Rebecca Sander
Mitglied
Studiendirektor Lund
Hatte sie wirklich Herrn Lund gesehen? Ihren alten Deutschlehrer aus dem kleinen Michelsberg? Ganz sicher war sie sich nicht - wie so oft, wenn sie meinte, vertraute Gesichter zu erkennen, um dann später festzustellen, dass sie Herrn oder Frau X mit Herrn oder Frau Y verwechselt hatte.
Einige Male schon war Renata fast sicher gewesen, Albert Lund in C. gesehen zu haben. Seine knorrige Rübezahl-Gestalt im modisch gestylten Outfit. Schwarzer Sakko. Anthrazitfarbenes Hemd. Dunkelgraue Hosen. Wie alt er wohl sein mochte? Schätzungsweise achtzig Jahre.
Warum sollte sich Herr Lund gerade in C. aufhalten? Warum auch nicht? C. war eine Großstadt in der Nähe des Harzes, in dem sich prächtig wandern ließ. Hatte er doch vor langer Zeit, als er noch unterrichtete, einen Wanderclub gegründet, in dem er mit seinem Naturkind Brigitte die Natur-Freuden genoss. Aber das war schon lange her. Vor dreißig Jahren wurde er wegen Herzbeschwerden pensioniert.
So hatte es wenigstens Renatas Mutter erzählt. In einem kleinen Nest wie Michelsberg sprach sich so etwas schnell herum. Ihr Vater, Patenonkel von Lunds Frau Brigitte, bestätigte dessen Frühpensionierung aus besagtem Grund. Warum sollte sie daran zweifeln?
Herr Studiendirektor Lund, der im Deutschunterricht von den weiblichen, Natur-kindhaften Frauengestalten Goethes schwärmte und sie in diametralen Gegensatz zu Schillers intellektuellen Frauengestalten stellte. Der nebenbei noch Ratschläge fürs Leben gab - im Unterricht natürlich. Dass nämlich der Mann der Frau in der Ehe geistig überlegen sein müsse. Sonst sei die Ehe zum Scheitern verurteilt. Anscheinend sprach er aus Erfahrung, war ihm doch seine erste studierte Frau davon gelaufen.
Er hatte sich bald mit Brigitte Gelhorn getröstet. Sie war zwanzig Jahre jünger als er und Stenotypistin. Er hatte sie jedoch nicht als Stenotypistin, sondern als Fastnachtsprinzessin kennen gelernt. Er selbst war, um den kleingeistigen Spießern seinen freien Geist zu beweisen, als Fastnachtsprinz aufgetreten. Kurze zeit später war Brigitte in anderen Umständen und Lund - im Gegensatz zu Faust - heiratswillig. Auch Lunds erste Frau, die Davongelaufene, willigte sogleich in die Scheidung ein. Sie schickte sogar Babysachen zur Hochzeit, zu der auch Renatas Eltern eingeladen waren.
Trotz ihrem Deutschlehrer Albert Lund hatte Renata Germanistik studiert. Wenn auch jener in seinen Kommentaren unter ihren Aufsätzen ihr Erzähl-Talent bescheinigte, so strotzten die Seiten meist von Randbemerkungen wie "Jetzt platzt mir gleich der Kragen".
Was ihn beim Lesen ihrer Aufsätze in Rage versetzte, wusste Renata
nicht mehr. Vielleicht, weil sie das i-Pünktchen mitunter nicht genau über das i, sondern ein paar Buchstaben später oder früher setzte? Oder doch eher, weil sie es wagte, ihre eigenen Interpretationsversuche zu Papier zu bringen? Anstatt seine eloquenten Erläuterungen wiederzugeben? Häufig pflegte er ihre Schrift zu bemängeln, wobei er es nicht versäumte, auf die Beziehung zwischen Schrift und Charakter hinzuweisen.
Während ihres letzten Schuljahrs war ihm der Karriere-Sprung vom Oberstudienrat zum Stellvertretenden Direktor gelungen, da er sich für den Neubau eines Vollgymnasiums am Ort eingesetzt hatte. Eine wegen ihrer untadeligen Schrift von ihm gerühmte Klassenkameradin sollte beim ersten Spatenstich ein Gedicht aufsagen. Nicht irgendeines, auch nicht eines von Schiller oder Goethe, sondern ein von Lund selbst verfasstes:
"Freudig, oh Freunde, nun feiert den festlichen Tag.
Da wir nach banger Erwartung Gewissheit nun sehn..."
"Albert von Lund" knurrte Siggi Lagger, als Lund mit ernster Miene die ersten Zeilen zu deklamieren begann. Natürlich prustete die ganze Klasse los. Lunds Gesicht wurde kummervoll, während er das Kinn gegen den dürren Hals presste. "Kulturbanausen" hörte Renata, die in der ersten Reihe saß, ihn murmeln.
Wenige Wochen später wurde Siggi Lagger zum Direktor zitiert. Warum, wusste niemand so genau. Man munkelte, dass er Kondome in die Schule mitgebracht habe. Ein paar Wochen später flog er dann von der Schule.
Hatte sie wirklich Herrn Lund gesehen? Ihren alten Deutschlehrer aus dem kleinen Michelsberg? Ganz sicher war sie sich nicht - wie so oft, wenn sie meinte, vertraute Gesichter zu erkennen, um dann später festzustellen, dass sie Herrn oder Frau X mit Herrn oder Frau Y verwechselt hatte.
Einige Male schon war Renata fast sicher gewesen, Albert Lund in C. gesehen zu haben. Seine knorrige Rübezahl-Gestalt im modisch gestylten Outfit. Schwarzer Sakko. Anthrazitfarbenes Hemd. Dunkelgraue Hosen. Wie alt er wohl sein mochte? Schätzungsweise achtzig Jahre.
Warum sollte sich Herr Lund gerade in C. aufhalten? Warum auch nicht? C. war eine Großstadt in der Nähe des Harzes, in dem sich prächtig wandern ließ. Hatte er doch vor langer Zeit, als er noch unterrichtete, einen Wanderclub gegründet, in dem er mit seinem Naturkind Brigitte die Natur-Freuden genoss. Aber das war schon lange her. Vor dreißig Jahren wurde er wegen Herzbeschwerden pensioniert.
So hatte es wenigstens Renatas Mutter erzählt. In einem kleinen Nest wie Michelsberg sprach sich so etwas schnell herum. Ihr Vater, Patenonkel von Lunds Frau Brigitte, bestätigte dessen Frühpensionierung aus besagtem Grund. Warum sollte sie daran zweifeln?
Herr Studiendirektor Lund, der im Deutschunterricht von den weiblichen, Natur-kindhaften Frauengestalten Goethes schwärmte und sie in diametralen Gegensatz zu Schillers intellektuellen Frauengestalten stellte. Der nebenbei noch Ratschläge fürs Leben gab - im Unterricht natürlich. Dass nämlich der Mann der Frau in der Ehe geistig überlegen sein müsse. Sonst sei die Ehe zum Scheitern verurteilt. Anscheinend sprach er aus Erfahrung, war ihm doch seine erste studierte Frau davon gelaufen.
Er hatte sich bald mit Brigitte Gelhorn getröstet. Sie war zwanzig Jahre jünger als er und Stenotypistin. Er hatte sie jedoch nicht als Stenotypistin, sondern als Fastnachtsprinzessin kennen gelernt. Er selbst war, um den kleingeistigen Spießern seinen freien Geist zu beweisen, als Fastnachtsprinz aufgetreten. Kurze zeit später war Brigitte in anderen Umständen und Lund - im Gegensatz zu Faust - heiratswillig. Auch Lunds erste Frau, die Davongelaufene, willigte sogleich in die Scheidung ein. Sie schickte sogar Babysachen zur Hochzeit, zu der auch Renatas Eltern eingeladen waren.
Trotz ihrem Deutschlehrer Albert Lund hatte Renata Germanistik studiert. Wenn auch jener in seinen Kommentaren unter ihren Aufsätzen ihr Erzähl-Talent bescheinigte, so strotzten die Seiten meist von Randbemerkungen wie "Jetzt platzt mir gleich der Kragen".
Was ihn beim Lesen ihrer Aufsätze in Rage versetzte, wusste Renata
nicht mehr. Vielleicht, weil sie das i-Pünktchen mitunter nicht genau über das i, sondern ein paar Buchstaben später oder früher setzte? Oder doch eher, weil sie es wagte, ihre eigenen Interpretationsversuche zu Papier zu bringen? Anstatt seine eloquenten Erläuterungen wiederzugeben? Häufig pflegte er ihre Schrift zu bemängeln, wobei er es nicht versäumte, auf die Beziehung zwischen Schrift und Charakter hinzuweisen.
Während ihres letzten Schuljahrs war ihm der Karriere-Sprung vom Oberstudienrat zum Stellvertretenden Direktor gelungen, da er sich für den Neubau eines Vollgymnasiums am Ort eingesetzt hatte. Eine wegen ihrer untadeligen Schrift von ihm gerühmte Klassenkameradin sollte beim ersten Spatenstich ein Gedicht aufsagen. Nicht irgendeines, auch nicht eines von Schiller oder Goethe, sondern ein von Lund selbst verfasstes:
"Freudig, oh Freunde, nun feiert den festlichen Tag.
Da wir nach banger Erwartung Gewissheit nun sehn..."
"Albert von Lund" knurrte Siggi Lagger, als Lund mit ernster Miene die ersten Zeilen zu deklamieren begann. Natürlich prustete die ganze Klasse los. Lunds Gesicht wurde kummervoll, während er das Kinn gegen den dürren Hals presste. "Kulturbanausen" hörte Renata, die in der ersten Reihe saß, ihn murmeln.
Wenige Wochen später wurde Siggi Lagger zum Direktor zitiert. Warum, wusste niemand so genau. Man munkelte, dass er Kondome in die Schule mitgebracht habe. Ein paar Wochen später flog er dann von der Schule.