september (vier haikuartige fünfsiebenfünf-dreizeiler)

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  • Ersteller Gelöschtes Mitglied 15780
  • Erstellt am

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Hansz,

zuerst möchte ich anmerken, dass ich kein fanatischer Verfechter der strengen Regeln des Haiku bin.
Mir kommt es auf die Worte und die Aussage an. Es muss etwas bei mir ankommen und das ist hier absolut der Fall.

Nach meinem Verständnis geht es hier nicht um September und den beginnenden Herbst, sondern um die vergängliche und schnelllebige Zeit.
Ich würde nur die Reihenfolge der Dreizeiler umstellen.
Wenn man die einzelnen Dreizeiler durchnummeriert, würde mir die Reihenfolge 3-2-4-1 besser gefallen.
Bei der Ausführung hast du ansonsten wieder gezeigt, dass du ein Meister der Worte bist.


Liebe Grüße
Manfred
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4] september


zeitung von gestern
heiszt es am abend früh schon
dämmerungsmüde

altpapier stapel
im karton zerfaltete
birken grau rinde

zeitgenau springen
die straszenlampen an zum
angelus läuten

das laubwerk dunkelt
die sinkende sonne kennts
morgenblatt nicht mehr
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Habs sofort, lieber Franke,
probiert, umgesetzt. Ich lasse sonst immer alles so, wie es mir "gekommen ist". Aber nun so, wie von Dir vorgeschlagen.

Das "angelus läuten" war ursprünglich die Gesamthaiku-Pointe der vier Strophen. Jetzt gibt es einen Sprung ins kalte Wasser von dem Altpapierstapel, schon vorweg geahnt durch die Birkenrinde, die zunächst ja noch metaphorisch für die Zeitungsblätter stehen kann, in eine sinnlich präsente Situation, wo im Radio die Nachrichten beginnen und gleichzeitig die Glocke der nahen Kirche über den Balkon tönt.
Und es bedeutet, daß die nun vierte Strophe das Ganze zusammenfaßt, und das mit einer Schwermut, zugleich auch alles los lassender Resignation, die einer Gesamthaiku-Quintessenz zum Fazit (zum "macht's") dient.

grusz, hansz
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Allerdings fällt mir nun um so mehr auf, daß die Strophen ursprünglich eine zeitliche Reihenfolge, eine logische Entwicklung dargestellt haben: So werden die Straßenlaternen gewiß erst anspringen, nachdem die Sonne untergegangen ist.
Das Dunkeln des Laubs geschieht über eine längere Zeitstrecke im Spätsommer, es hat mit der Dämmerung weniger zu tun.

Die ersten drei Strophen gingen in immer abstraktere Grautöne, und im letzten Moment wird die Zeit so abstrakt wie eine Uhr, und so konkret wie eine Uhr, punktgenau.

Ich stelle die Strophen wieder um.

Oder?
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4] september


das laubwerk dunkelt
die sinkende sonne kennts
morgenblatt nicht mehr

altpapier stapel
im karton zerfaltete
birken grau rinde

zeitung von gestern
heiszt es am abend früh schon
dämmerungsmüde

zeitgenau springen
die straszenlampen an zum
angelus läuten
 
G

Gelöschtes Mitglied 21884

Gast
Ja, es sind Haiku, und deshalb hätte oben problemlos September / eine Haikusequenz stehen können.

Mutig hat der Autor die strenge 5-7-5 Architektur gewählt, durchaus ungewöhnlich, da im Allemeinen freie Strophenformen für eine Sequenz verwendet werden. Aber klug, dass diese nur kurz gehalten ist, normalerweise sind Sequenzen mind. doppelt so lang (was ich persönlich bevorzuge). 17-Silber ermüden schnell, weil in ihnen eine Ballung des Inhalts vorliegt, da sollte man sich kürzer halten.

Die von Franke vorgeschlagene Reihung ist richtigerweise zurückgenommen worden - allerdings sollte 3 nach 1 geschoben werden, 1 käme so auf 2 und die 2 auf 3. Das Angelus-Läuten ist der Tagesabschluss und kann nur auf 4 stehen.

zerfaltete ... birken grau rinde - wohl nicht haikugängig, aber dem Sprachbedürfnis des Autors geschuldet. Geschmackssache ... Auch dämmerungsmüde ist nicht ungefährlich, hier liegt Ambivalenz vor: müde, weil es schon dämmert, aber auch der Dämmerung müde (jemand will noch was unternehmen).
Das Altpapier hätte ich nicht einfach in Kartons 'versteckt', sondern als gestapelt und geschnürt sichtbar etwa an das Gartentor gestellt - als Sinnbild einer abgeschlossenen Tagesarbeit. Dann läuten die Glocken ...

Ein interessanter Weg in dieser Sequenz ...


Béla
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Eine gute Besprechung, dankeschön, Béla!

Solche aufgelösten Komposita wie die von Dir gesondert angemerkte "birken grau rinde" kommen bei mir ziemlich oft vor, gerade dann, wenn ich die Wörter auseinandernehme ("analytische Dekomposition") und dabei die deutschen Schreib- und Grammatikregeln mißachte und die englische Getrenntschreibung der Komposita übermehme, wobei die Kompositionsglieder ohne Endung "nackt" dastehen (hier: "grau" statt "graue"). So ein Hintereinander der Wortstämme kann prädikationslos fließen, vor allem dann, wenn Prädikatsnomina ohne ein "ist" oder "sind" (also elliptisch, ohne Kopula) offenbleiben. Bei nichtflektierenden Sprachen schweben dann die Wortarten zwischen Adjektiv, Substantiv und sogar Verb fast unbestimmt, eben "offen", und das ist einerseits flach wie ein japanischer Farbholzschnitt und andererseits unmittelbar, unvermittelt, logikarm, präsent, "haiku".

grusz, hansz
 



 
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