Migration
Vor einem Jahr sind wir aus Tschechien nach Deutschland zurück gezogen. Was ich nach sechs Jahren als Heimkommen ansah, war ein Schritt in die Fremde. Doch das weiß ich erst, seit wir zwei Wochen in der „alten Heimat“ Urlaub machten.
Lange konnte ich mir meine Niedergeschlagenheit nicht erklären. Oft wollte ich über meine Heimatlosigkeit schreiben, kam damit aber nicht weit. Meine Gefühle waren eingesperrt, wie von einem Wehr aufgestaut. Ich fand weder den Schlüssel dazu, noch Hinterein- oder
-ausgänge.
Im vergangenen Herbst starb die Frau, die wegen ihrer Krankheit jahrelang Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns war. Der Erleichterung ob ihrer Erlösung folgte bei mir ein Gefühl der Nutzlosigkeit. Zwänge waren fort und wurden abgelöst durch Überlegungen, ob wir am neu gewählten Wohnort bleiben oder uns doch lieber in der Nähe unserer erwachsenen Kinder niederlassen.
Einzig unsere durch viele Höhen und Tiefen gewachsene Beziehung bot Sicherheit. Alles andere war offen, entzog mir den Boden unter den Füßen. Die daraus resultierende Unsicherheit wirkte sich körperlich aus: beim Inlineskaten brach ich mir das Radiusköpfchen am linken Ellbogen. Wenige Monate später übersah ich „einfach so“ eine Bordsteinkante und zerlegte mir beim Sturz die linke Oberarmkugel in mehrere Teile. Die nachfolgende Operation, eine Woche Krankenhausaufenthalt, drei Wochen Nachsorgeheilbehandlung in einer Kurklinik und noch weitere zwei Monate Irena (intensive Nachsorgereha) von zu Hause aus schenkten mir viel Zeit zum Nachdenken. Obwohl die Beweglichkeit noch nicht voll hergestellt ist, stehe ich nun wieder mitten im Leben.
Vor sechs Wochen ist meine Schwiegermutter von uns gegangen. Sie war 83 und schon lange lungenkrank. Manchmal ging es ihr so schlecht, dass wir überlegten, sie in ein Heim in unserer Nähe zu holen. Diese Sorge wurde uns genommen. Weil mein Schatz nach vielen Jahren, in denen wir seine kranke Frau pflegten, eine Anstellung in seinem früheren Beruf gefunden hat, wissen wir auch, wo wir bleiben: in der kürzlich gekauften Eigentumswohnung hier um die Ecke. Seine 13jährige Tochter fühlt sich im Gymnasium wohl, die Umstellung von der tschechischen Dorfschule bereitete ihr weder sprachliche noch freundschaftliche Probleme.
Trotzdem war sie die treibende Kraft für den Urlaub in der „alten Heimat“. Obwohl ich im Hinblick auf den bevorstehenden, hoffentlich letzten, Umzug nicht mitkommen wollte, bin ich nun froh, auch dort gewesen zu sein: die Eindrücke öffneten die verklemmten Gefühlsschleusen; machten mir bewusst, dass der Abschied von Václavovice nie richtig stattgefunden hat.
Die vertraute Landschaft verursachte unerwartet Herzschmerzen. Ich fühlte mich, als sei ich heimgekommen. Die positiven Veränderungen an den Häusern freuten mich. Erstaunt stellte ich fest, wie sehr ich mich an den Anblick der großen, hässlichen Reklametafeln und der verrosteten Strommasten gewöhnt hatte.
Plötzlich schossen mir wieder tschechische Gedanken durch den Kopf. Dabei beherrsche ich die Sprache nur notdürftig. All die Mühe, die ich fürs Lernen aufgewendet habe, soll nicht vergebens sein. Ich kaufte gleich ein paar interessante Bücher – eines ist schon fast gelesen.
Der häufige Regen während unseres Urlaubs nervte – andererseits kam er mir wie viele, aus Vernunftgründen ungeweinte, Tränen vor. Ich habe den Aufenthalt genossen und mich verabschiedet. Das Blut in meinen Adern fließt wieder. Verloren geglaubte Gefühle drängen nach außen.
In Gedanken habe ich wichtige Erinnerungen in einen Koffer gepackt. Den werde ich gut aufheben. Ich glaube nicht, ihn noch mal öffnen zu müssen – aber es ist wichtig, ihn zu besitzen. Er enthält sechs sehr intensive Lebensjahre und damit einen Teil von mir und meiner Geschichte. Ich bin glücklich, ihn auf so unerwartete Weise wiedergefunden zu haben!