Sie werden leben, wenn ich tot bin. Manchmal zweifle ich daher, ob ich geeignet bin für eine Arbeit mit Kindern. Denn ich habe Angst, dass ich irgendwann deswegen umkomme vor Neid. Noch fehlt er. Aber ich warte auf ihn, seit ich 5 bin, seit mir beim Anblick eines Säuglings zum ersten Mal dieser Gedanke gekommen ist.
Wir warten nur noch auf die Eltern, auf großen, weißen Plastik-Stühlen unter einem weißen Sonnenschirm und wolkenlosem Himmel. Die Kinder sind nach dem Tennis glücklich ermattet und, weil sie gerade einen durch Hitze und Anstrengung mordsmäßigen Durst gestillt haben, höchst befriedigt, alles im Lot, die Welt ist eine Kinderschokolade-Werbung und die Gespräche plätschern friedlich dahin. Wir sind gerade bei den Spiel- und Sportverletzungen – gebrochene Knochen, genähte Lippen und Gehirnerschütterungen – ein unschlagbares Thema bei dermaßen aktiven Kindern; jedes steuert stolz etwas aus dem eigenen Erfahrungsschatz bei. Da zeigt mir die Kleine ihre Narbe. Ein schwarzer Punkt auf der Fingerkuppe, eintätowiert für die Ewigkeit – wie man ihn davonträgt, wenn einem der Sitznachbar den Bleistift in den Finger rammt. Hab ich schon öfter gesehen, scheint gängige Praxis – die obligatorische Bleistiftnarbe. Trotzdem: „Wie ist das denn passiert?“ Fröhlich: „Meine Freundin! Die hat mich gestochen! Fies nicht?“ – „Aber warum denn das?“ Achselzuckend: „Weil sie so wütend war.“ – „Und warum war sie gar so wütend?“ – Ihr Blick verschattet, ihre Antwort ist ein schwarzes Loch, schluckt das Licht und saugt alle Sonne aus der Szene.
„Weil ihre Mama heuer gestorben ist.“
Gewöhnlich brauchen kleine Mädchen nicht so triftige Gründe, um verletzend zu sein.
Ein Spielzeugmuseum, hinten ein großer Garten – 1000 phantasieanregende Spielideen, Barfußpfad, Holzfällerstation, Baumstammparcours, Zirkusskulisse, alles im Preis inbegriffen. Die beliebteste Attraktion ist ein kleines, grelles Plastikkarussell vor dem Eingang, für das man einen Euro einwerfen muss. 3 Mädchen sind schon seit Stunden dabei, hier ihr gesamtes Vermögen zu verbraten, Prinzessin und Gefolge: eine Plumpe-Laute, und eine Leise-Zarte. Die Leise immer dekorativ daneben, die Plumpe am Machen, setzt die Rechte ihrer Königin gegen die anderen Kinder durch. „Jetzt sind aber wieder wir dran, ihr wart schon dreimal! Nicht anschieben! Das wird so kaputt, hat die Frau gesagt, man muss zahlen, sonst geht das nicht. Und die da fährt jetzt nicht mit, die soll mal selber zahlen. Ich hab noch einen Euro, da darfst du mitfahren! Aber nur du! Du und ich. Und beim Heimfahren setzt du dich im Bus dann neben mich, ja?“. Tut sie natürlich nicht. Sie sitzt neben der Leisen.
Beim nächsten Ausflug fährt die Leise-Zarte allein mit. Ein penetrant niedliches Kind. Kindchen-Schema total. Die Hälfte des Gesichtsfeldes dominiert von den Augen. Mir schaudert. Große Augen, in zu wenig Baby-Speck eingebettet, zu tief – wie die großen Löcher im Totenschädel. Eine zu zarte Haut bedeckt ihn zu wenig. Das Mädchen schaut zum Busfernseher auf, mit seelenvollem Blick und leicht geöffnetem Mund, ganz fasziniert. Es wird gerade ein 08/15 Hollywood Kinder-Sport –Tier-Film gezeigt, ein basketballspielender Hund im Sprung beim Erzielen des spielentscheidendes Korbes. Was ist da bitte seelenvoll zu schauen? Und ich weiß, mit genau diesem seelenvollen Blick wird sie später wegen jedem Scheiß zu jedem beliebigen Typ aufschauen, sie kann gar nicht anders, es ist ihr Standard-Geschau und ich könnte aufspringen und sie schütteln: Schau nicht so seelenvoll!
Überhaupt, immer diese Kinderaugen.
Beim Töpfern vertu ich es mir mit Polly-Patent. Auch so ein niedliches Kind, aber weniger lieblich süß, mehr von der bodenständigen Niedlichkeit, wie die Hummelfiguren: rotbäckig, blond, Knopfaugen – aber wie die blitzen! Und sehr adrett, sehr geschickt, sehr ordentlich, alles im Griff, hat ihr eigenes Gefolge. Die töpfert natürlich die schönste Vase. Nachher müssen die Töpfereien aber auch noch gebrannt werden, zu diesem Zweck müssen sie zu mir gebracht und mit einer Nummer versehen werden, damit die Eltern dann in zwei Wochen auch die richtigen Stücke abholen. Polly hat ihre Nummer vorsorglich schon selber angebracht, sorgfältig in das Muster der Vase eingearbeitet. Es soll ja schön werden! Ich, gelangweilt und der Töpferei gegenüber seit jeher ignorant, bloß bestrebt, das Ganze anstandslos hinter mich zu bringen, und vor allem hauptsächlich die Stimme der Töpfertante im Ohr: Aber ja die Nummern deutlich schreiben! – ritze sie noch mal zur Sicherheit groß und fett quer über die ganze Vorderfront.
Seither weiß ich: Stahlblaue Augen sind mehr als eine abgedroschene Phrase.
Diese Pollies. Wenn man ein wenig schlampig ist und ein wenig patschert und ein wenig gedankenlos, hat man es nicht leicht mit ihnen. Erinnerungen steigen hoch, an sämtliche Pollies meiner Kindheit und ich kriege heute noch Angst. Selber müsste man dauernd im Erdboden versinken, aber diesen Pollies könnte nie was passieren. Polly Patent. Polly Perfekt.
Später ist Polly dann das einzige Kind, das nicht abgeholt wird. Wir warten mit ihr noch eine halbe Stunde und fahren sie dann selber heim. Sie wohnt in den Hochhäusern.
„Die von den Hochhäusern sind immer ein Fall für sich, das merkt man halt schon“, meint meine Kollegin. Und dass die Jugend immer mehr verroht, und dass Sitte und Anstand den Bach runter gehen und überhaupt Werteverfall, und Untergang des Abendlandes und alles, und wir konnten früher halt noch grüßen und bitte und danke haben wir auch gesagt und gewusst, was Respekt ist – das meint sie auch. Sie ist 18. Und verlobt auch schon, man wohnt bereits zusammen. Nach dem Studium wird geheiratet. Madame.
Aber bei denen von den Hochhäusern ist mitunter wirklich Obacht angebracht.
Mackie hat ein Messer und das hat er auch schon in die Schule mitgebracht. Wurde uns von den anderen Kindern erzählt. Mal mit Abscheu, mal mit Ehrfurcht. Zu unseren Ausflügen nimmt er hoffentlich keines mit, aber so genau wissen will ich das gar nicht. Außerdem schaffte er es auch ohne, Angst und Schrecken zu verbreiten. Ein brutaler kleiner Kerl. Dieser Jahr fährt er auf den Bauernhof mit, ein Ausflug, bei dem es hauptsächlich darum geht, Pferde zu bürsten, Ziegen zu melken, und Kleinvieh durch die Gegend zu schleppen. „So süß, die Küken! Und hast du schon die Hündchen gesehen? So süß! Ich mag auch mal streicheln! Gib her, ich mag das schwarze Kätzchen. Meins ist das weiß-schwarz gefleckte, das ist das Süßeste. Mama hat gesagt, wenn unsere Meerschweinchen tot sind, kauft sie uns auch eins. Hoffentlich kriegen wir es bald!“
Frage: Was will Mackie-Messer auf so einem Ausflug? Kätzchen streicheln? Mir schwant Böses.
Gestreichelt wird allerdings. Bloß keine Kätzchen. Mäckie übt sich im Nahkampf – und diesmal zur Abwechslung nicht im martialischen Sinn, sondern im Sinn der Altherrenwitze – im Sinn von - „Die liegen miteinander im Heu und er greift sie aus!“ – wie mir meine Kollegin entrüstet berichtet. Er stolze 13, sie zarte 12. Bei der Heimfahrt werden dann die Nummern ausgetauscht. Er schreibt ihr seine in das Malbuch, das sie bei der Schatzsuche gewonnen hat.
Die Schatzsuche: Die Kinder bekommen eine Landkarte, mit deren Hilfe sie losziehen, um die überall auf dem weitläufigen Grundstück verstecken Schätze einzusammeln. Meistens sind es Zuckerl, Lollies, Malbücher, Buntstifte, aber auch weniger kinderspezifische Sachen wie etwa Fliegenklatscher, Haarbürsten und Spiegel, die der Bauer irgendwo im Sonderangebot oder als Werbegeschenk aufgetrieben hat. Sie erhalten aber nicht nur 1A - 1-Euro-Shop-Wühltisch-Ramsch sondern auch eine Weisheit fürs Leben: Am Ende versammelt sie nämlich der Bauer jedes Mal feierlich alle um sich, und fragt in salbungsvollem Tone, was denn nun der größte Schatz im Leben sei.
„ Eine Sony-Playstation! Ein Barbi-Wohnmobil! Das neue Yugi-O-Kartenset“ – krähen die Kinder dann. In meinen Träumen. In der Realität rufen sie beflissen: „Gesundheit! Zufriedenheit! Freunde! Familie!“. Und zeigen womöglich vorher auf auch noch. (Wo bleibt Mäckie? Der liegt zu diesem Zeitpunkt bereits im Heu).
Und ich selbst, früher? An einem Tag hätte ich bei so einer Gelegenheit noch als erste und am lautesten Zufriedenheit gekräht. Und am nächsten schon hätte ich meine krähenden Mitkinder am liebsten geschlagen, weil sie tatsächlich so wenig Stolz hatten, so eine Frage auch noch ernsthaft zu beantworten und damit die Würde der gesamten Kinderschaft in den Dreck zogen. Dieser Schnitt vollzog sich plötzlich und durch nichts begründet und ich betrachte ihn als wichtigsten Fortschritt meiner geistigen Entwicklung.
Geistige Entwicklungen können problematisch sein. Vor allem ausbleibende.
Bis 14 dürfen sie mitfahren. Die meisten 14-jährigen nützen das Angebot nur mehr für den Kino-Ausflug, zum Glück; sie sind schwerer zu handeln. Aber der Go-Kart-Ausflug ist in dieser Hinsicht natürlich auch gefährlich. Wir wappnen uns schon einmal seelisch und entwickeln Strategien. Madame will nichts durchgehen lassen, ein Rüffel hie ein Rüffel da (Was muss ich da hören? Ficken? Schlampe? Keine solchen Ausdrücke in meiner Gegenwart! Na, ich wär schnell still, impertinentes Gfrast – sonst, sonst.. Ja, was sonst?), sie setzt auf Autorität. Schlechte Idee: Wir haben nämlich keine.
Ganz anders die zweite Kollegin: Mademoiselle. Ersten Freund vor 2 Monaten nach kurzer Romanze wehmütig wieder in den Wind geschossen. Balletttanz seit der Volksschule, das prägt. Noch beim Seniorentanzen wird sie etwas Mädchenhaftes an sich haben. Sie versucht es mit Infiltration. Fraternisieren mit dem Feind. Wir sind ja auch noch jung, wild und verwegen, wir wissen doch, was läuft – also erzählt mal, wo geht ihr so fort, was hört ihr so für Musik? – Lässt sich berichten und verteilt dann Lob und Tadel, Lob für Punkiges, Rockiges, Alternativ-Angehauchtes, Tadel für den allzu flauschigen Mainstream, denn unter Rammsteim, Metallica, den Ärzten und Gangster-Rap find sich doch auch so mancher Casting-Show-Klingelton – geizt allgemein nicht mit Aufmerksamkeit und hat sie damit voll erwischt, denn danach lechzen sie, wie Straßenköter nach Küchenabfällen.
Beim Go-Kart-Ausflug fährt sie mit, nicht Madame. Könnte klappen. 2 Fans hat sie schon, Spud und Sickboy. Die beiden sitzen mit uns im integrierten Gastronomiebetrieb, am Tisch mit Blick auf die Bahn, während sie warten, bis sie an der Reihe sind. 3 Mal darf jeder, außer dem Kleinsten, der ist umsonst mitgefahren, denn er erfüllt nicht die Sicherheitsbedingungen, würde unter dem Gurt durchrutschen. An sich ausführlich nachzulesen in der Broschüre, die wir zu Ferienbeginn ausgeben, haben die Eltern mal wieder nicht aufgepasst. Jetzt steht der Kleine den ganzen Tag am Rand der Bahn und schaut den anderen Kindern sehnsüchtig nach, wie sie davon fetzen. Eigentlich sollten wir neben ihm stehen, ihn trösten, schauen, dass er sich nicht zu sehr langweilt. Stattdessen lassen wir uns von Spud und Sickboy ihre umfangreiche Kollektion an mit dem Handy aufgenommenen Photos von davonfahrenden Polizeiautos zeigen. Und da heißt es immer, die Jugendlichen würden heute nur mehr vorm Fernseher oder vorm Computer vergammeln und hätten keine Outdoor-Hobbies mehr. Auf dem Stadtplatz treffen sie sich jedes Wochenende zum Vorglühen, da darf seit neuerstem kein Alkohol mehr getrunken werden, wird uns berichtet, schön, na, das sollen sie mal durchsetzen, werden schon sehen, jetzt erst recht! Ihr könnt uns ja verpetzen, wenn ihr wollt, verpetzt uns ruhig. Wir denken gar nicht dran. Es ist ein Spiel. Na seid ihr jetzt geschockt? Und jetzt? Und jetzt? Und jetzt? So leicht nicht, meine Herren! Wir lassen sie auch rauchen, mein Gott, sie sind 14. Von unseren Leuten haben die meisten mit 14 auch schon geraucht, oder nicht? Aber ein Bier holt euch bitte keines. Der Herr von der Gemeinde ist auch mit und könnte jederzeit reinkommen, eine Tschick kann man da leicht ausdämpfen, aber ein Bier…
Sie werden zutraulich. Sie erzählen uns alles. Wesentlich mehr, als wir wissen wollen. Wo sie sich mit Pornos versorgen (hauptsächlich übers Internet), welche Rauschmittel sie nehmen, woher sie das Geld dafür haben (Sickboy vercheckt auf seiner Schule geschmuggelte Zigaretten aus Tschechien, nächstes Jahr kommt er auf’s Sport-BORG, er freut sich schon: größere Schule, größerer Absatzmarkt - gut fürs Geschäft; Spud mäht seinem Onkel dem Rasen, später will er mal Koch werden – Kochen ist voll geil, erzählt er mit glänzenden Augen)und wie sie sich einmal vor meiner Zeit beim Angelausflug hinten auf dem Fisch-Ausnehm-Platz eingekifft haben. Ich bin beim Fischen heuer nicht dabei, Gott-Sei-Dank.
Sie haben uns so viel erzählt, jetzt sollen wir auch. Geht ihr oft fort? Schaut ihr euch Pornos an? Hattet ihr schon mal nen Filmriss? Wie oft musstest ihr schon kotzen? Ich wette, noch gar nie! Nein, dauernd! Ihr seid doch immer vollfett, gebt es zu! Sie werden zudringlich.
Vor allem zu Mademoiselle. Eine Neckerei. Spielerisches Gerangel. Sickboy triezt sie, knufft sie, klaut ihr das Haarband. Gib es her! Er grinst nur. Ich stimme ein. Gib schon her! Und was, wenn nicht? Auf unsere Autorität zurückgreifen? Wir haben doch keine, schon vergessen? Sie versucht, ihm das Haarband zu entwinden, ein Handgemenge, da hat sie natürlich keine Chance. „Lass das!“ sagt Spud, „man haut keine Mädchen“. Ach, Spud.
Was lernen wir daraus? Doch die falsche Strategie. Meine ist besser: Wissen, dass man keine Autorität hat, aber die anderen glauben lassen, man hätte womöglich eine, indem man es nicht darauf ankommen lässt. Die klassische Kopf-in-den-Sand-Methode. Flechte spielen. Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Billig, funktioniert aber. Grundessenz: Distanz wahren! Geheiligte Distanz. Zu diesem Zweck hab ich immer ein Buch dabei. Ihr könnt Drogen dealen, Mädchen handeln, auf schwarzen Messen Babies braten – das hier ist sowieso viel interessanter.
Aber gelegentliche abgebrühte Kommentare kann ich mir dann doch nicht verkneifen.
Hachja, die Jugend. Der Wille zum Rausch und der Kampf um das Recht auf Selbstzerstörung.
„Ja, hab ich auch schon mal gemacht“ sagt Spud. „Ritzen.“ Er zeigt mir die Narben auf seinem Unterarm. „Mach ich aber jetzt nicht mehr“ versichert er treuherzig.
Auf der Heimfahrt geht das Spiel weiter. Sie setzen sich extra vor uns und drehen sich alle Augenblicke zu Mademoiselle um und wollen irgendwas. Einmal sitze da aber nur ich, denn Mademoiselle ist hinten, um einem Kind, dem schlecht geworden ist, den Kübel zu bringen. „Lass es“ sagt Sickboy. „Die mag uns nicht“.
So würde ich das nicht sagen.
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Diese Geschichte wollte ich schon seit dem Sommer mal schreiben. Ich würd mich also wirklich sehr freuen, wenn das wer durchackert, auch wenn es sich zieht, denn ich wäre wirklich bereit, daran zu feilen.
zB in Bezug auf den Titel bin ich noch unschlüssig. Vielleicht wäre schlicht "Kinder" besser?
Wir warten nur noch auf die Eltern, auf großen, weißen Plastik-Stühlen unter einem weißen Sonnenschirm und wolkenlosem Himmel. Die Kinder sind nach dem Tennis glücklich ermattet und, weil sie gerade einen durch Hitze und Anstrengung mordsmäßigen Durst gestillt haben, höchst befriedigt, alles im Lot, die Welt ist eine Kinderschokolade-Werbung und die Gespräche plätschern friedlich dahin. Wir sind gerade bei den Spiel- und Sportverletzungen – gebrochene Knochen, genähte Lippen und Gehirnerschütterungen – ein unschlagbares Thema bei dermaßen aktiven Kindern; jedes steuert stolz etwas aus dem eigenen Erfahrungsschatz bei. Da zeigt mir die Kleine ihre Narbe. Ein schwarzer Punkt auf der Fingerkuppe, eintätowiert für die Ewigkeit – wie man ihn davonträgt, wenn einem der Sitznachbar den Bleistift in den Finger rammt. Hab ich schon öfter gesehen, scheint gängige Praxis – die obligatorische Bleistiftnarbe. Trotzdem: „Wie ist das denn passiert?“ Fröhlich: „Meine Freundin! Die hat mich gestochen! Fies nicht?“ – „Aber warum denn das?“ Achselzuckend: „Weil sie so wütend war.“ – „Und warum war sie gar so wütend?“ – Ihr Blick verschattet, ihre Antwort ist ein schwarzes Loch, schluckt das Licht und saugt alle Sonne aus der Szene.
„Weil ihre Mama heuer gestorben ist.“
Gewöhnlich brauchen kleine Mädchen nicht so triftige Gründe, um verletzend zu sein.
Ein Spielzeugmuseum, hinten ein großer Garten – 1000 phantasieanregende Spielideen, Barfußpfad, Holzfällerstation, Baumstammparcours, Zirkusskulisse, alles im Preis inbegriffen. Die beliebteste Attraktion ist ein kleines, grelles Plastikkarussell vor dem Eingang, für das man einen Euro einwerfen muss. 3 Mädchen sind schon seit Stunden dabei, hier ihr gesamtes Vermögen zu verbraten, Prinzessin und Gefolge: eine Plumpe-Laute, und eine Leise-Zarte. Die Leise immer dekorativ daneben, die Plumpe am Machen, setzt die Rechte ihrer Königin gegen die anderen Kinder durch. „Jetzt sind aber wieder wir dran, ihr wart schon dreimal! Nicht anschieben! Das wird so kaputt, hat die Frau gesagt, man muss zahlen, sonst geht das nicht. Und die da fährt jetzt nicht mit, die soll mal selber zahlen. Ich hab noch einen Euro, da darfst du mitfahren! Aber nur du! Du und ich. Und beim Heimfahren setzt du dich im Bus dann neben mich, ja?“. Tut sie natürlich nicht. Sie sitzt neben der Leisen.
Beim nächsten Ausflug fährt die Leise-Zarte allein mit. Ein penetrant niedliches Kind. Kindchen-Schema total. Die Hälfte des Gesichtsfeldes dominiert von den Augen. Mir schaudert. Große Augen, in zu wenig Baby-Speck eingebettet, zu tief – wie die großen Löcher im Totenschädel. Eine zu zarte Haut bedeckt ihn zu wenig. Das Mädchen schaut zum Busfernseher auf, mit seelenvollem Blick und leicht geöffnetem Mund, ganz fasziniert. Es wird gerade ein 08/15 Hollywood Kinder-Sport –Tier-Film gezeigt, ein basketballspielender Hund im Sprung beim Erzielen des spielentscheidendes Korbes. Was ist da bitte seelenvoll zu schauen? Und ich weiß, mit genau diesem seelenvollen Blick wird sie später wegen jedem Scheiß zu jedem beliebigen Typ aufschauen, sie kann gar nicht anders, es ist ihr Standard-Geschau und ich könnte aufspringen und sie schütteln: Schau nicht so seelenvoll!
Überhaupt, immer diese Kinderaugen.
Beim Töpfern vertu ich es mir mit Polly-Patent. Auch so ein niedliches Kind, aber weniger lieblich süß, mehr von der bodenständigen Niedlichkeit, wie die Hummelfiguren: rotbäckig, blond, Knopfaugen – aber wie die blitzen! Und sehr adrett, sehr geschickt, sehr ordentlich, alles im Griff, hat ihr eigenes Gefolge. Die töpfert natürlich die schönste Vase. Nachher müssen die Töpfereien aber auch noch gebrannt werden, zu diesem Zweck müssen sie zu mir gebracht und mit einer Nummer versehen werden, damit die Eltern dann in zwei Wochen auch die richtigen Stücke abholen. Polly hat ihre Nummer vorsorglich schon selber angebracht, sorgfältig in das Muster der Vase eingearbeitet. Es soll ja schön werden! Ich, gelangweilt und der Töpferei gegenüber seit jeher ignorant, bloß bestrebt, das Ganze anstandslos hinter mich zu bringen, und vor allem hauptsächlich die Stimme der Töpfertante im Ohr: Aber ja die Nummern deutlich schreiben! – ritze sie noch mal zur Sicherheit groß und fett quer über die ganze Vorderfront.
Seither weiß ich: Stahlblaue Augen sind mehr als eine abgedroschene Phrase.
Diese Pollies. Wenn man ein wenig schlampig ist und ein wenig patschert und ein wenig gedankenlos, hat man es nicht leicht mit ihnen. Erinnerungen steigen hoch, an sämtliche Pollies meiner Kindheit und ich kriege heute noch Angst. Selber müsste man dauernd im Erdboden versinken, aber diesen Pollies könnte nie was passieren. Polly Patent. Polly Perfekt.
Später ist Polly dann das einzige Kind, das nicht abgeholt wird. Wir warten mit ihr noch eine halbe Stunde und fahren sie dann selber heim. Sie wohnt in den Hochhäusern.
„Die von den Hochhäusern sind immer ein Fall für sich, das merkt man halt schon“, meint meine Kollegin. Und dass die Jugend immer mehr verroht, und dass Sitte und Anstand den Bach runter gehen und überhaupt Werteverfall, und Untergang des Abendlandes und alles, und wir konnten früher halt noch grüßen und bitte und danke haben wir auch gesagt und gewusst, was Respekt ist – das meint sie auch. Sie ist 18. Und verlobt auch schon, man wohnt bereits zusammen. Nach dem Studium wird geheiratet. Madame.
Aber bei denen von den Hochhäusern ist mitunter wirklich Obacht angebracht.
Mackie hat ein Messer und das hat er auch schon in die Schule mitgebracht. Wurde uns von den anderen Kindern erzählt. Mal mit Abscheu, mal mit Ehrfurcht. Zu unseren Ausflügen nimmt er hoffentlich keines mit, aber so genau wissen will ich das gar nicht. Außerdem schaffte er es auch ohne, Angst und Schrecken zu verbreiten. Ein brutaler kleiner Kerl. Dieser Jahr fährt er auf den Bauernhof mit, ein Ausflug, bei dem es hauptsächlich darum geht, Pferde zu bürsten, Ziegen zu melken, und Kleinvieh durch die Gegend zu schleppen. „So süß, die Küken! Und hast du schon die Hündchen gesehen? So süß! Ich mag auch mal streicheln! Gib her, ich mag das schwarze Kätzchen. Meins ist das weiß-schwarz gefleckte, das ist das Süßeste. Mama hat gesagt, wenn unsere Meerschweinchen tot sind, kauft sie uns auch eins. Hoffentlich kriegen wir es bald!“
Frage: Was will Mackie-Messer auf so einem Ausflug? Kätzchen streicheln? Mir schwant Böses.
Gestreichelt wird allerdings. Bloß keine Kätzchen. Mäckie übt sich im Nahkampf – und diesmal zur Abwechslung nicht im martialischen Sinn, sondern im Sinn der Altherrenwitze – im Sinn von - „Die liegen miteinander im Heu und er greift sie aus!“ – wie mir meine Kollegin entrüstet berichtet. Er stolze 13, sie zarte 12. Bei der Heimfahrt werden dann die Nummern ausgetauscht. Er schreibt ihr seine in das Malbuch, das sie bei der Schatzsuche gewonnen hat.
Die Schatzsuche: Die Kinder bekommen eine Landkarte, mit deren Hilfe sie losziehen, um die überall auf dem weitläufigen Grundstück verstecken Schätze einzusammeln. Meistens sind es Zuckerl, Lollies, Malbücher, Buntstifte, aber auch weniger kinderspezifische Sachen wie etwa Fliegenklatscher, Haarbürsten und Spiegel, die der Bauer irgendwo im Sonderangebot oder als Werbegeschenk aufgetrieben hat. Sie erhalten aber nicht nur 1A - 1-Euro-Shop-Wühltisch-Ramsch sondern auch eine Weisheit fürs Leben: Am Ende versammelt sie nämlich der Bauer jedes Mal feierlich alle um sich, und fragt in salbungsvollem Tone, was denn nun der größte Schatz im Leben sei.
„ Eine Sony-Playstation! Ein Barbi-Wohnmobil! Das neue Yugi-O-Kartenset“ – krähen die Kinder dann. In meinen Träumen. In der Realität rufen sie beflissen: „Gesundheit! Zufriedenheit! Freunde! Familie!“. Und zeigen womöglich vorher auf auch noch. (Wo bleibt Mäckie? Der liegt zu diesem Zeitpunkt bereits im Heu).
Und ich selbst, früher? An einem Tag hätte ich bei so einer Gelegenheit noch als erste und am lautesten Zufriedenheit gekräht. Und am nächsten schon hätte ich meine krähenden Mitkinder am liebsten geschlagen, weil sie tatsächlich so wenig Stolz hatten, so eine Frage auch noch ernsthaft zu beantworten und damit die Würde der gesamten Kinderschaft in den Dreck zogen. Dieser Schnitt vollzog sich plötzlich und durch nichts begründet und ich betrachte ihn als wichtigsten Fortschritt meiner geistigen Entwicklung.
Geistige Entwicklungen können problematisch sein. Vor allem ausbleibende.
Bis 14 dürfen sie mitfahren. Die meisten 14-jährigen nützen das Angebot nur mehr für den Kino-Ausflug, zum Glück; sie sind schwerer zu handeln. Aber der Go-Kart-Ausflug ist in dieser Hinsicht natürlich auch gefährlich. Wir wappnen uns schon einmal seelisch und entwickeln Strategien. Madame will nichts durchgehen lassen, ein Rüffel hie ein Rüffel da (Was muss ich da hören? Ficken? Schlampe? Keine solchen Ausdrücke in meiner Gegenwart! Na, ich wär schnell still, impertinentes Gfrast – sonst, sonst.. Ja, was sonst?), sie setzt auf Autorität. Schlechte Idee: Wir haben nämlich keine.
Ganz anders die zweite Kollegin: Mademoiselle. Ersten Freund vor 2 Monaten nach kurzer Romanze wehmütig wieder in den Wind geschossen. Balletttanz seit der Volksschule, das prägt. Noch beim Seniorentanzen wird sie etwas Mädchenhaftes an sich haben. Sie versucht es mit Infiltration. Fraternisieren mit dem Feind. Wir sind ja auch noch jung, wild und verwegen, wir wissen doch, was läuft – also erzählt mal, wo geht ihr so fort, was hört ihr so für Musik? – Lässt sich berichten und verteilt dann Lob und Tadel, Lob für Punkiges, Rockiges, Alternativ-Angehauchtes, Tadel für den allzu flauschigen Mainstream, denn unter Rammsteim, Metallica, den Ärzten und Gangster-Rap find sich doch auch so mancher Casting-Show-Klingelton – geizt allgemein nicht mit Aufmerksamkeit und hat sie damit voll erwischt, denn danach lechzen sie, wie Straßenköter nach Küchenabfällen.
Beim Go-Kart-Ausflug fährt sie mit, nicht Madame. Könnte klappen. 2 Fans hat sie schon, Spud und Sickboy. Die beiden sitzen mit uns im integrierten Gastronomiebetrieb, am Tisch mit Blick auf die Bahn, während sie warten, bis sie an der Reihe sind. 3 Mal darf jeder, außer dem Kleinsten, der ist umsonst mitgefahren, denn er erfüllt nicht die Sicherheitsbedingungen, würde unter dem Gurt durchrutschen. An sich ausführlich nachzulesen in der Broschüre, die wir zu Ferienbeginn ausgeben, haben die Eltern mal wieder nicht aufgepasst. Jetzt steht der Kleine den ganzen Tag am Rand der Bahn und schaut den anderen Kindern sehnsüchtig nach, wie sie davon fetzen. Eigentlich sollten wir neben ihm stehen, ihn trösten, schauen, dass er sich nicht zu sehr langweilt. Stattdessen lassen wir uns von Spud und Sickboy ihre umfangreiche Kollektion an mit dem Handy aufgenommenen Photos von davonfahrenden Polizeiautos zeigen. Und da heißt es immer, die Jugendlichen würden heute nur mehr vorm Fernseher oder vorm Computer vergammeln und hätten keine Outdoor-Hobbies mehr. Auf dem Stadtplatz treffen sie sich jedes Wochenende zum Vorglühen, da darf seit neuerstem kein Alkohol mehr getrunken werden, wird uns berichtet, schön, na, das sollen sie mal durchsetzen, werden schon sehen, jetzt erst recht! Ihr könnt uns ja verpetzen, wenn ihr wollt, verpetzt uns ruhig. Wir denken gar nicht dran. Es ist ein Spiel. Na seid ihr jetzt geschockt? Und jetzt? Und jetzt? Und jetzt? So leicht nicht, meine Herren! Wir lassen sie auch rauchen, mein Gott, sie sind 14. Von unseren Leuten haben die meisten mit 14 auch schon geraucht, oder nicht? Aber ein Bier holt euch bitte keines. Der Herr von der Gemeinde ist auch mit und könnte jederzeit reinkommen, eine Tschick kann man da leicht ausdämpfen, aber ein Bier…
Sie werden zutraulich. Sie erzählen uns alles. Wesentlich mehr, als wir wissen wollen. Wo sie sich mit Pornos versorgen (hauptsächlich übers Internet), welche Rauschmittel sie nehmen, woher sie das Geld dafür haben (Sickboy vercheckt auf seiner Schule geschmuggelte Zigaretten aus Tschechien, nächstes Jahr kommt er auf’s Sport-BORG, er freut sich schon: größere Schule, größerer Absatzmarkt - gut fürs Geschäft; Spud mäht seinem Onkel dem Rasen, später will er mal Koch werden – Kochen ist voll geil, erzählt er mit glänzenden Augen)und wie sie sich einmal vor meiner Zeit beim Angelausflug hinten auf dem Fisch-Ausnehm-Platz eingekifft haben. Ich bin beim Fischen heuer nicht dabei, Gott-Sei-Dank.
Sie haben uns so viel erzählt, jetzt sollen wir auch. Geht ihr oft fort? Schaut ihr euch Pornos an? Hattet ihr schon mal nen Filmriss? Wie oft musstest ihr schon kotzen? Ich wette, noch gar nie! Nein, dauernd! Ihr seid doch immer vollfett, gebt es zu! Sie werden zudringlich.
Vor allem zu Mademoiselle. Eine Neckerei. Spielerisches Gerangel. Sickboy triezt sie, knufft sie, klaut ihr das Haarband. Gib es her! Er grinst nur. Ich stimme ein. Gib schon her! Und was, wenn nicht? Auf unsere Autorität zurückgreifen? Wir haben doch keine, schon vergessen? Sie versucht, ihm das Haarband zu entwinden, ein Handgemenge, da hat sie natürlich keine Chance. „Lass das!“ sagt Spud, „man haut keine Mädchen“. Ach, Spud.
Was lernen wir daraus? Doch die falsche Strategie. Meine ist besser: Wissen, dass man keine Autorität hat, aber die anderen glauben lassen, man hätte womöglich eine, indem man es nicht darauf ankommen lässt. Die klassische Kopf-in-den-Sand-Methode. Flechte spielen. Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Billig, funktioniert aber. Grundessenz: Distanz wahren! Geheiligte Distanz. Zu diesem Zweck hab ich immer ein Buch dabei. Ihr könnt Drogen dealen, Mädchen handeln, auf schwarzen Messen Babies braten – das hier ist sowieso viel interessanter.
Aber gelegentliche abgebrühte Kommentare kann ich mir dann doch nicht verkneifen.
Hachja, die Jugend. Der Wille zum Rausch und der Kampf um das Recht auf Selbstzerstörung.
„Ja, hab ich auch schon mal gemacht“ sagt Spud. „Ritzen.“ Er zeigt mir die Narben auf seinem Unterarm. „Mach ich aber jetzt nicht mehr“ versichert er treuherzig.
Auf der Heimfahrt geht das Spiel weiter. Sie setzen sich extra vor uns und drehen sich alle Augenblicke zu Mademoiselle um und wollen irgendwas. Einmal sitze da aber nur ich, denn Mademoiselle ist hinten, um einem Kind, dem schlecht geworden ist, den Kübel zu bringen. „Lass es“ sagt Sickboy. „Die mag uns nicht“.
So würde ich das nicht sagen.
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Diese Geschichte wollte ich schon seit dem Sommer mal schreiben. Ich würd mich also wirklich sehr freuen, wenn das wer durchackert, auch wenn es sich zieht, denn ich wäre wirklich bereit, daran zu feilen.
zB in Bezug auf den Titel bin ich noch unschlüssig. Vielleicht wäre schlicht "Kinder" besser?