte.“
@flammarion
Aber dieser Staub war der Staub des Morgens, war der zauberhaft heimliche Staub aus ihrem Bett. So schwer, so eindringend! Einfach wegpusten ließ sich so etwas nicht mehr. Schon fühlte der Flötist sich andeutungsweise zerrissen, nein, sehr zerrissen, zerrissen wie das Haus, das von oben auf dem Hügel hämisch herabgrinste aus einem toten, schimmelstinkenden Maul. Schon sah sie, das war ja eine gespaltene Persönlichkeit, dieser harmlose Kinderschreck im langen Mantel. Auf jeden Fall, sie wusste das einfach, würde er in nur ein paar Wochen noch diese total gespaltene Persönlichkeit unausweichlich sein, ein weiteres Psychowrack in dieser von Rhine-Brown ausgeschlachteten Landschaft.
@ Rhea_Gift
Jetzt, wo alles in Schutt und Asche lag, war Streiten natürlich nicht gerade konstruktiv. So sagte es zumindest der Psychiater aus Jülich, Esther kannte ihn von einem Zeitungstermin, der plötzlich, still in sich hineinlächelnd, hinter einer schrägen Hausecke hervorgekommen und den Hügel hinab auf den Fötenvirtuosen zugegangen war. Esther stand wie eine tränenerstickte Waise zwischen den hohlen Zähnen des irgendwie schon beinah gefräßig aussehenden Hauses, mit dem auch Miriams Kindheit nun wohl endgültig zerbrochen war. Sie schien nichts mehr wahrzunehmen, was um sie her vor sich ging.
Henry, den die Schlittenfahrt eher in einen Taumel der Lust als in die Nähe des Todes versetzt zu haben schien, versuchte sich zu beruhigen und die Krawatte wieder richtig zu binden. Schonend mühte er sich auch, Miriam endlich auf die Bergwerksintrige hinzuweisen, behutsam, wenn das jetzt überhaupt noch ginge.
Miriam glotzte nur dumm und lachte nun auch schon wieder ebenso dumm aus vollem Hals. „In unserem Unterbau ist alles supi. Hör auf zu faseln! Haste das immer noch nicht kapiert? Ein neuer Überbau soll uns übergestülpt werden. Ich sage dir, das ist ne Vernunftsimmobilienintrige.“
„Mensch Mädel“, quengelte unwillig der Rattenfänger in seinem rot-grün-roten Röckchen. „Hör doch mal hin, wenn der Psych was sagt! Er sprach von Verschüttetem, das geheime Truppen aus der Tiefen buddeln. Wenn das erst mal an die Luft kommt: Prost Mahlzeit!
„Darauf ist unser Augenmerk nun zu richten!“, krakeelte Esther, die sich von der Steinbar nicht lösen zu können schien, tatsächlich hielt sie auch schon wieder eine Sektflöte in der Hand, nippte jetzt davon, von oben, vom zerrissenen Haus herunter, in die Runde hinein. „Mein Blatt wird alles, aber auch alles brutalst möglich aufklären. Darauf gebe ich euch mein Ehrenwort.“
Der Ian Anderson schaltete sich ein: „Ähm, also. Wenn ich auch mal was sagen dürfte: Haltet den Rand! Hier geht's um mich!“ Das Letzte schrie er mit einer Kraft, die man seinem zierlichen Leib nicht zugetraut hätte. „Mein Haus ist zusammengestürzt, während ihr Party gemacht habt. Danke, vielen, vielen Dank auch!“
Der Psychiater fragte: „Mit wem sprechen Sie jetzt gerade? Das klang ja nach einer ganzen Gruppe.“ Sofort schrieb er sich etwas in einem Notizbuch auf.
„Wie meinen?“
„Schon mal was gehört von multipler Persönlichkeitsstruktur?“
„Äh, nee.“
„Nun, wie es aussieht, sind Sie nicht nur gespalten in zwei Personen, sondern multipel.“
„Ich bin nicht gespalten. Die zwei Weiber haben mein Haus kaputt gemacht! Verstehen Sie das nicht? Oder wollen Sie nicht?“
„Sie werden zugeben, dass außer uns beiden niemand hier ist.“
„Was? Sehen Sie doch hin! Die Eine tanzt in den Trümmern meines Heims. Die Andre wälzt sich im Dreck mit dem Fetten!
„Halluziniert“, notierte der Psychiater.
„Wie?“
„Sagen Sie, war es nicht eigentlich das Heim von der jungen Dame, die Sie da unten tatsächlich zutreffend erkannt haben, wie ich konstatiere, beziehungsweise gehört es nicht überhaupt deren Eltern?“
„Hah! Das behauptet sie gern. Meine kleine Hausbesetzerin. Wissen Sie, ich fasse es schon lange als unser gemeinsames Haus auf, in dem unsere Kinder mal groß werden. Ach, ich liebe sie höchst wahrscheinlich wie ich noch nie geliebt habe im Leben. Ich kann ihr auch das noch verzeihen, nehme ich an. Aber, was soll denn nun werden? Das Haus muss doch gerichtet werden!“
„Dependent, imaginierte Freundin“, schrieb der Psychiater.
„Wie?“
„Haben Sie etwas, das ganz Ihnen gehört und nur Ihnen allein?“
„Na ja. Meine Flöte. Aber, an die lass ich Sie nicht ran.“
„Flöte, aha. Das kann ja heiter werden. Haben Sie fest umrissene Vorstellungen, was das Sexualleben angeht mit der künftigen Mutter ihrer Kinder?“
„Na, das ist jetzt aber persönlich!“
„Haben Sie Vertrauen! Alles Gesagte bleibt hier in diesem Buch.“
„Nun...“ Henry, schwitzend in seinem zerrissenen Anzug, blutend und mit Erde verklebt von den Augenwinkeln bis zu den Wildlederschuhen, hatte sich aufgerappelt, herangeschlichen, eine Weile verstört zugehört und zögerte nun nicht, sich einzumischen in das Beratungsgespräch, dessen Abzahlungsmodalitäten auch noch gar nicht erörtert worden waren.
„Hey!“, schnarrte der Querflötist, „mich hat er gefragt, Henry!“
„Sexualleben, du und Miriam! Spuck keine Flötentöne! Hast du nicht gesehen, wie sie sich mir gerade eben hingegeben hat, obwohl alle Welt zusehen konnte?“
Der Psychiater runzelte die Stirn und kritzelte ins Büchlein. „Nun, äh, Henry, nicht wahr?“ Henry nickte.
[Über das Erscheinen des Psychiaters war er nicht unbedingt glücklich. Aber nun war er schon mal da. Eigentlich fand er wirkungsvoller, wenn das Normale irre erschien und das Irre normal. Einen Psychiater hätte man da gar nicht immer gleich dranhängen brauchen.]
„Dann erzählen Sie mal.“
@ Ofterdingen
„Nein, jetzt erzähle erst ich“, sagte Miriam, die alles heil überstanden hatte und auch wesentlich reiner und jungfräulicher wirkte als Henry mit ihrem „Pink!“-T-Shirt und mit dem goldenen Gürtelgeflecht unterhalb ihres frei liegenden Bauchnabelpiercings. „Es stimmt zwar, dass Henry seit zehn Jahren um mich herumschleicht wie die Katze um den Fleischtopf, aber ich habe ihm immer auf die Finger geklopft, wenn er sie ausstreckte.“
„Nicht, dass Sie jetzt was Falsches denken“, ging Henry dazwischen, „ich bin ihr Firmpate, ich habe mich immer um das Mädel gekümmert, seit ihre Eltern sie vernachlässigen.“
„Und er wär gern Mister Wichtig. Der große Geschäftsmann, der Strohmann für die Bosse, denen hier die Gegend gehört. Da drüben sieht man sein Auto, was von seinem Auto noch übrig ist. Das war mal ein uralter Fiat Panda. Fährt Mister Wichtig in so einer Kiste?“
„Miriam, du hast einen Schock“, sagte Henry, aber niemand achtete auf ihn.
„Er arbeitet als kleiner Angestellter im Amt für Zaunkontrolle. Er war bestimmt wieder unterwegs, um die Maschenweite der neuen Tagebauzäune nachzumessen, als er in diese Geschichte mit reingeriet. Esther und ich lachen schon über ihn. Vorhin lagen wir zusammen im Bett, weil sie heute hier übernachtet hat, weil wir gestern so gefeiert haben, weil so ein großer Tag war in unserem Leben, weil ich mich gestern Abend verlobt habe, weil ich diesen Jungen kenne, den meine Eltern nicht sehen wollen.
[Miriam (19) war behütet aufgewachsen und hatte sich stets gefügt, was darauf hinauslief, dass sie oft Opfer brachte und der erwünschten Rolle gerecht zu werden suchte. Sie war jedoch ein gleichzeitig hübsches und recht selbstbewusstes Mädchen, intelligent genug, um zu merken, dass der Riss tiefer ging als nur durch die Hauswand. Mit ihm wurde sie aber darauf gestoßen, nachzudenken über verschiedene Dinge. Mit dem Schulabschluss und ihrem Freund, einem geheimnisvollen androgynen Ausländer, würde für sie ein neuer Lebensabschnitt beginnen und wahrscheinlich auch eine Art von neuer Orientierung notwendig werden.]
Wir lagen sogar zu dritt in meinem Zimmer, aber Costa muss immer weg, bevor es hell wird. Wir hatten noch den Kühler mit der angebrochenen Flasche von heut Nacht im Eisschrank. Das sollte unser Sektfrühstück werden, von Esther und mir. Wir liegen also da, noch im Halbschlaf und es weht so eine merkwürdiges Lüftchen und es rieselt und ich höre, wie Jethro, so nennen wir ihn, unser Lied spielt, „Atem der Lokomotive“, ein Klassiker. Ich schlag also die Augen auf. Da ist das Haus entzwei und ich seh durch den Spalt, wie Henry kommt und schwitzt und so diese spitzigen Zähne, die er hat, bleckt. Ich sage Ihnen, der Typ ist irre! Esther hat sogar einen kleinen Zehnzeiler über ihn geschrieben. Passen Sie auf!“
[Esther, Miriams Freundin, arbeitete in der Redaktion von „Presto!“, einer der bestverkaufenden Boulevardzeitungen Deutschlands, beim Kölner Schneekoppe-Verlag angesiedelt, der sich auch stark im Internet engagierte, um den Kontakt zur kaufkräftigen jungen Medienverbrauchergruppe nicht zu verlieren. Miriam, ihre Mutter stammte aus Rumänien, ihr Vater verkaufte Curry-Wurst, wollte irgendwann mal ein nach ihr benanntes TV-Format haben, egal um welchen Preis. Vorerst war sie aber nicht mehr als eine ausgebeutete Dreimonatspraktikantin, ansonsten arbeitslos nach miserablem Abitur. Deswegen behauptete sie gerne, sie würde Verhaltensforschung studieren und im Max-Planck-Institut in Bergheim mit Schimpansen arbeiten. In Wahrheit hatte sie diese seit frühester Kindheit im Kölner Zoo beobachtet und sich so eine nüchterne, illusionslose Art, Menschen einzuschätzen, angeeignet, die sie im Journalismus vielleicht nach oben bringen konnte. Dennoch war sie auch stark esoterisch eingefärbt, heimlich auch etwas lesbisch und in Miriam einigermaßen verschossen.]
Miriam zog einen Block aus der Gesäßtasche und las dem Psychiater vor: „Henry schnauft die Anhöhe hinauf und wischt sich von Zeit zu Zeit den Schweiß aus den Augen. Heute muss er es ihr sagen, heute. Aber er muss es sehr behutsam machen. Sie ist noch ein halbes Kind. Leider unter dem Einfluss dieser knallharten Investigativjournalistin von Kölns meist gelesener Zeitung. Mit den üblichen Lügen schwacher Männer kommt er dieses Mal nicht durch, Henry weiß das.“
„Hm“, machte der Arzt. „Und wem gehört nun eigentlich das Haus?“
„Natürlich Miriams Eltern.“
„Und wo sind die?“
„Noch im Haus!“ Miriam schaute sie der Reihe nach an, als hätte sie es mit Zurückgebliebenen zu tun. „Ist doch nur das kleine Teil da in der Mitte zur Hölle gefahren. Die Hälften rechts und links sind ja supi intakt. Sieht man doch! Mein Vater hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen und spielt mit der Modelleisenbahn.“
„Modelleisenbahn, eigenes Vaterzimmer“, schrieb der Seelendoktor ins Heft.
[Ihre kleinbürgerlichen Eltern hatten sich im Wesentlichen bisher mit einem akzeptablen bis gefälligen äußeren Anschein begnügt und nicht bemerkt, dass sie sich selber verloren hatten und ihnen ihre Kinder allmählich entglitten waren. Miriam weniger dramatisch als ihr Bruder Erwin, ein geldgieriger, skrupelloser Egoist, der seine Schwester und seine Eltern tyrannisierte.]
„Und Mama ist in der anderen Seite und rupft ihre schwarzen Dessous.“
„Und beide kümmern sich nicht um den Riss?“ Die Männer kapierten wieder mal gar nichts. Der Psychoonkel, Henry, der Geiger, also früher war er mal Okko, der Geiger gewesen, alle starrten sie an wie ein kleines Kind, das Hilfe brauchte.
„Die haben wahrscheinlich noch gar nichts gemerkt. Aber Esther kümmert sich schon um sie. Oder ich, obwohl ich noch sauer von gestern Abend bin auf meine beiden Erzeuger.“
@suzah
„Aber im Moment ist Esther wohl nicht in einer Verfassung, das Notwendige in die Wege zu leiten. Ich werde ihr wohl helfen müssen. Schließlich bin ich ihre Freundin. Und um diese beiden“, dabei deutete Esther auf Jethro und Henry, „kümmern Sie sich am besten mal!“, wandte sie sich an den Psychiater.
Dann packte sie Esther am Arm und schleppte sie mit sich zum Hauseingang. Die Treppe zum ersten Stock schien intakt. So gelangten sie unbemerkt ins Gästezimmer. Esther ließ sich aufs Bett fallen und lachte. „Die Blödmänner haben wir abgehängt!“ „Beeilung Esther, du gehst erst mal unter die Dusche und schrubbst dir den merkwürdigen Staub ab. Klebt richtig fest an dir. Ich mach uns einen Espresso. Komm in die Küche! Zieh dir was hier ausm Schrank an! Alte Sachen von meinen Eltern. Ist ja nicht für lang.“
In der Küche traf sie Erwin, ihren Bruder, der den Kühlschrank nach Essbarem durchwühlte. „Hoi, Erwin, gut dass ich dich treffe! Du wolltest den Mittelteil vom Haus doch immer schon umgestalten. Ich hab vor kurzem den Architekten Weidemann kennen gelernt. Der das Kulturforum entworfen hat, der Pritzker-Preisträger. Ich hab ihm von dir erzählt. Er interessiert sich für dein Projekt. Hier ist seine Nummer.“ Erwin guckte überrascht. „Hätte ich dir gar nicht zugetraut, Bitch. Super!“ „Und schau, ob du den Paps in die Gänge kriegst. Unser Haus steht offen in den Himmel hinein. Und Paps dreht am Trafo! Der Weidemann fliegt morgen nach London. Könntet ihn heut noch anrufen“, grinste sie verschmitzt.
Der Psychiater saß mit Jethro, der Flöte, und Henry auf einem Holzbalken und redete immer noch. Auf Henrys Auto achtete niemand. Aber es war ja auch nur noch ein Haufen Schutt. Henry würde irgendwann auch dieser Tatsache ins Gesicht sehen müssen.
Miriam griff durch die Kühlhaube hinein in die Trümmer, der Schlüssel steckte noch, war aber abgebrochen. „Die Kiste ist hinüber“, sagte sie. „Du schläfst heute noch mal hier. Costa kommt so gegen halb eins, hat er gesagt.“