Kafkarules
Mitglied
Stolz und Leere
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, dachte der Bräutigam, als er in den Arm der Braut verschlungen aus der Kirche kam und gedankenverloren in die tiefstehende Sonne blinzelte. Während der Messe glaubte er wieder an schwarze Katzen oder den ungünstigen Einfluß des Mondes auf den Fortgang der Heirat.
Beim Hochzeitsessen wippten die Gäste ungeduldig mit dem Körper, sobald die gefüllte Kuchenplatte aus ihrer Reichweite verschwand. Einige wischten sich unablässig die Stirn oder kontrollierten mit einem verstohlenen Blick ihre Achselhöhlen. In das beständige Klappern zurückgesetzter Kaffeetassen mischte sich das hastige Abkratzen der letzten Reste von kostbaren Porzellantellern. „Jetzt gibt`s bestimmt gutes Wetter!“ schrie ein Onkel vom anderen Ende des Tisches und schlug selbst die Hände zusammen, da ihm niemand applaudieren wollte.
Der Bräutigam saß eingeklemmt in die Gespräche zweier älterer Frauen, die sich über seinen Schoß hinweg unterhielten, ohne ihn zu beachten. Die Körper der neuen Verwandten rochen nach Alkohol und zu fettem Essen. Viele lange Finger zeigten in seine Richtung, Hände wurden ihm über den Tisch entgegengeschleudert, Arme auf seinen Schultern abgelegt, Zigarren tauchten plötzlich neben seinem Teller auf. Irgendjemand wollte ihn von seinem Stuhl zerren und ihn mit wichtiger Miene und anzüglichen Gesten in einen Nebenraum zu einer Männerrunde locken. „Was mein Junge?“ schrie ihm der Brautvater aus kurzer Entfernung ins Ohr.
Als die ersten Köpfe vor Erschöpfung auf die leeren Teller gesunken waren, wurde es Zeit, neu aufzutragen. Etliche wurden an den Haaren gezogen, damit ihre Köpfe wieder perfekt auf ihren Hälsen saßen. Mit einer Zwanglosigkeit, die der Bräutigam nicht von ihr kannte, rupfte die Braut dem Hasen das letzte Fleisch von den Knochen und hielt das leere Silbertablett einem Kellner als stumme Aufforderung entgegen.
Als erste zaghafte Wünsche nach Schnaps geäußert wurden, brach die ganze Gesellschaft in Beifall aus.
Aus dem Nebenzimmer war Zigarettenqualm herübergeweht und hatte die Luft in eine stickige Mischung aus unverdauten Essensresten und verschiedenen Schweißabsonderungen verwandelt. Angesichts der Schwere ihrer eigenen Existenz begannen einige Gäste wehmütig zu werden, sie rieben sich die Hände über dem Bauch und entschuldigten sich, wenn sie die polierten Messingknöpfe des gestärkten Hemdes oder des schwarzen Jacketts öffneten. Wenn ich ein Dichter wäre, würde ich jetzt sagen, das ist der Weltschmerz, meinte ein junger Mann, von dem der Bräutigam angenommen hatte, daß ihn niemand kannte.
In einer Ecke des Ballsaals schoben sich Kellner verstohlen ein paar Mandarinenfilets in den Mund und augenblicklich entspannte sich ihre unablässig-steinerne Servier-Miene.
Eine entfernte Großtante der Braut kroch zwischen den Tischen umher und sammelte alle Essensreste vom Boden auf.
Die Braut stand permanent lachend in einer Gruppe hochgewachsener Cousins und Cousinen.
Beim Verdauungsspaziergang hatte der Bräutigam den Blick fest auf den Hut des Brautvaters gerichtet. Wolkentürme waren über das Meer hergefallen, von See her blies ein kalter Nieselregen und Windstöße fuhren den Spaziergängern ins Genick. Der Ballsaal stand als pompöse Verwerfung unerschütterlich und entvölkert in den zerrissenen Wolkenschleiern. Das grelle Licht des Kronleuchters war auf den abschüssigen Hang gefallen. Standesgemäß hatten sich die Kellner in Reih und Glied am großen Fenster aufgereiht und beobachteten den Spaziergang mit ausdruckslosen Gesichtern. Sie sind ebenso unbeweglich wie wir, dachte der Bräutigam, nur mit dem Unterschied, daß sie dafür Geld bekommen und nach Feierabend ganz anders sein können.
Die Gesellschaft ging knirschenden Schrittes im Kies, einige lenkten ihre Blicke aufs Meer, wo sie etwas entdecken wollten, was ihnen mitteilenswert erschien, andere beobachteten beim Gehen Form und Größe der Steine oder sahen sich suchend nach einer anderen Person um, wobei sie Gelegenheit fanden, ihre Krawatte zurechtzurücken und den Kopf für einen kurzen Moment zu verdrehen. Der Brautvater hatte sich von seinem Jackett befreit und es lässig über die rechte Schulter geschleudert. Die Braut tänzelte einige Meter neben der Gesellschaft am Arm des Bräutigams über ein paar große Steine, die die Flut angeschwemmt hatte. Sie entfernte, ganz gegen ihre Gewohnheit, eine ihrer Haarnadeln, brachte ihren Haarknoten zur Auflösung und stach dem Bräutigam grundlos in die Seite.
Abends schaffte der Bräutigam die Braut über die Schwelle, aber schon am nächsten Morgen, als er den steinernen Atem aus dem Schlafzimmer hörte, stand er unausgeschlafen vor dem Badezimmerspiegel und starrte minutenlang in sein jugendliches Gesicht, aus dem jedes Leben verschwunden schien.
Die Wege des hoteleigenen Parks wurden von dünnen Nebelschlieren beleuchtet, hier ist noch Nacht, dachte der Bräutigam, als er von der Dunkelheit verlockt, aus dem Schlafzimmerfenster auf das Dach der Garage gesprungen war und sich von dort in den noch nassen Rauhreif der mit Verbotsschildern abgesperrten Wiese hatte fallen lassen.
Als er die Frau auf der Bank sah, erschrak er darüber, daß er nicht der einzige Mensch im Gelände war. Die Wolldecke über ihren Knien war löchrig, ihre Hände schienen frisch vernarbt und das Haar stand ihr stachelbreit vom Kopf ab. Der Bräutigam räumte die halbleere Schnapsflache aus dem Weg, rückte an ihre Seite und zog ihren Kopf zu sich herüber. Inständig bat er die Frau, einmal tief ein- und auszuatmen, um nur für einen Moment in den heißen Atem der Fremden einzutauchen.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, dachte der Bräutigam, als er in den Arm der Braut verschlungen aus der Kirche kam und gedankenverloren in die tiefstehende Sonne blinzelte. Während der Messe glaubte er wieder an schwarze Katzen oder den ungünstigen Einfluß des Mondes auf den Fortgang der Heirat.
Beim Hochzeitsessen wippten die Gäste ungeduldig mit dem Körper, sobald die gefüllte Kuchenplatte aus ihrer Reichweite verschwand. Einige wischten sich unablässig die Stirn oder kontrollierten mit einem verstohlenen Blick ihre Achselhöhlen. In das beständige Klappern zurückgesetzter Kaffeetassen mischte sich das hastige Abkratzen der letzten Reste von kostbaren Porzellantellern. „Jetzt gibt`s bestimmt gutes Wetter!“ schrie ein Onkel vom anderen Ende des Tisches und schlug selbst die Hände zusammen, da ihm niemand applaudieren wollte.
Der Bräutigam saß eingeklemmt in die Gespräche zweier älterer Frauen, die sich über seinen Schoß hinweg unterhielten, ohne ihn zu beachten. Die Körper der neuen Verwandten rochen nach Alkohol und zu fettem Essen. Viele lange Finger zeigten in seine Richtung, Hände wurden ihm über den Tisch entgegengeschleudert, Arme auf seinen Schultern abgelegt, Zigarren tauchten plötzlich neben seinem Teller auf. Irgendjemand wollte ihn von seinem Stuhl zerren und ihn mit wichtiger Miene und anzüglichen Gesten in einen Nebenraum zu einer Männerrunde locken. „Was mein Junge?“ schrie ihm der Brautvater aus kurzer Entfernung ins Ohr.
Als die ersten Köpfe vor Erschöpfung auf die leeren Teller gesunken waren, wurde es Zeit, neu aufzutragen. Etliche wurden an den Haaren gezogen, damit ihre Köpfe wieder perfekt auf ihren Hälsen saßen. Mit einer Zwanglosigkeit, die der Bräutigam nicht von ihr kannte, rupfte die Braut dem Hasen das letzte Fleisch von den Knochen und hielt das leere Silbertablett einem Kellner als stumme Aufforderung entgegen.
Als erste zaghafte Wünsche nach Schnaps geäußert wurden, brach die ganze Gesellschaft in Beifall aus.
Aus dem Nebenzimmer war Zigarettenqualm herübergeweht und hatte die Luft in eine stickige Mischung aus unverdauten Essensresten und verschiedenen Schweißabsonderungen verwandelt. Angesichts der Schwere ihrer eigenen Existenz begannen einige Gäste wehmütig zu werden, sie rieben sich die Hände über dem Bauch und entschuldigten sich, wenn sie die polierten Messingknöpfe des gestärkten Hemdes oder des schwarzen Jacketts öffneten. Wenn ich ein Dichter wäre, würde ich jetzt sagen, das ist der Weltschmerz, meinte ein junger Mann, von dem der Bräutigam angenommen hatte, daß ihn niemand kannte.
In einer Ecke des Ballsaals schoben sich Kellner verstohlen ein paar Mandarinenfilets in den Mund und augenblicklich entspannte sich ihre unablässig-steinerne Servier-Miene.
Eine entfernte Großtante der Braut kroch zwischen den Tischen umher und sammelte alle Essensreste vom Boden auf.
Die Braut stand permanent lachend in einer Gruppe hochgewachsener Cousins und Cousinen.
Beim Verdauungsspaziergang hatte der Bräutigam den Blick fest auf den Hut des Brautvaters gerichtet. Wolkentürme waren über das Meer hergefallen, von See her blies ein kalter Nieselregen und Windstöße fuhren den Spaziergängern ins Genick. Der Ballsaal stand als pompöse Verwerfung unerschütterlich und entvölkert in den zerrissenen Wolkenschleiern. Das grelle Licht des Kronleuchters war auf den abschüssigen Hang gefallen. Standesgemäß hatten sich die Kellner in Reih und Glied am großen Fenster aufgereiht und beobachteten den Spaziergang mit ausdruckslosen Gesichtern. Sie sind ebenso unbeweglich wie wir, dachte der Bräutigam, nur mit dem Unterschied, daß sie dafür Geld bekommen und nach Feierabend ganz anders sein können.
Die Gesellschaft ging knirschenden Schrittes im Kies, einige lenkten ihre Blicke aufs Meer, wo sie etwas entdecken wollten, was ihnen mitteilenswert erschien, andere beobachteten beim Gehen Form und Größe der Steine oder sahen sich suchend nach einer anderen Person um, wobei sie Gelegenheit fanden, ihre Krawatte zurechtzurücken und den Kopf für einen kurzen Moment zu verdrehen. Der Brautvater hatte sich von seinem Jackett befreit und es lässig über die rechte Schulter geschleudert. Die Braut tänzelte einige Meter neben der Gesellschaft am Arm des Bräutigams über ein paar große Steine, die die Flut angeschwemmt hatte. Sie entfernte, ganz gegen ihre Gewohnheit, eine ihrer Haarnadeln, brachte ihren Haarknoten zur Auflösung und stach dem Bräutigam grundlos in die Seite.
Abends schaffte der Bräutigam die Braut über die Schwelle, aber schon am nächsten Morgen, als er den steinernen Atem aus dem Schlafzimmer hörte, stand er unausgeschlafen vor dem Badezimmerspiegel und starrte minutenlang in sein jugendliches Gesicht, aus dem jedes Leben verschwunden schien.
Die Wege des hoteleigenen Parks wurden von dünnen Nebelschlieren beleuchtet, hier ist noch Nacht, dachte der Bräutigam, als er von der Dunkelheit verlockt, aus dem Schlafzimmerfenster auf das Dach der Garage gesprungen war und sich von dort in den noch nassen Rauhreif der mit Verbotsschildern abgesperrten Wiese hatte fallen lassen.
Als er die Frau auf der Bank sah, erschrak er darüber, daß er nicht der einzige Mensch im Gelände war. Die Wolldecke über ihren Knien war löchrig, ihre Hände schienen frisch vernarbt und das Haar stand ihr stachelbreit vom Kopf ab. Der Bräutigam räumte die halbleere Schnapsflache aus dem Weg, rückte an ihre Seite und zog ihren Kopf zu sich herüber. Inständig bat er die Frau, einmal tief ein- und auszuatmen, um nur für einen Moment in den heißen Atem der Fremden einzutauchen.