Ich finde es ausgesprochen interessant, daß "gute Lyrik" durch Ausdünnen magerer und Farbe-Auswaschen hellgrauer Texte entstehen soll. Vor allem bei Gedichten eines Autors, der immer in seiner abstrakt-trockenen Sprache schreibt. Es erinnert mich an die Szene in Fellinis "Casanova", wo das bleiche Mädchen noch einen Aderlaß durchleiden soll und mit lieblichem Ton zu Tode seufzt.
Fehlt noch revilos Liblingskritik "zu fett".
In der Tat sind, wie üblich, Substantive ohne Satzfunktion untereinandergereiht. Ich kennzeichne mal die Substantive, die innerhalb der Verse die tragende Funktion haben:
letzter [blue]ausguck [/blue]vorm [blue]industriegürtel[/blue]
im dissonanten [blue]klangteppich[/blue]
hinter gelbem [blue]schleier[/blue]
endgültig verkeilte [blue]schubladen[/blue]
[blue]lebensstilblüten[/blue]
mit kurzweiliger [blue]erlebnisgastronomie[/blue]
[blue]extremindividualisten [/blue]als [blue]massenphänomen[/blue]
park and ride [blue]autofreiheit [/blue]zum
[blue]shoppingabenteuer [/blue]für [blue]profiladendiebe[/blue]
[blue]plakate [/blue]lächeln endgültig glück vor sich hin
ins allgemeine [blue]fußvolk[/blue]
bitte [blue]privateinfahrten [/blue]freihalten
[blue]zuwiderhandelnde [/blue]werden ungefragt abgeschleppt
[blue]stadtluft [/blue]macht frei
für [blue]abgasreiche [/blue]kein durchkommen
Mir fehlt nicht die Dünne, die interessiert mich nicht, sondern die
Bewegung und die
Spannung, die selbst dann, wenn sie die Bewegung in sich zurückhält,
Kraft ausdrückt. Das wären eher Verben als Substantive, aber nicht in isolierten Infinitiven (Hauptkrankheit der zeitgenössischen Poesiekrämpfe) oder gar in der Künstlichkeit der Partizip-Eins-Knorpel zwischen den Substantiv-Knochen, sondern
Taten von persönlichen
Tätern. Das Leben und die Wirlichkeit innerhalb des Lebens besteht weniger aus Dingen und Zuständen, als vielmehr aus Tätigkeiten und handelnden Persönlichkeiten. Es besteht nicht aus Waren, sondern aus Arbeit. Wie Musik nicht aus Tönen, sondern aus harmonischer Spannung besteht, die Melodien treibt.
Aber andererseits ist das Aderlassen seit dreißig Jahren große Mode. Und mit sinnlicher Musikalität ist bei keinem Wettbewerb ein Blumentopf zu gewinnen, sobald die Elitedünkel der stolzen Germanisten darin jurieren. Oder andere Aderlasser, Diätetiker und Fastenfetischisten. Veganer nicht zu vergessen. Es lebe der Analogkäse!
Dies nur zum Kritikergehabe in der Echoblase der Ungereimten. Die Echoblase der Modernitätsfeinde in der gereimten Fraktion ist gewiß noch bornierter, keine Frage, aber das mildert meinen Zorn über die Substantivkataloglisten in diesem Hohlplaneten nicht. Man muß sie aufpieksen, diese Seifenblasen, alle beide.