Den schlichteren Stil Rilkes liebe ich natuerlich ebenfalls. Als Musiker jedoch gefaellt mir die belebende Wirkung von Einschueben (wie im romantischen Stil Schumanns, zum Beispiel). Ein Wortkuenstler kann hier doch den Inhalt der Aussage rhetorisch zum Ausdruck bringen.
In einer Sprachlehre von W.E.Sueskind (Süskind, W.E.: "Vom ABC zum Sprachkunstwerk. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1965) sind seltsamerweise die beiden Zitate (Goethe und Wieland) als Beispiele ausdrucksstarker Wortstellung gegeben. Zunaechst, das muss ich zugeben, hat mich das Goethe Beispiel erschreckt. Dann habe ich jedoch, angeregt von Sueskind, den Paragrahen analysiert. Meine Erlaeuterungen sind etwas lang, aber vielleicht an dieser Stelle hier nicht uninteressant:
"Mein Diener hatte kaum das Notwendigste ausgepackt, als er, sich in der Stadt umzusehen Urlaub erbat; spät kam er wieder, und des anderen Morgens trieb eine gleiche Unruhe ihn aus dem Hause. Mir war dies seltsame Benehmen unerklärlich, bis das Rätsel sich löste: Die schönen Französinnen hatten ihn nicht ohne Anteil gelassen…"
Unmittelbar nimmt Goethes Sprache gefangen. Vor unseren Augen zeichnet er das Bild seines unruhigen Dieners, und wir lachen auf, erleichtert, wenn uns die "schönen Französinnen" als die Ursache seiner Unrast vorgezeigt werden. Welche künstlerischen Mittel benutzt Goethe hier? Schauen wir uns die Hauptworte an: Diener, Stadt, Urlaub, Haus, Benehmen. Nun, recht biedere Gesellen sind’s, alle aus Deutschen Landen, und nichts Bildhaftes oder Originelles strahlt von ihnen aus. Eigene Metaphern hat er sich hier nicht ausgedacht, der Goethe. "Es trieb ihn aus dem Haus", "das Rätsel löste sich", "sie hatten ihn nicht ohne Anteilnahme gelassen": dies sind Klischees. "Ohne Anteilnahme gelassen" mag uns exotisch klingen aber wohl auch nur, weil es veraltet ist. Oder haben hier die "schönen Französinnen" bereits ihren Glanz auf die "Anteilnahme" geworfen?
Nein, die Worte und Metaphern sind’s nicht. Das Bewundernswerte jedoch ist, daß es Goethe hier einzig mit dem Mittel der Wortstellung gelungen ist, die unruhige Stimmung des Bildes zu malen.
Ich werde nun ein kleines Experiment machen - sorry Goethe - und die Sätze seines Paragrahen in konventionelle Schemata zwingen:
"Mein Diener hatte kaum das Notwendigste ausgepackt, als er sich Urlaub erbat, um sich in der Stadt umzusehen. Er kam spät wieder, und des anderen Morgens trieb ihn eine gleiche Unruhe aus dem Hause. Dies seltsame Benehmen war mir unerklärlich, bis sich das Rätsel löste: Die schönen Französinnen hatten ihn nicht ohne Anteilnahme gelassen…"
So, jetzt klingt es doch bereits wie ein braver Report! Wenn wir nun beide Beispiele lesen, zunächst "Fälschung" dann Original, so werden wir fühlen, daß im Original nur der letzte Satz mit den (unsoliden?) "Französinnen" einem soliden Deutschen Satzbau entspricht. Die operativen Eingriffe, die Goethe in den anderen Sätzen vorgenommen hat, erscheinen sehr subtil, aber verblüffend ist ihr Effekt (...und so allmählich merke ich nun auch, wie der Satzbau in meinem eigenen Essay sich vom Goetheschen hat anstecken lassen).
"Kaum hatte der Diener das Notwendigste ausgepackt" als Goethe, um Unruhe in diesen "als"-Satz zu bringen, ihn recht mutwillig unter dem Vorwand eines Stadtbesuches unterbricht. Dies verletzt sowohl die gute Sitte - ein anständiger Diener rennt nicht gleich in die Stadt (Trier, übrigens, am 23. August 1791) - als auch die "gute" Grammatik. Es erregt den Leser. Eine etwas hektische, konfuse Stimmung. Dann kam Goethes Diener nicht etwa nur spät wieder sondern "spät kam er wieder". Einen recht starken Akzent setzt Goethe hier auf das Adverb "spät", indem er es an den Anfang, den Kopf des Satzes setzt; und dann, "des anderen Morgens", treibt "die gleiche Unruhe" das Pronomen "ihn" vom Zeitwort "trieb" hinweg und treibt es somit fast schon "aus dem Hause".
Hier nun reißt Goethe uns gewaltsam aus der Welt seines Dieners. Er selbst ist es, Johann Wolfgang Freiherr von Goethe, der sich nun als "Mir" in den Salon und gegen dieses seltsame Benehmen seines Dieners stellt. Hier, in dem fast schon brutalen Aufeinanderprallen des Herren auf seinen Diener, erhöht Goethe die Spannung, die er dann auf so galant ironisierende Weise mit den "schönen Französinnen" wieder löst - ein Trugschluß würde man sagen, in der Musik.
Die raffinierte Manipulation der Wortstellung dient hier (fast schon wie der unruhige Diener) als rhetorisches Ausdrucksmittel und Goethe gelingt es so recht frisch und munter, uns, seine Leser, in sein Bild zu führen (verführen?), uns darin gefangen zu halten…, und dann sanft wieder hinauszuwerfen. Nicht Mittel der Logik ist die Grammatik hier. Kein braver Report. Ihr rationales Gefüge läßt sich anstecken, infizieren und inspirieren von der Eingebung selbst und versucht nun, das Bild als rhythmische Bewegung mitzuzeichnen.