Tarlis, der Archivar

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majissa

Mitglied
Nie zuvor gab es jemanden, der ein größeres Vergnügen bei der Erfüllung seiner Pflichten gehabt hätte als Tarlis, oberster Archivar und Kurator im Palast der Missgeschicke. Nacht für Nacht saß er an seinem Schreibpult inmitten des gläsernen Pantheons und strahlte eine würdevolle, wenn nicht sogar düstere Feierlichkeit aus, die mit der des gewaltigen, auf tumhohen Säulen errichteten, Rundtempels zu konkurrieren schien. Eingehüllt in ein dunkles Übergewand arbeitete Tarlis zwischen Regalen, die rings um ihn herum so hoch emporragten, dass die obersten Ablagen, blickte man länger hinauf, aufeinander zuzustreben schienen. Denkende Treppen, geschaffen aus einem beweglichen Material, über dessen Herkunft man Tarlis stets im Unklaren gelassen hatte, schmiegten sich an die gewaltigen Stellagen und führten mal im Zickzack, mal in tollkühnen Windungen, aber nur selten über eine längere Strecke ohne die geringste Krümmung an die Spitze. Als Tarlis noch jünger war, brauchte er nur eine halbe Nacht, um nach oben zu gelangen, obwohl ein Aufstieg nie dem anderen glich. Von Zeit zu Zeit nämlich gerieten die Treppen durcheinander, kreuzten und wendelten sich neu, schoben sich wie sanfte Riesen mit bedächtigem Knarzen durch die gläserne Halle, immer darauf bedacht, den in seine Listen vertieften Archivaren an seinem Pult nicht durch ein unbesonnenes Krachen zu erschrecken, und wussten Tarlis auf diese Art und Weise von der unmittelbaren Zukunft zu berichten. Denn anhand ihrer neuen Anordnung erkannte er, der diesen Vorgang über die Jahre hinweg aufmerksam beobachtet hatte, sogleich, wie es um seinen nächsten Arbeitstag bestellt sein würde. Vor den Regalen, wo die Kreuzungen besonders dicht, die Wendelungen auffällig verspielt, aber es auch nur zu einer winzigen Überschneidung zweier Stufen gekommen war, gab es für Tarlis in der nächsten Nacht zu tun, galt es, zu jeder Unregelmäßigkeit im Treppenmuster hinaufzusteigen, um ein Missgeschick zu versenden oder auf die Rückkehr eines vollbrachten zu warten, um es sodann seiner Archivierung zuzuführen.

In seinem gläsernen Pantheon verwahrte, ordnete und sammelte Tarlis große und kleine Missgeschicke, die bis zum Zeitpunkt ihres Versands in den mächtigen Regalen zwischen lagerten und je nach Art ihres Ausmaßes einen Platz in den unteren, mittleren oder obersten Ablagen fanden. Zitternde Kalamitätenphiolen, randvoll mit verpatzten Prüfungen, teilten sich die untersten Ränge mit zahlreichen Debakelkrügen, in denen es leise zeterte. Hierin lagerten kleine Betrügereien, die darauf warteten, an ihrem jeweiligen Bestimmungsort aufzufliegen. Sonderbar geformte Dramenkelche mit entdeckten Seitensprüngen standen weiter oben als die kleinen bunten Malheurkästchen, in denen misslungene Speisen hämisch lachend auf ihren Einsatz warteten. Waldbrände, Schiffskollisionen, Flugzeugabstürze und Malariaerkrankungen sammelten sich im oberen Drittel der Regale in matt geschliffenen Fatalitätenflacons. Notstandtonnen und Tragiktruhen bargen weitaus gefährlichere Inhalte als die zu Tarlis Leidwesen langsam überhand nehmende Menge geschwätziger Schlamasselsäckchen. Wann immer ein Missgeschick nach erfolgreicher Betätigung zurückkehrte, wurde es sogleich archiviert und auf einer der vielen Listen erfasst, die in großen Stößen das Schreibpult des fleissigen Archivaren bedeckten.

In letzter Zeit war es erstaunlich ruhig gewesen. Die Treppen wechselten ihren Standort, so schien es Tarlis, mehr, um ihm eine Freude zu machen, denn um auf ein aus- oder eingehendes Unglück hinzuweisen. Den letzten, größeren Aufstieg brachte er vor einem Monat hinter sich, als es ein großes Wendelgedränge vor den Ablagen mit wartenden Kontinentalverschiebungen gegeben hatte. In jener Nacht seufzte Tarlis schwer, bevor er sich in seine Schlafkammer in der Vorhalle des Pantheons zurückzog, diesmal aber vergeblich darauf hoffte, durch das für ihn bereits zur Nachtmusik gewordene Knarzen der wandernden Treppen einzuschlafen. Lange lag er wach und blickte durch das gläserne Dach auf den anbrechenden Tag, das letzte schwache Aufglimmen vereinzelter Sterne, die, so schien es ihm, auch nicht zur Ruhe kommen wollten. Eine plötzliche Angst überkam Tarlis in seinem Gemach. Er, der um den Lauf der Dinge wußte wie kein anderer, fürchtete nicht etwa den beschwerlichen Aufstieg zu den hoch unter der Kuppel ruhenden Erd- und Nachbeben, die er in der nächsten Nacht nach Südamerika zu verschicken gedachte. Die möglichen Ereignisse nach der Katastrophe waren es, die ihm Kopfschmerzen bereiteten. So, wie die Wendelungen zusammengelaufen waren, deuteten sie auf ein noch größeres, vielleicht sogar auf das schwerste Unglück in seiner langen Zeit als Archivar und Kurator in den Hallen der Missgeschicke hin. Schon lange dauerten ihn die Menschen nicht mehr, für die er noch zu Beginn seines Amtes großes Mitleid empfand und selbst bei einer winzigen Stufenkreuzung mit bangem Herzen die Treppen hinauf eilte, um nachzusehen, ob es sich um ein kleines oder ein großes, ein ankommendes oder zu verschickendes Pech handelte. Wie groß war seine Freude, kehrte ein Waldbrand zurück, ohne dass ihm auch nur ein einziger Vogel zum Opfer gefallen war, wie unermeßlich aber sein Gram, erhielt er den Versandbefehl für einen harmlosen Sturz. Diese Zeit aber lag lange hinter ihm. Tarlis einzige Sorge galt dem möglichen Verlust seiner Verpflichtungen, mit denen er sich unwiderruflich und für alle Zeiten verwachsen fühlte.

Nach dem Versand des Erdbebens trat eine ungewöhnliche Ruhe ein, die seit nunmehr vier Wochen anhielt und Tarlis im höchsten Maße beunruhigte. Bis auf eine kleine affektierte Wendelung vor den Kelchen, in denen weibliche Eifersüchteleien köchelten, hatten die denkenden Treppen sich nicht mehr geregt und auch heute war es still um Tarlis, der sich von düsteren Gedanken abzulenken suchte und über einer Liste mit gescheiterten Blitzeinschlägen vom vergangenen Jahr brütete, die er nach sorgfältiger Bearbeitung an den zuständigen Archivaren in den Palast der glücklichen Zufälle weiterzuleiten plante . So saß er Stunde um Stunde, strich und ergänzte, seufzte und gähnte, bis ihn ein Rucken der größten Wendeltreppe unsanft aus der Ruhe riss. Tarlis blickte überrascht auf, legte die Liste beiseite und lauschte entzückt dem Knirschen sich überkreuzender Stufen hoch oben über seinem Haupt. Andere Treppen setzten sich in Bewegungen, strebten aufeinander zu und bildeten in großer Höhe verwegene Knoten. In seiner Freude über das so lange vermisste Tun bemerkte Tarlis nicht gleich, dass die denkenden Riesen sich nicht mehr wie bislang mit sanftem Knarzen an ihm vorbeischoben. Ungeachtet seiner Anwesenheit passierten sie schneller und schneller sein Schreibpult, rieben sich knirschend aneinander, taumelten, so als seien sie in höchster Eile, aufeinander zu, um sich mit einem letzten Krachen an höchster Stelle, dort, wo Tarlis die größten Tragödien auf lange Frist gelegt hatte, zu einem ensetzlichen, letzten Knoten zu vereinen.

In der nächsten Nacht machte Tarlis, oberster Archivar und Kurator im Palast der Missgeschicke, sich auf seinen beschwerlichen Aufstieg zu den nuklearen Störfällen.
 
D

dubidu

Gast
Liebe Kollegin,

eine tolle Idee.
Ich denke, du solltest sie weiterspinnen. Warum machst du nicht eine Erzählung oder gar einen Roman daraus?
Talis, der Archivar der Missgeschichte - aller vergangenen und auch der zukünftigen?

Gruß
das dubidu
 

majissa

Mitglied
Liebes Dubidu,

Majissa dankt artig fürs Lob und denkt über eine Fortsetzung nach. Tarlis wird sobald nicht arbeitslos werden. Grad plagt er sich mit einer krachvollen Lieferung mit der Aufschrift "Reformen Rot/Grün" herum und versucht verzweifelt, ein mit Kraftausdrücken um sich werfendes "Hartz-2-Paket" in Schach zu halten.

Missgeschichte gefällt mir!

Lieben Gruß
Majissa
 

Mara Krovecs

Mitglied
Hallo Majissa,

auch mich hat die Arbeit des Tarlis beeindruckt, man ist fast versucht ihm hinterherzuklettern und über seine Schulter zu schauen was er als nächstes aus den Regalen zieht.Sicher gibt es dort auch kleine Säckchen eingepackt in glänzendes Weihnachtspapier, mit schmunzelnden ;) sich selbst erfüllenden Prophezeihungen..............

also wirklich, eine unendlche Geschichte ist das, einfach toll.

Grüße aus dem Norden Mara Krovecs :)
 

majissa

Mitglied
Danke, Mara. Der gute Tarlis war eigentlich ein Experiment. Normalerweise schreibe ich schnörkelloser, hatte aber nach der Lektüre von Bernhards "Auslöschung" urplötzlich den Drang, mich in Details zu ergehen. Sowas nennt man dann wohl Inspiration. ;) Diesen Stil über mehrere Kapitel hinweg konsequent durchzuhalten, stelle ich mir indes problematisch vor.

Gewiss gibt es auch hämisch lachende Weihnachtspäckchen mit lieblos ausgesuchten Geschenken, die für familiären Aufruhr sorgen.

Freut mich, dass dir der Text gefiel.

Lieben Gruß
Majissa
 
A

AndreasGaertner

Gast
Tarlis, der Archivator

Hallo Majissa

Ich habe ein paar Geschichten von Dir gelesen und antworte Dir mal auf diese, da die Qualität Deines Geschreibsels eigentlich immer gleich gut ist.
Bemerkenswert, wie Du es vermagst, anderen Gehirnen, Bilder hineinzuprojezieren, oft mit gelungenen Vergleichen oder Metaphern.

Ich musste sofort an das Bild mit den Treppen denken, daß wohl in jedem Zeichenunterricht einmal von jedem gesehen wurde. Die Treppen, die eine jede logische Räumlichkeit
ausser Kraft setzt und at absurdum führt. Und folgt man einer Treppe mit den Augen, so läuft der Betrachter zurück
zu einem unmöglich möglichen Ziel, nämlich der Anfang jener Treppe, von wo aus das Auge das geistige Treppensteigen begonnen hatte.

Das nächste Bild: Sysiphus!

Du sorgst manchmal(..aber nicht schlimm!)aufgrund Deiner
Zuneigung zu Griechenland dafür, daß Du selbst zwischen
Deinen Geschichten und dem Leser stehst, denn nicht jeder
kennt das Griechische so gut, wie Du und kann sich vielleicht deshalb auch griechisches nicht so gut vorstellen.
Gerne hätte ich zum Beispiel mehr über die Atmosphäre während einer Mondaufhängung über dem lybischen Meer erfahren...

Manchmal verschachtelst Du Deine Sätze zu sehr, daß ist aber mein Fehler auch.

Jedenfalls lohnt es sich allein schon wegen Deiner Bilder,
die Du dem Leser zu vermitteln vermagst, was von Dir zu lesen.

Andreas
 

majissa

Mitglied
Mondaufhängung :)

Hi Andreas,

es ist wirklich erstaunlich, dass du mit einem einzigen Satz das präzisierst, was ich beim Schreiben der Texte, die Bezug zu Kreta haben, aufgrund meiner eigenen Betriebsblindheit nur verschwommen erahnte und bisher nicht konkret zu beschreiben vermochte: Unstimmigkeiten zwischen Botschaft und Wirkung, wobei die Autorin selbst zwischen Ernsthaftigkeit und Skurrilität schwankt und diese Unsicherheit womöglich auf den Leser überträgt, dem sie zudem von vornherein zuviel Hintergrundwissen unterstellt. Das hast du gut erspürt! Ich schwanke da aber immer noch...

Aber es freut mich, dass dir dieser ernsthafte Text gefallen hat, der aber eigentlich nur ein Experiment war. Man will ja wissen, wo die eigenen Grenzen liegen. Normalerweise liegt mir die Redundanz nicht.

Danke fürs Lesen und Kommentieren.

Was die "Mondaufhängung" (was meinst du da konkret?) und das Verschachteln der Sätze angeht, muss ich nochmals nachfragen.

LG
Majissa
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eine

hinreißende geschichte. wunderbare wortschöpfungen und eine reiche fantasie. gut erzählt, spannend und unterhaltend. aber es wäre noch besser, wenn es weniger schachtelsätze und eine stärkere gliederung geben würde. zwei kleinigkeiten sind mir noch aufgefallen: . . . den in seine Listen vertieften Archivaren an seinem Pult . . .
und . . . des fleissigen Archivaren bedeckten . . .
im ersten fall hast du augenscheinlich versehentlich die mehrzahl gewählt, im zweiten den fall nicht beachtet. des Archivars müßte es ja wohl heißen.
aber insgesamt hoffe ich und wünsche mir, dass du noch viel, viel mehr von diesem stoff rüberreichst.
ganz lieb grüßt
 

majissa

Mitglied
Liebe Flammarion,

es ist schön zu erfahren, dass mein Text hinreißend wirken konnte. Ich freue mich.

Wenn man in Fahrt ist, fällt einem selbst das Verschachteln gar nicht so auf. Aber ich werde es jetzt überprüfen, da du schon die zweite bist, die mich darauf aufmerksam macht.

Da mein Experiment offensichtlich Anklang findet, werde ich wohl zukünftig ab und an vom Humor Abschied nehmen und mich der Redundanz widmen.

Danke fürs Lesen und Kommentieren.

Lieben Gruß
Majissa
 
Hallo majissa!

Jetzt schreib ich doch noch einen Satz dazu, viel isses ja nicht:
Und zwar ist es der Schlusssatz, der mir nicht so gut gefallen hat. Da ist mir viel zu viel eingeklammert zwischen "machte" und "sich auf". Eine solch gewaltige Paränthese ist eine schriftstellerische Todsünde!
Ich würde das ganze so umformulieren: "Tarlis, oberster Archivar und Kurator im Palast der Missgeschicke, machte sich auf zum beschwerlichen Aufstieg ganz nach oben, wo die nuklearen Störfälle gelagert wurden."

Viele Grüße,
Alexander
 

majissa

Mitglied
Hallo Alexander,

manchmal neige ich zu ellenlangen Einschüben zwischen Objekt und Prädikat. Parenthesen liebe ich! Wie wird denn diese Todsünde eigentlich gestraft? ;)
Ich denke nun über eine Lösung nach, den letzten Satz verdaulicher zu gestalten, ohne auf die "nächste Nacht" zu verzichten.

Besten Gruß
Majissa
 



 
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