Totgeschrieben - 1. Schriftstellerin

xavia

Mitglied
1. Schriftstellerin

Toni trifft ihren Traum-Mann

Geschafft: Zufrieden schrieb sie unter den Text: »Ende«. Davon hatte sie schon geträumt, seit sie lesen konnte: Selbst etwas schreiben! – Einen Roman! So viele Menschen denken, das sei eine Kleinigkeit, sich eine Geschichte auszudenken und sie aufzuschreiben. Sie wusste nun, dass das nicht stimmt. Man hat eine Idee, fängt an, eine Weile lang geht es ganz gut, aber dann stockt es plötzlich.
[ 5] Man weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, eben waren die Figuren noch munter und lebendig und führten ihr Eigenleben, das man nur niederzuschreiben brauchte und dann auf einmal kommt es einem vor, als hätte man mit dieser Geschichte gar nichts mehr zu tun. Als wäre jedes Wort, das man hinzufügt, ein Fremdkörper. In solchen Situationen hatte sie ihre Geschichte oft traurig beiseite gelegt nicht wieder in die Hand genommen.
[ 5] Aber dieses Mal sollte es anders kommen. Sie hatte ihren Drang, zu schreiben, dazu genutzt, ihren Traum-Mann zu erschaffen. – Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen?
[ 5] Jedes Mal, wenn sie mit einem Mann ausging, steuerten sie auf dieselbe Katastrophe zu. Es funktionierte einfach nicht. Die Männer verhielten sich alle so, wie ihre Mutter es ihr in den finstersten Farben geschildert hatte und dann kam es, wie es kommen musste: Am Anfang schwebte sie auf Wolken, man kam sich näher, man traf sich ein zweites Mal, vielleicht ein drittes Mal, kam sich noch näher und dann … Sobald sie ein Liebespaar waren, merkte sie, dass er kein Interesse an ihr hatte, sondern nur an ihrem Körper. Die Freuden der körperlichen Vereinigung wusste sie wohl auch zu schäten, aber sie war doch noch so viel mehr als nur ein Püppchen, mit dem man ins Bett gehen konnte! Ein billiges Klischee, ein Muster in ihrem Leben.
[ 5] Der Mann in ihrer neuen Geschichte war anders. Er kannte wahre, tiefe Gefühle. Sie sah ihn genau vor sich, seit sie über ihn geschrieben hatte: Groß, sportlich, aber nicht zu muskulös, sensibel, mit schönen, schlanken Händen, die wunderbar Klavier spielen konnten. Aber er spielte nur zum Spaß, hatte diese künstlerische Ader, aber auch Intelligenz, Scharfsinn, Witz.
[ 5] Sein Beruf? Psychologe. Psychotherapeut. Ja, ein Therapeut und natürlich waren alle seine Patientinnen in ihn verliebt. Aber er, der Profi, hielt das aus, wahrte die professionelle Distanz, die nötig ist, um einen Menschen zu begleiten, wenn er zu sich selbst finden will. Die ›Richtige‹ hatte er natürlich noch nicht gefunden und er suchte sie nicht unter seinen Patientinnen. Insgeheim hatte sie sich vorgestellt, dass sie die Eine sein würde. So würde es wohl allen ihren Leserinnen gehen. Gut so! – Sie wollte das Buch ja schließlich auch verkaufen.
[ 5] In ihrer Geschichte ging es aber gar nicht in erster Linie um diesen Mann, sondern um eine seiner Patientinnen, eine traurige, zarte junge Frau mit blassem Gesicht und langen schwarzen Haaren, die Schlimmes durchgemacht hatte und noch durchmachte und die darum kämpfte, nicht im Sumpf ihrer Erinnerungen zu versinken, sondern sich vor diesem Hintergrund dem Leben zuzuwenden.
[ 5] Über diese Frau hatte sie so leicht schreiben können wie in ihr eigenes Tagebuch. Dabei ähnelte ihr diese Unglückliche überhaupt nicht: Im Gegensatz zu jener hatte sie selbst eine eher robuste und stämmige Natur, sowohl körperlich als auch seelisch, hatte kräftiges, etwas störrisches, hellbraunes Haar und fröhliche braune Augen, ein paar Sommersprossen auf ihrer Stupsnase, eine glückliche und behütete Kindheit hinter sich und hoffentlich eine Karriere als Bestseller-Autorin vor sich.
[ 5] Tonis Gedanken kehrten zu ihrem Traum-Mann zurück. Sie stellte sich vor, dass er im Grunde seines Herzens ein fast schüchterner Mensch war, ganz anders als in seiner Praxis. Er schien sich seiner Schönheit nicht bewusst zu sein, obwohl er doch an jedem Morgen in diese strahlend grünen Augen blicken musste, wenn er in den Spiegel sah, das wellige blonde Haar kämmte, und das ein ganz klein wenig, aber nicht zu sehr, eigenwillige Kinn rasierte. Wenn er die leicht gebräunte Haut mit einem wohlriechenden Aftershave belebte … Ja, sie sah ihn da stehen, noch mit nacktem Oberkörper, wie er seinen Tag begann. Sie konnte ihn sogar riechen! Diese private Seite von ihm blieb ihr Geheimnis. Das teilte sie nicht mit ihren Leserinnen.
[ 5] Die kannten ihn nur als den Mann hinter dem Schreibtisch, den Mann neben der Couch, der zuhören konnte, der Rat wusste, aber sich nicht aufdrängte, den Magier, bei dem Probleme sich auflösen konnten, ohne dass man wusste, wie er das angestellt hatte, der einem das Gefühl geben konnte, das alles ganz allein bewältigt zu haben. Oder der einem das Gefühl gab, einem so lange zur Seite zu stehen, wie man es brauchte, der einen niemals im Stich ließ, immer da sein würde. Immer verständnisvoll, grenzenlos geduldig.

Genug geträumt, Toni! Zurück in die Realität! Sie nahm den Stapel Papier aus dem Drucker und schob ihn in den bereitliegenden Umschlag, der schon lange mit der Adresse eines Verlags und ihrem Absender beschriftet und frankiert auf ihrem Schreibtisch lag. Als Motivation. Und um sie daran zu hindern, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen, wenn ihre Geschichte fertig sein würde. Der Umschlag hatte einen Kleber, den man schmecken konnte. Sie hatte lange danach suchen müssen, die meisten waren heutzutage selbstklebend, wie die Briefmarken. Eine Unsitte! Sie fand es wichtig, an dem Kleber zu lecken, damit sie sich immer daran erinnern konnte, an den Geschmack des Erfolgs.
[ 5] Dieser Tag würde ihr im Gedächtnis bleiben als der Anfang eines neuen Lebensabschnitts: Der 19. April 2018, ein Donnerstag. Ein schöner, sonniger Tag, der nicht nur den Frühling sondern sogar schon den Sommer ahnen ließ. So hatten die Meteorologen ihn angekündigt und so sah es aus, wenn sie aus dem Fenster guckte. Der Geburtstag von Toni von Berg, Autorin, alias Antonia Gutenberg, Bibliothekarin. Aufgeregt schlüpfte sie in eine leichte Jacke, zog die Haustür hinter sich zu, sprang die Treppe hinunter und rannte fast die Straße entlang, um den nahen Briefkasten zu erreichen, der hinter der nächsten Kreuzung stand und mittags geleert werden sollte.
[ 5] Als sie um die Ecke bog, lief sie geradewegs einem Mann in die Arme, der ihr entgegenkam. Peinlich. Sie trat zurück, murmelte eine Entschuldigung, mochte gar nicht aufblicken. Da roch sie das Aftershave, sein Aftershave, sah zu ihm hoch und erstarrte.
[ 5] »Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!« sagte er lachend, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war, wohl um zu sehen, ob sie verfolgt wurde. Immer noch lächelnd und mit den Worten »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen« setzte er seinen Weg fort, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen.
[ 5] Sie stand da wie vom Donner gerührt, war unfähig, etwas zu sagen und hielt ihren dicken Umschlag vor der Brust an sich gepresst: Das war er!

Mit weichen Knien wankte sie zum Briefkasten, warf ihr Manuskript ein – sie hatte es sich fest vorgenommen, es gab keinen Weg daran vorbei, nicht einmal das Erscheinen ihres Traum-Mannes – und setzte sich auf die Schwelle eines Hauseingangs, um nachzudenken.
[ 5] Die Kälte, die durch ihre Jeans kroch, erinnerte sie daran, dass ihr Vater es ganz und gar nicht mochte, wenn sie sich auf kalten Stein setzte, nicht mal für einen kurzen Moment. ›Nur einen Augenblick, bis ich einen Plan habe‹, besänftigte sie in Gedanken ihre väterliche innere Stimme und blieb sitzen.
[ 5] Sie musste ihn kennenlernen, musste ihn erobern. Unbedingt. Aber wie? Wäre sie doch nur hinter ihm hergelaufen, hätte beobachtet, wohin er gegangen ist! Nun konnte sie nur hoffen, dass er nicht zufällig oder gar einmalig hier herumgelaufen war. Andererseits wäre er ihr doch sicherlich früher schon aufgefallen, wenn er in der Gegend wohnte. Vielleicht sollte sie ihm einfach am nächsten Tag um dieselbe Zeit auflauern. Sie hatte den Rest der Woche Urlaub, vorsichtshalber, um ihren Roman zu beenden. Nun wurde der entstandene Freiraum genutzt, die Detektivin in ihr erwachte: Das Leben konnte so aufregend sein!
[ 5] Sie brauchte unbedingt jemanden, um diese brisanten Neuigkeiten zu berichten. Blöd nur, dass ihre beste Freundin Sarah heute bis 19 Uhr in der Bibliothek arbeiten musste. Das war wirklich kein geeigneter Ort, um Neuigkeiten zu berichten, die Regale hatten Ohren. Eine SMS an Sarah würde sicherstellen, dass sie wenigstens nach Feierabend verfügbar wäre:

treffen 19:05h bei pete: sensation!!!

Das reichte, Sarah war neugierig. So weit, so gut. Und nun? Was tun mit der freien Zeit? Sie stand auf, lief ziellos auf und ab, blieb stehen, sah sich um. Er würde wohl kaum den Weg zurückkommen, den er gerade erst gegangen war? Oder doch? Man konnte ja nicht wissen. Aber er durfte sie nicht wieder so auf der Straße treffen, er musste ihr ganz zufällig an einem Ort begegnen, der ihm Gemeinsamkeit signalisierte und ihr mehr Würde verlieh als beim achtlosen Auf-der-Straße-Herumrennen. Wie findet man einen Menschen, von dem man nur weiß, wie er aussieht? In eine Suchmaschine kann man einen Namen eingeben und bekommt ein Bild. Meistens. Aber umgekehrt? – Ja, wenn sie über die Such-Funktionen der Polizei verfügen könnte … Rasterfahndung … Bilderkennung … Andererseits: Vielleicht sah er ja nicht nur so aus wie ihr Roman-Traum-Mann, vielleicht hatte er ja auch denselben Beruf?
 

ahorn

Mitglied
Hallo Xavier,

wie von dir zu erwarten ein guter und runder Text, der mir beim ersten Lesen bereits gefällt.

Ein paar Sachen vielen mir auf. Der eine oder andere Absatz mehr wäre beim Lesen von Vorteil.

Bleibe erst recht am Anfang bei Toni. Umschiffe ihre Gedanken nicht mit »man«, oder was andere denken. Sie ist stark genug.

geschafft: Zufrieden schrieb sie unter den Text: »Ende«. Davon hatte sie schon geträumt, seit sie lesen konnte: Selbst etwas schreiben! – Einen Roman! So viele Menschen denken,
Zufrieden schrieb sie »Ende« unter den Text. Geschafft! Ihr Traum war in Erfüllung gegangen. Seitdem sie lesen konnte ein Ziel vor Augen, schreiben - einen Roman! Sie hatte geglaubt, es sei eine Kleinigkeit. - Absatz- Erklärung warum!

Überprüfe Bandwurmsätze! Bei denen der Leser den Faden verlieren kann. Wie zum Beispiel:
Man weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, eben waren die Figuren noch munter und lebendig und führten ihr Eigenleben, das man nur niederzuschreiben brauchte und dann auf einmal kommt es einem vor, als hätte man mit dieser Geschichte gar nichts mehr zu tun. Als wäre jedes Wort, das man hinzufügt, ein Fremdkörper.
Im Gegensatz zu jener hatte sie selbst eine eher robuste und stämmige Natur, sowohl körperlich als auch seelisch, hatte kräftiges, etwas störrisches, hellbraunes Haar und fröhliche braune Augen, ein paar Sommersprossen auf ihrer Stupsnase, eine glückliche und behütete Kindheit hinter sich und hoffentlich eine Karriere als Bestseller-Autorin vor sich.
Er schien sich seiner Schönheit nicht bewusst zu sein, obwohl er doch an jedem Morgen in diese strahlend grünen Augen blicken musste, wenn er in den Spiegel sah, das wellige blonde Haar kämmte, und das ein ganz klein wenig, aber nicht zu sehr, eigenwillige Kinn rasierte.

Die kannten ihn nur als den Mann hinter dem Schreibtisch, den Mann neben der Couch, der zuhören konnte, der Rat wusste, aber sich nicht aufdrängte, den Magier, bei dem Probleme sich auflösen konnten, ohne dass man wusste, wie er das angestellt hatte, der einem das Gefühl geben konnte, das alles ganz allein bewältigt zu haben.
Einzelne Sätze, die mir beim ersten Studium auffielen:

Die Männer verhielten sich [Strike] alle so[/Strike], wie ihre Mutter es ihr in den finstersten Farben geschildert hatte. [Strike] und dann kam es, wie es kommen musste[/Strike]
Auf den Nebensatz kannst du verzichten, da die Erklärung folgt.

Die Freuden der körperlichen Vereinigung wusste sie wohl auch zu schäten- schätzen, aber sie war doch noch so viel mehr als nur ein Püppchen, mit dem man ins Bett gehen konnte!
Die Freuden der körperlichen Vereinigung schätzte sie, dennoch war sie kein Püppchen fürs Bett!


Der Mann in ihrer neuen Geschichte war anders.
Hat sie einen weiteren Roman geschrieben!

Aufgeregt schlüpfte sie in eine leichte Jacke, zog die Haustür hinter sich zu, sprang die Treppe hinunter und rannte fast die Straße entlang, um den nahen Briefkasten zu erreichen, der hinter der nächsten Kreuzung stand und mittags geleert werden sollte.
Aufgeregt? Und rannte fast die Straße entlang? Rannte sie nur einen Teil der Straße! Nein! Der nahe Briefkasten stand ja erst hinter der nächsten Kreuzung, denn der andere, der am Vormittag geleert wurde war näher. ;)

Als sie um die Ecke bog, lief sie geradewegs einem Mann in die Arme, der ihr entgegenkam.
Er muss ihr entgegengekommen sein! Es sei denn, er hatte seine Arme auf den Rücken.

»Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!« sagte er lachend, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war, wohl um zu sehen, ob sie verfolgt wurde. Immer noch lächelnd und mit den Worten »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen« setzte er seinen Weg fort, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen.
»Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!«, sagte mit einem Lächeln, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war. [Strike] Wohl um zu sehen, ob sie verfolgt wurde.[/Strike] (Mutmaßung, die du ihm Folgenden mit seinen Worten erklärst) [Strike] Immer noch[/Strike] weiterhin lächelnd und mit den Worten: »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen«, setzte er seinen Weg fort, ohne sich [Strike] noch einmal[/Strike] (hat er sich bereits nach ihr umgesehen?) nach ihr umzusehen.


Ich freue mich bereits darauf, wie deine Geschichte weitergeht.

Ahorn
 

xavia

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1. Schriftstellerin

Toni trifft ihren Traum-Mann

Ggeschafft! Zufrieden schrieb sie unter den Text: »Ende«. Seit sie lesen konnte, war es ihr Traum gewesen, selbst einen Roman zu schreiben. Viele denken, das sei eine Kleinigkeit, sich eine Geschichte auszudenken und sie aufzuschreiben. Antonia wusste, dass das ein Irrtum ist:
[ 5] Wie oft hatte sie eine Idee, fing an, eine Weile ging es ganz gut, aber dann stockte es plötzlich. Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war: Eben noch waren ihre Figuren munter und lebendig gewesen und hatten ihr Eigenleben geführt, das sie nur niederzuschreiben brauchte. Dann auf einmal kam es ihr vor, als hätte sie mit der Geschichte gar nichts mehr zu tun, als sei jedes Wort, das sie hinzufügte, ein Fremdkörper. In solchen Situationen hatte sie ihren Text oft traurig beiseite gelegt nicht wieder in die Hand genommen.
[ 5] Aber dieses Mal sollte es anders kommen. Sie hatte ihren Drang, zu schreiben, dazu genutzt, ihren Traum-Mann zu erschaffen. – Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen?
[ 5] Jedes Mal, wenn sie mit einem Mann ausging, steuerten sie auf dieselbe Katastrophe zu. Es funktionierte einfach nicht. Die Männer verhielten sich, wie ihre Mutter es ihr in den finstersten Farben geschildert hatte: Am Anfang schwebte sie auf Wolken, man kam sich näher, traf sich ein zweites, vielleicht ein drittes Mal, kam sich noch näher und dann … Sobald sie ein Liebespaar waren, merkte sie, dass er kein Interesse mehr an ihr hatte, sondern nur an ihrem Körper. Sie genoss die Freuden der körperlichen Vereinigung, aber das war doch nicht alles, was eine Beziehung ausmachte! – Ein billiges Klischee, ein Muster in ihrem Leben.
[ 5] Der Mann in ihrer Geschichte war anders. Er kannte wahre, tiefe Gefühle. Sie sah ihn genau vor sich, seit sie über ihn geschrieben hatte: Groß, sportlich, aber nicht zu muskulös, sensibel, mit schönen, schlanken Händen, die wunderbar Klavier spielen konnten. Aber er spielte nur zum Spaß, hatte diese künstlerische Ader, aber auch Intelligenz, Scharfsinn, Witz.
[ 5] Sein Beruf? Psychologe. Psychotherapeut. Ja, ein Therapeut und natürlich waren alle seine Patientinnen in ihn verliebt. Aber er, der Profi, hielt das aus, wahrte die professionelle Distanz, die nötig ist, um einen Menschen zu begleiten, wenn er zu sich selbst finden will. Die ›Richtige‹ hatte er natürlich noch nicht gefunden und er suchte sie nicht unter seinen Patientinnen. Insgeheim hatte sie sich vorgestellt, dass sie die Eine sein würde. So würde es wohl allen ihren Leserinnen gehen. Gut so! – Sie wollte das Buch ja schließlich auch verkaufen.
[ 5] In ihrer Geschichte ging es aber gar nicht in erster Linie um diesen Mann, sondern um eine seiner Patientinnen, eine traurige, zarte junge Frau mit blassem Gesicht und langen schwarzen Haaren, die Schlimmes durchgemacht hatte und noch durchmachte und die darum kämpfte, nicht im Sumpf ihrer Erinnerungen zu versinken, sondern sich vor diesem Hintergrund dem Leben zuzuwenden.
[ 5] Über diese Frau hatte sie so leicht schreiben können wie in ihr eigenes Tagebuch. Dabei ähnelte sie dieser Unglücklichen überhaupt nicht: Im Gegensatz zu jener hatte sie selbst eine eher robuste und stämmige Natur, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie hatte kräftiges, etwas störrisches, hellbraunes Haar, fröhliche braune Augen und ein paar Sommersprossen auf ihrer Stupsnase. Eine glückliche und behütete Kindheit lag hinter ihr und hoffentlich eine Karriere als Bestseller-Autorin vor ihr.
[ 5] Tonis Gedanken kehrten zu ihrem Traum-Mann zurück. Sie stellte sich vor, dass er im Grunde seines Herzens ein eher schüchterner Mensch war, ganz anders als in seiner Praxis. Er schien sich seiner Schönheit nicht bewusst zu sein. Dabei musste er doch an jedem Morgen in diese strahlend grünen Augen blicken, wenn er in den Spiegel sah, das wellige blonde Haar kämmte, und das eigenwillige – aber nicht allzu kantige – Kinn rasierte. Wenn er die leicht gebräunte Haut mit einem wohlriechenden Aftershave belebte … Ja, sie sah ihn da stehen, noch mit nacktem Oberkörper, wie er seinen Tag begann. Sie konnte ihn sogar riechen! Diese private Seite von ihm blieb ihr Geheimnis. Das teilte sie nicht mit ihren Leserinnen.
[ 5] Die kannten ihn nur als den Mann neben der Couch, der zuhörte und verstand, ohne seinen Rat aufzudrängen, der sie mit grenzenloser Geduld begleitete, so lange sie ihn brauchten. Sie verehrten und bewunderten diesen Magier, der Geborgenheit vermitteln konnte, ohne die professionelle Distanz aufzugeben, der ihnen schließlich das Gefühl schenkte, ihre Probleme ganz allein bewältigt zu haben.

Genug geträumt, Toni! Zurück in die Realität! Sie nahm den Stapel Papier aus dem Drucker und schob ihn in den bereitliegenden Umschlag, der schon lange mit der Adresse eines Verlags und ihrem Absender beschriftet und frankiert auf ihrem Schreibtisch lag. Als Motivation. Und um sie daran zu hindern, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen, wenn ihre Geschichte fertig sein würde. Der Umschlag hatte einen Kleber, den man schmecken konnte. Sie hatte lange danach suchen müssen; die meisten waren heutzutage selbstklebend, wie die Briefmarken. Eine Unsitte! Sie fand es wichtig, an dem Kleber zu lecken, damit sie sich immer daran erinnern konnte, an den Geschmack des Erfolgs.
[ 5] Dieser Tag würde ihr im Gedächtnis bleiben als der Anfang eines neuen Lebensabschnitts: Der 19. April 2018, ein Donnerstag. Ein schöner, sonniger Tag, der nicht nur den Frühling sondern sogar schon den Sommer ahnen ließ. So hatten die Meteorologen ihn angekündigt und so sah es aus, wenn sie aus dem Fenster schaute. Der Geburtstag von Toni von Berg, Autorin, alias Antonia Gutenberg, Bibliothekarin. Aufgeregt schlüpfte sie in eine leichte Jacke, zog die Haustür hinter sich zu, sprang die Treppe hinunter und rannte die Straße entlang, zum Briefkasten, der hinter der nächsten Kreuzung stand und mittags geleert werden sollte.
[ 5] Als sie um die Ecke bog, lief sie geradewegs einem Mann in die Arme. Peinlich. Sie trat zurück, murmelte eine Entschuldigung, mochte gar nicht aufblicken. Da roch sie das Aftershave, sein Aftershave! Sie sah zu ihm hoch und erstarrte.
[ 5] »Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!« sagte er mit einem Lächeln, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war. Überlegen lächelnd und mit den Worten »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen« setzte er seinen Weg fort, ohne sich nach ihr umzusehen.
[ 5] Sie stand da wie vom Donner gerührt, war unfähig, etwas zu sagen und hielt ihren dicken Umschlag vor der Brust an sich gepresst: Das war er!

Mit weichen Knien wankte sie zum Briefkasten und warf ihr Manuskript ein. Sie hatte es sich fest vorgenommen, daran konnte auch das Erscheinen ihres Traum-Mannes sie nicht hindern. Danach setzte sich auf die Schwelle eines Hauseingangs, um nachzudenken. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Sie saß eine ganze Weile so da, bis sich ihr innerer Aufruhr ein wenig gelegt hatte. Die Kälte, die durch ihre Jeans kroch, erinnerte sie an ihren Vater, der es ganz und gar nicht mochte, wenn sie sich auf kalten Stein setzte, nicht mal für einen kurzen Moment. ›Nur noch einen Augenblick, bis ich einen Plan habe‹, versuchte sie, ihre väterliche innere Stimme zu besänftigen und blieb sitzen.
[ 5] Sie musste ihn kennenlernen, musste ihn erobern. Unbedingt. Aber wie? Wäre sie doch nur hinter ihm hergelaufen, hätte beobachtet, wohin er gegangen ist! Nun konnte sie nur hoffen, dass er nicht zufällig oder gar einmalig hier herumgelaufen war. Andererseits wäre er ihr doch sicherlich früher schon aufgefallen, wenn er in der Gegend wohnte. Vielleicht sollte sie ihm einfach am nächsten Tag um dieselbe Zeit auflauern. Sie hatte den Rest der Woche Urlaub genommen, vorsichtshalber, um ihren Roman zu beenden. Nun wurde der entstandene Freiraum genutzt, die Detektivin in ihr erwachte. Das Leben konnte so aufregend sein!
[ 5] Sie brauchte unbedingt jemanden, um diese brisanten Neuigkeiten zu berichten. Blöd nur, dass ihre beste Freundin Sarah heute bis 19 Uhr in der Bibliothek arbeiten musste. Das war wirklich kein geeigneter Ort, um Neuigkeiten zu berichten, die Regale hatten Ohren. Eine SMS an Sarah würde sicherstellen, dass sie wenigstens nach Feierabend verfügbar wäre:
[ 8]treffen 19:05h bei pete: sensation!!!

Das reichte, Sarah war neugierig. So weit, so gut. Und nun? Was tun mit der freien Zeit? Sie stand auf, lief ziellos auf und ab, blieb stehen, sah sich um. Er würde wohl kaum den Weg zurückkommen, den er gerade erst gegangen war? Oder doch? Man konnte ja nicht wissen. Aber er durfte sie nicht wieder so auf der Straße treffen, er musste ihr ganz zufällig an einem Ort begegnen, der ihm Gemeinsamkeit signalisierte und ihr mehr Würde verlieh als beim achtlosen Auf-der-Straße-Herumrennen. Wie findet man einen Menschen, von dem man nur weiß, wie er aussieht? In eine Suchmaschine kann man einen Namen eingeben und bekommt ein Bild. Meistens. Aber umgekehrt? – Ja, wenn sie über die Such-Funktionen der Polizei verfügen könnte … Rasterfahndung … Bilderkennung … Andererseits: Vielleicht sah er ja nicht nur so aus wie ihr Roman-Traum-Mann, vielleicht hatte er ja auch denselben Beruf?
 

xavia

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1. Schriftstellerin

Toni trifft ihren Traum-Mann

Geschafft! Zufrieden schrieb sie unter den Text: »Ende«. Seit sie lesen konnte, war es ihr Traum gewesen, selbst einen Roman zu schreiben. Viele denken, das sei eine Kleinigkeit, sich eine Geschichte auszudenken und sie aufzuschreiben. Antonia wusste, dass das ein Irrtum ist:
[ 5] Wie oft hatte sie eine Idee, fing an, eine Weile ging es ganz gut, aber dann stockte es plötzlich. Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war: Eben noch waren ihre Figuren munter und lebendig gewesen und hatten ihr Eigenleben geführt, das sie nur niederzuschreiben brauchte. Dann auf einmal kam es ihr vor, als hätte sie mit der Geschichte gar nichts mehr zu tun, als sei jedes Wort, das sie hinzufügte, ein Fremdkörper. In solchen Situationen hatte sie ihren Text oft traurig beiseite gelegt nicht wieder in die Hand genommen.
[ 5] Aber dieses Mal sollte es anders kommen. Sie hatte ihren Drang, zu schreiben, dazu genutzt, ihren Traum-Mann zu erschaffen. – Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen?
[ 5] Jedes Mal, wenn sie mit einem Mann ausging, steuerten sie auf dieselbe Katastrophe zu. Es funktionierte einfach nicht. Die Männer verhielten sich, wie ihre Mutter es ihr in den finstersten Farben geschildert hatte: Am Anfang schwebte sie auf Wolken, man kam sich näher, traf sich ein zweites, vielleicht ein drittes Mal, kam sich noch näher und dann … Sobald sie ein Liebespaar waren, merkte sie, dass er kein Interesse mehr an ihr hatte, sondern nur an ihrem Körper. Sie genoss die Freuden der körperlichen Vereinigung, aber das war doch nicht alles, was eine Beziehung ausmachte! – Ein billiges Klischee, ein Muster in ihrem Leben.
[ 5] Der Mann in ihrer Geschichte war anders. Er kannte wahre, tiefe Gefühle. Sie sah ihn genau vor sich, seit sie über ihn geschrieben hatte: Groß, sportlich, aber nicht zu muskulös, sensibel, mit schönen, schlanken Händen, die wunderbar Klavier spielen konnten. Aber er spielte nur zum Spaß, hatte diese künstlerische Ader, aber auch Intelligenz, Scharfsinn, Witz.
[ 5] Sein Beruf? Psychologe. Psychotherapeut. Ja, ein Therapeut und natürlich waren alle seine Patientinnen in ihn verliebt. Aber er, der Profi, hielt das aus, wahrte die professionelle Distanz, die nötig ist, um einen Menschen zu begleiten, wenn er zu sich selbst finden will. Die ›Richtige‹ hatte er natürlich noch nicht gefunden und er suchte sie nicht unter seinen Patientinnen. Insgeheim hatte sie sich vorgestellt, dass sie die Eine sein würde. So würde es wohl allen ihren Leserinnen gehen. Gut so! – Sie wollte das Buch ja schließlich auch verkaufen.
[ 5] In ihrer Geschichte ging es aber gar nicht in erster Linie um diesen Mann, sondern um eine seiner Patientinnen, eine traurige, zarte junge Frau mit blassem Gesicht und langen schwarzen Haaren, die Schlimmes durchgemacht hatte und noch durchmachte und die darum kämpfte, nicht im Sumpf ihrer Erinnerungen zu versinken, sondern sich vor diesem Hintergrund dem Leben zuzuwenden.
[ 5] Über diese Frau hatte sie so leicht schreiben können wie in ihr eigenes Tagebuch. Dabei ähnelte sie dieser Unglücklichen überhaupt nicht: Im Gegensatz zu jener hatte sie selbst eine eher robuste und stämmige Natur, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie hatte kräftiges, etwas störrisches, hellbraunes Haar, fröhliche braune Augen und ein paar Sommersprossen auf ihrer Stupsnase. Eine glückliche und behütete Kindheit lag hinter ihr und hoffentlich eine Karriere als Bestseller-Autorin vor ihr.
[ 5] Tonis Gedanken kehrten zu ihrem Traum-Mann zurück. Sie stellte sich vor, dass er im Grunde seines Herzens ein eher schüchterner Mensch war, ganz anders als in seiner Praxis. Er schien sich seiner Schönheit nicht bewusst zu sein. Dabei musste er doch an jedem Morgen in diese strahlend grünen Augen blicken, wenn er in den Spiegel sah, das wellige blonde Haar kämmte, und das eigenwillige – aber nicht allzu kantige – Kinn rasierte. Wenn er die leicht gebräunte Haut mit einem wohlriechenden Aftershave belebte … Ja, sie sah ihn da stehen, noch mit nacktem Oberkörper, wie er seinen Tag begann. Sie konnte ihn sogar riechen! Diese private Seite von ihm blieb ihr Geheimnis. Das teilte sie nicht mit ihren Leserinnen.
[ 5] Die kannten ihn nur als den Mann neben der Couch, der zuhörte und verstand, ohne seinen Rat aufzudrängen, der sie mit grenzenloser Geduld begleitete, so lange sie ihn brauchten. Sie verehrten und bewunderten diesen Magier, der Geborgenheit vermitteln konnte, ohne die professionelle Distanz aufzugeben, der ihnen schließlich das Gefühl schenkte, ihre Probleme ganz allein bewältigt zu haben.

Genug geträumt, Toni! Zurück in die Realität! Sie nahm den Stapel Papier aus dem Drucker und schob ihn in den bereitliegenden Umschlag, der schon lange mit der Adresse eines Verlags und ihrem Absender beschriftet und frankiert auf ihrem Schreibtisch lag. Als Motivation. Und um sie daran zu hindern, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen, wenn ihre Geschichte fertig sein würde. Der Umschlag hatte einen Kleber, den man schmecken konnte. Sie hatte lange danach suchen müssen; die meisten waren heutzutage selbstklebend, wie die Briefmarken. Eine Unsitte! Sie fand es wichtig, an dem Kleber zu lecken, damit sie sich immer daran erinnern konnte, an den Geschmack des Erfolgs.
[ 5] Dieser Tag würde ihr im Gedächtnis bleiben als der Anfang eines neuen Lebensabschnitts: Der 19. April 2018, ein Donnerstag. Ein schöner, sonniger Tag, der nicht nur den Frühling sondern sogar schon den Sommer ahnen ließ. So hatten die Meteorologen ihn angekündigt und so sah es aus, wenn sie aus dem Fenster schaute. Der Geburtstag von Toni von Berg, Autorin, alias Antonia Gutenberg, Bibliothekarin. Aufgeregt schlüpfte sie in eine leichte Jacke, zog die Haustür hinter sich zu, sprang die Treppe hinunter und rannte die Straße entlang, zum Briefkasten, der hinter der nächsten Kreuzung stand und mittags geleert werden sollte.
[ 5] Als sie um die Ecke bog, lief sie geradewegs einem Mann in die Arme. Peinlich. Sie trat zurück, murmelte eine Entschuldigung, mochte gar nicht aufblicken. Da roch sie das Aftershave, sein Aftershave! Sie sah zu ihm hoch und erstarrte.
[ 5] »Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!« sagte er mit einem Lächeln, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war. Überlegen lächelnd und mit den Worten »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen« setzte er seinen Weg fort, ohne sich nach ihr umzusehen.
[ 5] Sie stand da wie vom Donner gerührt, war unfähig, etwas zu sagen und hielt ihren dicken Umschlag vor der Brust an sich gepresst: Das war er!

Mit weichen Knien wankte sie zum Briefkasten und warf ihr Manuskript ein. Sie hatte es sich fest vorgenommen, daran konnte auch das Erscheinen ihres Traum-Mannes sie nicht hindern. Danach setzte sich auf die Schwelle eines Hauseingangs, um nachzudenken. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Sie saß eine ganze Weile so da, bis sich ihr innerer Aufruhr ein wenig gelegt hatte. Die Kälte, die durch ihre Jeans kroch, erinnerte sie an ihren Vater, der es ganz und gar nicht mochte, wenn sie sich auf kalten Stein setzte, nicht mal für einen kurzen Moment. ›Nur noch einen Augenblick, bis ich einen Plan habe‹, versuchte sie, ihre väterliche innere Stimme zu besänftigen und blieb sitzen.
[ 5] Sie musste ihn kennenlernen, musste ihn erobern. Unbedingt. Aber wie? Wäre sie doch nur hinter ihm hergelaufen, hätte beobachtet, wohin er gegangen ist! Nun konnte sie nur hoffen, dass er nicht zufällig oder gar einmalig hier herumgelaufen war. Andererseits wäre er ihr doch sicherlich früher schon aufgefallen, wenn er in der Gegend wohnte. Vielleicht sollte sie ihm einfach am nächsten Tag um dieselbe Zeit auflauern. Sie hatte den Rest der Woche Urlaub genommen, vorsichtshalber, um ihren Roman zu beenden. Nun wurde der entstandene Freiraum genutzt, die Detektivin in ihr erwachte. Das Leben konnte so aufregend sein!
[ 5] Sie brauchte unbedingt jemanden, um diese brisanten Neuigkeiten zu berichten. Blöd nur, dass ihre beste Freundin Sarah heute bis 19 Uhr in der Bibliothek arbeiten musste. Das war wirklich kein geeigneter Ort, um Neuigkeiten zu berichten, die Regale hatten Ohren. Eine SMS an Sarah würde sicherstellen, dass sie wenigstens nach Feierabend verfügbar wäre:
[ 8]treffen 19:05h bei pete: sensation!!!

Das reichte, Sarah war neugierig. So weit, so gut. Und nun? Was tun mit der freien Zeit? Sie stand auf, lief ziellos auf und ab, blieb stehen, sah sich um. Er würde wohl kaum den Weg zurückkommen, den er gerade erst gegangen war? Oder doch? Man konnte ja nicht wissen. Aber er durfte sie nicht wieder so auf der Straße treffen, er musste ihr ganz zufällig an einem Ort begegnen, der ihm Gemeinsamkeit signalisierte und ihr mehr Würde verlieh als beim achtlosen Auf-der-Straße-Herumrennen. Wie findet man einen Menschen, von dem man nur weiß, wie er aussieht? In eine Suchmaschine kann man einen Namen eingeben und bekommt ein Bild. Meistens. Aber umgekehrt? – Ja, wenn sie über die Such-Funktionen der Polizei verfügen könnte … Rasterfahndung … Bilderkennung … Andererseits: Vielleicht sah er ja nicht nur so aus wie ihr Roman-Traum-Mann, vielleicht hatte er ja auch denselben Beruf?
 

xavia

Mitglied
Hallo Ahorn, wie schön, dass du meinen Text so aufmerksam gelesen hast und ein dickes Dankeschön, dass du deine Eindrücke mit mir teilst. In vielem bin ich dir einfach gefolgt. Was den ersten Satz angeht, ist mir diese Reihenfolge der Wörter allerdings sehr wichtig: »Geschafft« ist ihr erster Gedanke, als sie ihre Geschichte beendet hat und damit startet meine. Und »Ende« steht unten unter ihrem Text, kann daher nicht mitten in meinem Satz stehen, sonst fühlt es sich für mich nicht richtig an.
Die man-Formulierungen beim Schreibprozess sind raus. Ich finde auch, dass sie sich von diesen Erfahrungen nicht distanzieren sollte. Ich hatte davor zurückgeschreckt, weil es ja im Plusquamperfekt stehen musste und das finde ich so umständlich. Aber dann war es weniger schlimm als befürchtet.
Die Bandwurmsätze habe ich versucht zu entwurmen, hoffe, dass die Schwärmerei immer noch rüberkommt.
Ich staune, was dir an Formulierungsfehlern aufgefallen ist! Ja, eine ganze Menge unfreiwillige Komik hat sich da eingeschlichen. Danke für deine humorvollen Anmerkungen!
LG Xavia.
 

ahorn

Mitglied
Hallo Xavier,

ja die Sache mit dem Plusquamperfekt - schreibe und spreche, wie bekommen wir sie zusammen. Gelesen hört es sich besser an oder! Ich habe immer Probleme mit der Indirekten Rede - liebe sie, trotzdem biege ich mir einen ab!

Zur Sache schreibe und spreche.

Schau mal deine Text nach Umgangssprache durch. (Dazu gehören meine geliebten Füllwörten, die Ähms der Dichtkunst)

Ein schöner, sonniger Tag, der nicht nur den Frühling KOMMA sondern [strike]sogar schon[/strike] den Sommer ahnen ließ.
Und gönne deinem Text ein paar zusätzliche Absätze. Sie ermuntern den Leser zum Innehalten - Denken!

Eine Frage am Rande. Warum stellst du jeden Tag ein Kapitel ein? Welcher interessierte Leser(Leihe :)) kommt da hinterher?

Mit Spaß und Vergnügen

Ahorn
 

xavia

Mitglied
1. Schriftstellerin

Toni trifft ihren Traum-Mann

Geschafft! Zufrieden schrieb sie unter den Text: »Ende«. Seit sie lesen konnte, war es ihr Traum gewesen, selbst einen Roman zu schreiben. Viele denken, das sei eine Kleinigkeit, sich eine Geschichte auszudenken und sie aufzuschreiben. Antonia wusste, dass das ein Irrtum ist:
[ 5] Wie oft hatte sie eine Idee, fing an, eine Weile ging es ganz gut, aber dann stockte es plötzlich. Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war: Eben noch waren ihre Figuren munter und lebendig gewesen und hatten ihr Eigenleben geführt, das sie nur niederzuschreiben brauchte. Dann auf einmal kam es ihr vor, als hätte sie mit der Geschichte gar nichts mehr zu tun, als sei jedes Wort, das sie hinzufügte, ein Fremdkörper. In solchen Situationen hatte sie ihren Text oft traurig beiseite gelegt nicht wieder in die Hand genommen.
[ 5] Aber dieses Mal sollte es anders kommen. Sie hatte ihren Drang, zu schreiben, dazu genutzt, ihren Traum-Mann zu erschaffen. – Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen?
[ 5] Jedes Mal, wenn sie mit einem Mann ausging, steuerten sie auf dieselbe Katastrophe zu. Es funktionierte einfach nicht. Die Männer verhielten sich, wie ihre Mutter es ihr in den finstersten Farben geschildert hatte: Am Anfang schwebte sie auf Wolken, man kam sich näher, traf sich ein zweites, vielleicht ein drittes Mal, kam sich noch näher und dann … Sobald sie ein Liebespaar waren, merkte sie, dass er kein Interesse mehr an ihr hatte, sondern nur an ihrem Körper. Sie genoss die Freuden der körperlichen Vereinigung, aber das war doch nicht alles, was eine Beziehung ausmachte! – Ein billiges Klischee, ein Muster in ihrem Leben.
[ 5] Der Mann in ihrer Geschichte war anders. Er kannte wahre, tiefe Gefühle. Sie sah ihn genau vor sich, seit sie über ihn geschrieben hatte: Groß, sportlich, aber nicht zu muskulös, sensibel, mit schönen, schlanken Händen, die wunderbar Klavier spielen konnten. Aber er spielte nur zum Spaß, hatte diese künstlerische Ader, aber auch Intelligenz, Scharfsinn, Witz.
[ 5] Sein Beruf? Psychologe. Psychotherapeut. Ja, ein Therapeut und natürlich waren alle seine Patientinnen in ihn verliebt. Aber er, der Profi, hielt das aus, wahrte die professionelle Distanz, die nötig ist, um einen Menschen zu begleiten, wenn er zu sich selbst finden will. Die ›Richtige‹ hatte er natürlich noch nicht gefunden und er suchte sie nicht unter seinen Patientinnen. Insgeheim hatte sie sich vorgestellt, dass sie die Eine sein würde. So würde es wohl allen ihren Leserinnen gehen. Gut so! – Sie wollte das Buch ja schließlich auch verkaufen.
[ 5] In ihrer Geschichte ging es aber gar nicht in erster Linie um diesen Mann, sondern um eine seiner Patientinnen, eine traurige, zarte junge Frau mit blassem Gesicht und langen schwarzen Haaren, die Schlimmes durchgemacht hatte und noch durchmachte und die darum kämpfte, nicht im Sumpf ihrer Erinnerungen zu versinken, sondern sich vor diesem Hintergrund dem Leben zuzuwenden.
[ 5] Über diese Frau hatte sie so leicht schreiben können wie in ihr eigenes Tagebuch. Dabei ähnelte sie dieser Unglücklichen überhaupt nicht: Im Gegensatz zu jener hatte sie selbst eine eher robuste und stämmige Natur, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie hatte kräftiges, etwas störrisches, hellbraunes Haar, fröhliche braune Augen und ein paar Sommersprossen auf ihrer Stupsnase. Eine glückliche und behütete Kindheit lag hinter ihr und hoffentlich eine Karriere als Bestseller-Autorin vor ihr.
[ 5] Tonis Gedanken kehrten zu ihrem Traum-Mann zurück. Sie stellte sich vor, dass er im Grunde seines Herzens ein eher schüchterner Mensch war, ganz anders als in seiner Praxis. Er schien sich seiner Schönheit nicht bewusst zu sein. Dabei musste er doch an jedem Morgen in diese strahlend grünen Augen blicken, wenn er in den Spiegel sah, das wellige blonde Haar kämmte, und das eigenwillige – aber nicht allzu kantige – Kinn rasierte. Wenn er die leicht gebräunte Haut mit einem wohlriechenden Aftershave belebte … Ja, sie sah ihn da stehen, noch mit nacktem Oberkörper, wie er seinen Tag begann. Sie konnte ihn sogar riechen! Diese private Seite von ihm blieb ihr Geheimnis. Das teilte sie nicht mit ihren Leserinnen.
[ 5] Die kannten ihn nur als den Mann neben der Couch, der zuhörte und verstand, ohne seinen Rat aufzudrängen, der sie mit grenzenloser Geduld begleitete, so lange sie ihn brauchten. Sie verehrten und bewunderten diesen Magier, der Geborgenheit vermitteln konnte, ohne die professionelle Distanz aufzugeben, der ihnen schließlich das Gefühl schenkte, ihre Probleme ganz allein bewältigt zu haben.

Genug geträumt, Toni! Zurück in die Realität! Sie nahm den Stapel Papier aus dem Drucker und schob ihn in den bereitliegenden Umschlag, der schon lange mit der Adresse eines Verlags und ihrem Absender beschriftet und frankiert auf ihrem Schreibtisch lag. Als Motivation. Und um sie daran zu hindern, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen, wenn ihre Geschichte fertig sein würde. Der Umschlag hatte einen Kleber, den man schmecken konnte. Sie hatte lange danach suchen müssen; die meisten waren heutzutage selbstklebend, wie die Briefmarken. Eine Unsitte! Sie fand es wichtig, an dem Kleber zu lecken, damit sie sich immer daran erinnern konnte, an den Geschmack des Erfolgs.
[ 5] Dieser Tag würde ihr im Gedächtnis bleiben als der Anfang eines neuen Lebensabschnitts: Der 19. April 2018, ein Donnerstag. Ein schöner, sonniger Tag, der im Frühling schon den Sommer ahnen ließ. So hatten die Meteorologen ihn angekündigt und so sah es aus, wenn sie aus dem Fenster schaute. Der Geburtstag von Toni von Berg, Autorin, alias Antonia Gutenberg, Bibliothekarin. Aufgeregt schlüpfte sie in eine leichte Jacke, zog die Haustür hinter sich zu, sprang die Treppe hinunter und rannte die Straße entlang, zum Briefkasten, der hinter der nächsten Kreuzung stand und mittags geleert werden sollte.
[ 5] Als sie um die Ecke bog, lief sie geradewegs einem Mann in die Arme. Peinlich. Sie trat zurück, murmelte eine Entschuldigung, mochte gar nicht aufblicken. Da roch sie das Aftershave, sein Aftershave! Sie sah zu ihm hoch und erstarrte.
[ 5] »Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!« sagte er mit einem Lächeln, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war. Überlegen lächelnd und mit den Worten »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen« setzte er seinen Weg fort, ohne sich nach ihr umzusehen.
[ 5] Sie stand da wie vom Donner gerührt, war unfähig, etwas zu sagen und hielt ihren dicken Umschlag vor der Brust an sich gepresst: Das war er!

Mit weichen Knien wankte sie zum Briefkasten und warf ihr Manuskript ein. Sie hatte es sich fest vorgenommen, daran konnte auch das Erscheinen ihres Traum-Mannes sie nicht hindern. Danach setzte sich auf die Schwelle eines Hauseingangs, um nachzudenken. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Sie saß eine ganze Weile so da, bis sich ihr innerer Aufruhr ein wenig gelegt hatte. Die Kälte, die durch ihre Jeans kroch, erinnerte sie an ihren Vater, der es ganz und gar nicht mochte, wenn sie sich auf kalten Stein setzte, nicht mal für einen kurzen Moment. ›Nur noch einen Augenblick, bis ich einen Plan habe‹, versuchte sie, ihre väterliche innere Stimme zu besänftigen und blieb sitzen.
[ 5] Sie musste ihn kennenlernen, musste ihn erobern. Unbedingt. Aber wie? Wäre sie doch nur hinter ihm hergelaufen, hätte beobachtet, wohin er gegangen ist! Nun konnte sie nur hoffen, dass er nicht zufällig oder gar einmalig hier herumgelaufen war. Andererseits wäre er ihr doch sicherlich früher schon aufgefallen, wenn er in der Gegend wohnte. Vielleicht sollte sie ihm einfach am nächsten Tag um dieselbe Zeit auflauern. Sie hatte den Rest der Woche Urlaub genommen, vorsichtshalber, um ihren Roman zu beenden. Nun wurde der entstandene Freiraum genutzt, die Detektivin in ihr erwachte. Das Leben konnte so aufregend sein!
[ 5] Sie brauchte unbedingt jemanden, um diese brisanten Neuigkeiten zu berichten. Blöd nur, dass ihre beste Freundin Sarah heute bis 19 Uhr in der Bibliothek arbeiten musste. Das war wirklich kein geeigneter Ort, um Neuigkeiten zu berichten, die Regale hatten Ohren. Eine SMS an Sarah würde sicherstellen, dass sie wenigstens nach Feierabend verfügbar wäre:
[ 8]treffen 19:05h bei pete: sensation!!!

Das reichte, Sarah war neugierig. So weit, so gut. Und nun? Was tun mit der freien Zeit? Sie stand auf, lief ziellos auf und ab, blieb stehen, sah sich um. Er würde wohl kaum den Weg zurückkommen, den er gerade erst gegangen war? Oder doch? Man konnte ja nicht wissen. Aber er durfte sie nicht wieder so auf der Straße treffen, er musste ihr ganz zufällig an einem Ort begegnen, der ihm Gemeinsamkeit signalisierte und ihr mehr Würde verlieh als beim achtlosen Auf-der-Straße-Herumrennen.
[ 5] Wie findet man einen Menschen, von dem man nur weiß, wie er aussieht? In eine Suchmaschine kann man einen Namen eingeben und bekommt ein Bild. Meistens. Aber umgekehrt? – Ja, wenn sie über die Such-Funktionen der Polizei verfügen könnte … Rasterfahndung … Bilderkennung … Andererseits: Vielleicht sah er ja nicht nur so aus wie ihr Roman-Traum-Mann, vielleicht hatte er ja auch denselben Beruf?
 

xavia

Mitglied
Hallo, Ahœrne,

nach Umgangssprache und Füllwörtern habe ich meine Texte schon vor dem Einstellen durchsucht. Habe ich welche übersehen? Umgangssprache in wörtlicher Rede oder im Denken sollte allerdings erlaubt sein, sonst klingt das ja allzu geschraubt.

Zu den Absätzen: Wo, meinst du, dass noch einer sein sollte? Ich möchte eine zusammenhängende Handlung ja nicht zerteilen. Den letzten Absatz habe ich jetzt noch einmal geteilt.

Danke für das Komma! Ich habe es mir zum späteren Gebrauch weggelegt ;) Mit so vielen Kommata mochte ich den Satz nicht mehr.

Zu deiner Rand-Frage: Ich kann es mit der Lesegeschwindigkeit nicht jedem recht machen. Mir ist es am liebsten, einen Text ganz lesen zu können aber als ich neulich alle Kapitel einer Novelle auf einmal eingestellt habe, hat sich einer beschwert. Deshalb jetzt die Häppchen, die ich mir wie einen Fortsetzungsroman in der Morgenzeitung vorstelle. Bei größeren Abständen wüssten die Leser ja nicht, wann die nächste Folge kommt, müssten sich vielleicht den Wochentag merken oder gar die Anzahl Tage. Das wäre mir persönlich unangenehm als Leserin.

Kleiner Tipp: Oben auf der Seite gibt es einen Link auf den nächsten ungelesenen Beitrag. Damit könnte doch langsameren Leser.innen gedient sein. Die schnelleren kann ich aber nur durch neuen »Stoff« beglücken.

Aber ich bin da offen für Alternativen, vielleicht gibt es Meinungsäußerungen von Anderen dazu? Stört es euch, wenn es morgen noch ein Kapitel gibt?

LG Xavia.

PS: Leute, die nicht in der Leselupe registriert sind, erreichen mich per E-Mail über die Adresse xavia@willkuer.net
 

xavia

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1. Schriftstellerin

Toni trifft ihren Traum-Mann

Geschafft! Zufrieden schrieb sie unter den Text: »Ende«. Seit sie lesen konnte, war es ihr Traum gewesen, selbst einen Roman zu schreiben. Viele denken, das sei eine Kleinigkeit, sich eine Geschichte auszudenken und sie aufzuschreiben. Antonia wusste, dass das ein Irrtum ist:
[ 5] Wie oft hatte sie eine Idee, fing an, eine Weile ging es ganz gut, aber dann stockte es plötzlich. Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war: Eben noch waren ihre Figuren munter und lebendig gewesen und hatten ihr Eigenleben geführt, das sie nur niederzuschreiben brauchte. Dann auf einmal kam es ihr vor, als hätte sie mit der Handlung gar nichts mehr zu tun, als sei jedes Wort, das sie hinzufügte, ein Fremdkörper. In solchen Situationen hatte sie ihren Text oft traurig beiseite gelegt nicht wieder in die Hand genommen.
[ 5] Aber dieses Mal sollte es anders kommen. Sie hatte ihren Drang, zu schreiben, dazu genutzt, ihren Traum-Mann zu erschaffen. – Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen?
[ 5] Jedes Mal, wenn sie mit einem Mann ausging, steuerten sie auf dieselbe Katastrophe zu. Es funktionierte einfach nicht. Die Männer verhielten sich, wie ihre Mutter es ihr in den finstersten Farben geschildert hatte: Am Anfang schwebte sie auf Wolken, man kam sich näher, traf sich ein zweites, vielleicht ein drittes Mal, kam sich noch näher und dann … Sobald sie ein Liebespaar waren, merkte sie, dass er kein Interesse mehr an ihr hatte, sondern nur an ihrem Körper. Sie genoss die Freuden der körperlichen Vereinigung, aber das war doch nicht alles, was eine Beziehung ausmachte! – Ein billiges Klischee, ein Muster in ihrem Leben.
[ 5] Der Mann in ihrer Geschichte war anders. Er kannte wahre, tiefe Gefühle. Sie sah ihn genau vor sich, seit sie über ihn geschrieben hatte: Groß, sportlich, aber nicht zu muskulös, sensibel, mit schönen, schlanken Händen, die wunderbar Klavier spielen konnten. Aber er spielte nur zum Spaß, hatte diese künstlerische Ader, aber auch Intelligenz, Scharfsinn, Witz.
[ 5] Sein Beruf? Psychologe. Psychotherapeut. Ja, ein Therapeut und natürlich waren alle seine Patientinnen in ihn verliebt. Aber er, der Profi, hielt das aus, wahrte die professionelle Distanz, die nötig ist, um einen Menschen zu begleiten, wenn er zu sich selbst finden will. Die ›Richtige‹ hatte er natürlich noch nicht gefunden und er suchte sie nicht unter seinen Patientinnen. Insgeheim hatte sie sich vorgestellt, dass sie die Eine sein würde. So würde es wohl allen ihren Leserinnen gehen. Gut so! – Sie wollte das Buch ja schließlich auch verkaufen.
[ 5] In ihrer Geschichte ging es aber gar nicht in erster Linie um diesen Mann, sondern um eine seiner Patientinnen, eine traurige, zarte junge Frau mit blassem Gesicht und langen schwarzen Haaren, die Schlimmes durchgemacht hatte und noch durchmachte und die darum kämpfte, nicht im Sumpf ihrer Erinnerungen zu versinken, sondern sich vor diesem Hintergrund dem Leben zuzuwenden.
[ 5] Über diese Frau hatte sie so leicht schreiben können wie in ihr eigenes Tagebuch. Dabei ähnelte sie dieser Unglücklichen überhaupt nicht: Im Gegensatz zu jener hatte sie selbst eine eher robuste und stämmige Natur, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie hatte kräftiges, etwas störrisches, hellbraunes Haar, fröhliche braune Augen und ein paar Sommersprossen auf ihrer Stupsnase. Eine glückliche und behütete Kindheit lag hinter ihr und hoffentlich eine Karriere als Bestseller-Autorin vor ihr.
[ 5] Toni saß an ihrem Schreibtisch, während der Drucker arbeitete. Sie blickte aus dem Fenster, ohne den Fluss wirklich zu sehen, der neben der Straße entlangfloss, oder die Menschen, die eilig nach links oder rechts liefen, scheinbar ziellos, wie Ameisen. Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Traum-Mann zurück. Sie stellte sich vor, dass er im Grunde seines Herzens ein eher schüchterner Mensch war, ganz anders als in seiner Praxis. Er schien sich seiner Schönheit nicht bewusst zu sein. Dabei musste er doch an jedem Morgen in diese strahlend grünen Augen blicken, wenn er in den Spiegel sah, das wellige blonde Haar kämmte, und das eigenwillige – aber nicht allzu kantige – Kinn rasierte. Wenn er die leicht gebräunte Haut mit einem wohlriechenden Aftershave belebte … Ja, sie sah ihn da stehen, noch mit nacktem Oberkörper, wie er seinen Tag begann. Sie konnte ihn sogar riechen! Diese private Seite von ihm blieb ihr Geheimnis. Das teilte sie nicht mit ihren Leserinnen.
[ 5] Die kannten ihn nur als den Mann neben der Couch, der zuhörte und verstand, ohne seinen Rat aufzudrängen, der sie mit grenzenloser Geduld begleitete, so lange sie ihn brauchten. Sie verehrten und bewunderten diesen Magier der Seele, der Geborgenheit vermitteln konnte, ohne die professionelle Distanz aufzugeben, der ihnen schließlich das Gefühl schenkte, ihre Probleme ganz allein bewältigt zu haben.

Genug geträumt, Toni! Zurück in die Realität! Sie nahm den Stapel Papier aus dem Drucker und schob ihn in den bereitliegenden Umschlag, der schon lange mit der Adresse eines Verlags und ihrem Absender beschriftet und frankiert auf ihrem Schreibtisch lag. Als Motivation. Und um sie daran zu hindern, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen, wenn ihre Geschichte fertig sein würde. Der Umschlag hatte einen Kleber, den man schmecken konnte. Sie hatte lange danach suchen müssen; die meisten waren heutzutage selbstklebend, wie die Briefmarken. Eine Unsitte! Sie fand es wichtig, an dem Kleber zu lecken, damit sie sich immer daran erinnern konnte, an den Geschmack des Erfolgs.
[ 5] Dieser Tag würde ihr im Gedächtnis bleiben als der Anfang eines neuen Lebensabschnitts: Der 19. April 2018, ein Donnerstag. Ein schöner, sonniger Tag, der im Frühling schon den Sommer ahnen ließ. So hatten die Meteorologen ihn angekündigt und so sah es aus, wenn sie aus dem Fenster schaute. Der Geburtstag von Toni von Berg, Autorin, alias Antonia Gutenberg, Bibliothekarin. Aufgeregt schlüpfte sie in eine leichte Jacke, zog die Haustür hinter sich zu, sprang die Treppe hinunter und rannte die Straße entlang, zum Briefkasten, der hinter der nächsten Kreuzung stand und mittags geleert werden sollte.
[ 5] Als sie um die Ecke bog, lief sie geradewegs einem Mann in die Arme. Peinlich. Sie trat zurück, murmelte eine Entschuldigung, mochte gar nicht aufblicken. Da roch sie das Aftershave, sein Aftershave! Sie sah zu ihm hoch und erstarrte.
[ 5] »Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!« sagte er mit einem Lächeln, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war. Überlegen lächelnd und mit den Worten »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen« setzte er seinen Weg fort, ohne sich nach ihr umzusehen.
[ 5] Sie stand da wie vom Donner gerührt, war unfähig, etwas zu sagen und hielt ihren dicken Umschlag vor der Brust an sich gepresst: Das war er!

Mit weichen Knien wankte sie zum Briefkasten und warf ihr Manuskript ein. Sie hatte es sich fest vorgenommen, daran konnte auch das Erscheinen ihres Traum-Mannes sie nicht hindern. Danach setzte sich auf die Schwelle eines Hauseingangs, um nachzudenken. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Sie saß eine ganze Weile so da, bis sich ihr innerer Aufruhr ein wenig gelegt hatte. Die Kälte, die durch ihre Jeans kroch, erinnerte sie an ihren Vater, der es ganz und gar nicht mochte, wenn sie sich auf kalten Stein setzte, nicht mal für einen kurzen Moment. ›Nur noch einen Augenblick, bis ich einen Plan habe‹, versuchte sie, ihre väterliche innere Stimme zu besänftigen und blieb sitzen.
[ 5] Sie musste ihn kennenlernen, musste ihn erobern. Unbedingt. Aber wie? Wäre sie doch nur hinter ihm hergelaufen, hätte beobachtet, wohin er gegangen ist! Nun konnte sie nur hoffen, dass er nicht zufällig oder gar einmalig hier herumgelaufen war. Andererseits wäre er ihr doch sicherlich früher schon aufgefallen, wenn er in der Gegend wohnte. Vielleicht sollte sie ihm einfach am nächsten Tag um dieselbe Zeit auflauern. Sie hatte den Rest der Woche Urlaub genommen, vorsichtshalber, um ihren Roman zu beenden. Nun wurde der entstandene Freiraum genutzt, die Detektivin in ihr erwachte. Das Leben konnte so aufregend sein!
[ 5] Sie brauchte unbedingt jemanden, um diese brisanten Neuigkeiten zu berichten. Blöd nur, dass ihre beste Freundin Sarah heute bis 19 Uhr in der Bibliothek arbeiten musste. Das war wirklich kein geeigneter Ort, um Neuigkeiten zu berichten, die Regale hatten Ohren. Eine SMS an Sarah würde sicherstellen, dass sie wenigstens nach Feierabend verfügbar wäre:
[ 8]treffen 19:05h bei pete: sensation!!!

Das reichte, Sarah war neugierig. So weit, so gut. Und nun? Was tun mit der freien Zeit? Sie stand auf, lief ziellos auf und ab, blieb stehen, sah sich um. Er würde wohl kaum den Weg zurückkommen, den er gerade erst gegangen war? Oder doch? Man konnte ja nicht wissen. Aber er durfte sie nicht wieder so auf der Straße treffen, er musste ihr ganz zufällig an einem Ort begegnen, der ihm Gemeinsamkeit signalisierte und ihr mehr Würde verlieh als beim achtlosen Auf-der-Straße-Herumrennen.
[ 5] Wie findet man einen Menschen, von dem man nur weiß, wie er aussieht? In eine Suchmaschine kann man einen Namen eingeben und bekommt ein Bild. Meistens. Aber umgekehrt? – Ja, wenn sie über die Such-Funktionen der Polizei verfügen könnte … Rasterfahndung … Bilderkennung … Andererseits: Vielleicht sah er ja nicht nur so aus wie ihr Roman-Traum-Mann, vielleicht hatte er ja auch denselben Beruf?
 

xavia

Mitglied
1. Schriftstellerin

Toni trifft ihren Traum-Mann

Geschafft! Zufrieden schrieb sie unter den Text: »Ende«. Seit sie lesen konnte, war es ihr Traum gewesen, selbst einen Roman zu schreiben. Viele denken, das sei eine Kleinigkeit, sich eine Geschichte auszudenken und sie aufzuschreiben. Antonia wusste, dass das ein Irrtum ist:
[ 5] Wie oft hatte sie eine Idee, fing an, eine Weile ging es ganz gut, aber dann stockte es plötzlich. Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war: Eben noch waren ihre Figuren munter und lebendig gewesen und hatten ihr Eigenleben geführt, das sie nur niederzuschreiben brauchte. Dann auf einmal kam es ihr vor, als hätte sie mit der Handlung gar nichts mehr zu tun, als sei jedes Wort, das sie hinzufügte, ein Fremdkörper. In solchen Situationen hatte sie ihren Text oft traurig beiseite gelegt nicht wieder in die Hand genommen.
[ 5] Aber dieses Mal sollte es anders kommen. Sie hatte ihren Drang, zu schreiben, dazu genutzt, ihren Traum-Mann zu erschaffen. – Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen?
[ 5] Jedes Mal, wenn sie mit einem Mann ausging, steuerten sie auf dieselbe Katastrophe zu. Es funktionierte einfach nicht. Die Männer verhielten sich, wie ihre Mutter es ihr in den finstersten Farben geschildert hatte: Am Anfang schwebte sie auf Wolken, man kam sich näher, traf sich ein zweites, vielleicht ein drittes Mal, kam sich noch näher und dann … Sobald sie ein Liebespaar waren, merkte sie, dass er kein Interesse mehr an ihr hatte, sondern nur an ihrem Körper. Sie genoss die Freuden der körperlichen Vereinigung, aber das war doch nicht alles, was eine Beziehung ausmachte! – Ein billiges Klischee, ein Muster in ihrem Leben.
[ 5] Der Mann in ihrer Geschichte war anders. Er kannte wahre, tiefe Gefühle. Sie sah ihn genau vor sich, seit sie über ihn geschrieben hatte: Groß, sportlich, aber nicht zu muskulös, sensibel, mit schönen, schlanken Händen, die wunderbar Klavier spielen konnten. Aber er spielte nur zum Spaß, hatte diese künstlerische Ader, aber auch Intelligenz, Scharfsinn, Witz.
[ 5] Sein Beruf? Psychologe. Psychotherapeut. Ja, ein Therapeut und natürlich waren alle seine Patientinnen in ihn verliebt. Aber er, der Profi, hielt das aus, wahrte die professionelle Distanz, die nötig ist, um einen Menschen zu begleiten, wenn er zu sich selbst finden will. Die ›Richtige‹ hatte er natürlich noch nicht gefunden und er suchte sie nicht unter seinen Patientinnen. Insgeheim hatte sie sich vorgestellt, dass sie die Eine sein würde. So würde es wohl allen ihren Leserinnen gehen. Gut so! – Sie wollte das Buch ja schließlich auch verkaufen.
[ 5] In ihrer Geschichte ging es aber gar nicht in erster Linie um diesen Mann, sondern um eine seiner Patientinnen, eine traurige, zarte junge Frau mit blassem Gesicht und langen schwarzen Haaren, die Schlimmes durchgemacht hatte und noch durchmachte und die darum kämpfte, nicht im Sumpf ihrer Erinnerungen zu versinken, sondern sich vor diesem Hintergrund dem Leben zuzuwenden.
[ 5] Über diese Frau hatte sie so leicht schreiben können wie in ihr eigenes Tagebuch. Dabei ähnelte sie dieser Unglücklichen überhaupt nicht: Im Gegensatz zu jener hatte sie selbst eine eher robuste und stämmige Natur, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie hatte kräftiges, etwas störrisches, hellbraunes Haar, fröhliche braune Augen und ein paar Sommersprossen auf ihrer Stupsnase. Eine glückliche und behütete Kindheit lag hinter ihr und hoffentlich eine Karriere als Bestseller-Autorin vor ihr.
[ 5] Toni saß an ihrem Schreibtisch, während der Drucker arbeitete. Sie blickte aus dem Fenster, ohne den Fluss wirklich zu sehen, der neben der Straße entlangfloss, oder die Menschen, die eilig nach links oder rechts liefen, scheinbar ziellos, wie Ameisen. Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Traum-Mann zurück. Sie stellte sich vor, dass er im Grunde seines Herzens ein eher schüchterner Mensch war, ganz anders als in seiner Praxis. Er schien sich seiner Schönheit nicht bewusst zu sein. Dabei musste er doch an jedem Morgen in diese strahlend grünen Augen blicken, wenn er in den Spiegel sah, das wellige blonde Haar kämmte, und das eigenwillige – aber nicht allzu kantige – Kinn rasierte. Wenn er die leicht gebräunte Haut mit einem wohlriechenden Aftershave belebte … Ja, sie sah ihn da stehen, noch mit nacktem Oberkörper, wie er seinen Tag begann. Sie konnte ihn sogar riechen! Diese private Seite von ihm blieb ihr Geheimnis. Das teilte sie nicht mit ihren Leserinnen.
[ 5] Die kannten ihn nur als den Mann neben der Couch, der zuhörte und verstand, ohne seinen Rat aufzudrängen, der sie mit grenzenloser Geduld begleitete, so lange sie ihn brauchten. Sie verehrten und bewunderten diesen Magier der Seele, der Geborgenheit vermitteln konnte, ohne die professionelle Distanz aufzugeben, der ihnen schließlich das Gefühl schenkte, ihre Probleme ganz allein bewältigt zu haben.

Genug geträumt, Toni! Zurück in die Realität! Sie nahm den Stapel Papier aus dem Drucker und schob ihn in den bereitliegenden Umschlag, der schon lange mit der Adresse eines Verlags und ihrem Absender beschriftet und frankiert auf ihrem Schreibtisch lag. Als Motivation. Und um sie daran zu hindern, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen, wenn ihre Geschichte fertig sein würde. Der Umschlag hatte einen Kleber, den man schmecken konnte. Sie hatte lange danach suchen müssen; die meisten waren heutzutage selbstklebend, wie die Briefmarken. Eine Unsitte! Sie fand es wichtig, an dem Kleber zu lecken, damit sie sich immer daran erinnern konnte, an den Geschmack des Erfolgs.
[ 5] Dieser Tag würde ihr im Gedächtnis bleiben als der Anfang eines neuen Lebensabschnitts: Der 19. April 2018, ein Donnerstag. Ein schöner, sonniger Tag, der im Frühling schon den Sommer ahnen ließ. So hatten die Meteorologen ihn angekündigt und so sah es aus, wenn sie aus dem Fenster schaute. Der Geburtstag von Toni von Berg, Autorin, alias Antonia Gutenberg, Bibliothekarin. Aufgeregt schlüpfte sie in eine leichte Jacke, zog die Haustür hinter sich zu, sprang die Treppe hinunter und rannte die Straße entlang, zum Briefkasten, der hinter der nächsten Kreuzung stand und mittags geleert werden sollte.
[ 5] Als sie um die Ecke bog, lief sie geradewegs einem Mann in die Arme. Peinlich. Sie trat zurück, murmelte eine Entschuldigung, mochte gar nicht aufblicken. Da roch sie das Aftershave, sein Aftershave! Sie sah zu ihm hoch und erstarrte.
[ 5] »Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!« sagte er mit einem Lächeln, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war. Überlegen lächelnd und mit den Worten »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen« setzte er seinen Weg fort, ohne sich nach ihr umzusehen.
[ 5] Sie stand da wie vom Donner gerührt, war unfähig, etwas zu sagen und hielt ihren dicken Umschlag vor der Brust an sich gepresst: Das war er!

Mit weichen Knien wankte sie zum Briefkasten und warf ihr Manuskript ein. Sie hatte es sich fest vorgenommen, daran konnte auch das Erscheinen ihres Traum-Mannes sie nicht hindern. Danach setzte sich auf die Schwelle eines Hauseingangs, um nachzudenken. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Sie saß eine ganze Weile so da, bis sich ihr innerer Aufruhr ein wenig gelegt hatte. Die Kälte, die durch ihre Jeans kroch, erinnerte sie an ihren Vater, der es ganz und gar nicht mochte, wenn sie sich auf kalten Stein setzte, nicht mal für einen kurzen Moment. ›Nur noch einen Augenblick, bis ich einen Plan habe‹, versuchte sie, ihre väterliche innere Stimme zu besänftigen und blieb sitzen.
[ 5] Sie musste ihn kennenlernen, musste ihn erobern. Unbedingt. Aber wie? Wäre sie doch nur hinter ihm hergelaufen, hätte beobachtet, wohin er gegangen ist! Nun konnte sie nur hoffen, dass er nicht zufällig oder gar einmalig hier herumgelaufen war. Andererseits wäre er ihr doch sicherlich früher schon aufgefallen, wenn er in der Gegend wohnte. Vielleicht sollte sie ihm einfach am nächsten Tag um dieselbe Zeit auflauern, sich dafür einen weiteren Tag frei nehmen. Aber vielleicht hatte sie ihn abends bereits gefunden. Den Rest des heutigen Tages würde sie auf jeden Fall dazu nutzen, Detektiv zu spielen: Das Leben konnte so aufregend sein!
[ 5] Sie konnte es gar nicht abwarten, ihrer besten Freundin Sarah diese brisanten Neuigkeiten zu berichten. Blöd nur, dass die heute bis 19 Uhr in der Bibliothek arbeiten musste. Das war wirklich kein geeigneter Ort dafür, die Regale hatten Ohren. Eine SMS würde sicherstellen, dass Sarah wenigstens nach Feierabend verfügbar wäre:
[ 8]treffen 19:05h bei pete: sensation!!!

Das reichte, sie kannte die Neugier ihrer Freundin und konnte sich vorstellen, wie die nun die Stunden bis Feierabend zählte. So weit, so gut. Und nun? Was tun mit der freien Zeit? Sie stand auf, lief ziellos auf und ab, blieb stehen, sah sich um. Er würde wohl kaum den Weg zurückkommen, den er gerade erst gegangen war? Oder doch? Man konnte ja nicht wissen. Aber er durfte sie nicht wieder so auf der Straße treffen, er musste ihr ganz zufällig an einem Ort begegnen, der ihm Gemeinsamkeit signalisierte und ihr mehr Würde verlieh als beim achtlosen Auf-der-Straße-Herumrennen.
[ 5] Wie findet man einen Menschen, von dem man nur weiß, wie er aussieht? In eine Suchmaschine kann man einen Namen eingeben und bekommt ein Bild. Meistens. Aber umgekehrt? – Ja, wenn sie über die Such-Funktionen der Polizei verfügen könnte … Rasterfahndung … Bilderkennung … Andererseits: Vielleicht sah er ja nicht nur so aus wie ihr Roman-Traum-Mann, vielleicht hatte er ja auch denselben Beruf?
 

xavia

Mitglied
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1. Schriftstellerin

Toni trifft ihren Traum-Mann

Geschafft! Zufrieden schrieb sie unter den Text: »Ende«. Seit sie lesen konnte, war es ihr Traum gewesen, selbst einen Roman zu schreiben. Viele denken, das sei eine Kleinigkeit, sich eine Geschichte auszudenken und sie aufzuschreiben. Antonia wusste, dass das ein Irrtum ist:
[ 5] Wie oft hatte sie eine Idee, fing an, eine Weile ging es ganz gut, aber dann stockte es plötzlich. Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war: Eben noch waren ihre Figuren munter und lebendig gewesen und hatten ihr Eigenleben geführt, das sie nur niederzuschreiben brauchte. Dann auf einmal kam es ihr vor, als hätte sie mit der Handlung gar nichts mehr zu tun, als sei jedes Wort, das sie hinzufügte, ein Fremdkörper. In solchen Situationen hatte sie ihren Text oft traurig beiseite gelegt nicht wieder in die Hand genommen.
[ 5] Aber dieses Mal sollte es anders kommen. Sie hatte ihren Drang, zu schreiben, dazu genutzt, ihren Traum-Mann zu erschaffen. – Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen?
[ 5] Jedes Mal, wenn sie mit einem Mann ausging, steuerten sie auf dieselbe Katastrophe zu. Es funktionierte einfach nicht. Die Männer verhielten sich, wie ihre Mutter es ihr in den finstersten Farben geschildert hatte: Am Anfang schwebte sie auf Wolken, man kam sich näher, traf sich ein zweites, vielleicht ein drittes Mal, kam sich noch näher und dann … Sobald sie ein Liebespaar waren, merkte sie, dass er kein Interesse mehr an ihr hatte, sondern nur an ihrem Körper. Sie genoss die Freuden der körperlichen Vereinigung, aber das war doch nicht alles, was eine Beziehung ausmachte! – Ein billiges Klischee, ein Muster in ihrem Leben.
[ 5] Der Mann in ihrer Geschichte war anders. Er kannte wahre, tiefe Gefühle. Sie sah ihn genau vor sich, seit sie über ihn geschrieben hatte: Groß, sportlich, aber nicht zu muskulös, sensibel, mit schönen, schlanken Händen, die wunderbar Klavier spielen konnten. Aber er spielte nur zum Spaß, hatte diese künstlerische Ader, aber auch Intelligenz, Scharfsinn, Witz.
[ 5] Sein Beruf? Psychologe. Psychotherapeut. Ja, ein Therapeut und natürlich waren alle seine Patientinnen in ihn verliebt. Aber er, der Profi, hielt das aus, wahrte die professionelle Distanz, die nötig ist, um einen Menschen zu begleiten, wenn er zu sich selbst finden will. Die ›Richtige‹ hatte er natürlich noch nicht gefunden und er suchte sie nicht unter seinen Patientinnen. Insgeheim hatte sie sich vorgestellt, dass sie die Eine sein würde. So würde es wohl allen ihren Leserinnen gehen. Gut so! – Sie wollte das Buch ja schließlich auch verkaufen.
[ 5] In ihrer Geschichte ging es aber gar nicht in erster Linie um diesen Mann, sondern um eine seiner Patientinnen, eine traurige, zarte junge Frau mit blassem Gesicht und langen schwarzen Haaren, die Schlimmes durchgemacht hatte und noch durchmachte und die darum kämpfte, nicht im Sumpf ihrer Erinnerungen zu versinken, sondern sich vor diesem Hintergrund dem Leben zuzuwenden.
[ 5] Über diese Frau hatte sie so leicht schreiben können wie in ihr eigenes Tagebuch. Dabei ähnelte sie dieser Unglücklichen überhaupt nicht: Im Gegensatz zu jener hatte sie selbst eine eher robuste und stämmige Natur, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie hatte kräftiges, etwas störrisches, hellbraunes Haar, fröhliche braune Augen und ein paar Sommersprossen auf ihrer Stupsnase. Eine glückliche und behütete Kindheit lag hinter ihr und hoffentlich eine Karriere als Bestseller-Autorin vor ihr.
[ 5] Toni saß an ihrem Schreibtisch, während der Drucker arbeitete. Sie blickte aus dem Fenster, ohne den Fluss wirklich zu sehen, der neben der Straße entlangfloss, oder die Menschen, die eilig nach links oder rechts liefen, scheinbar ziellos, wie Ameisen. Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Traum-Mann zurück. Sie stellte sich vor, dass er im Grunde seines Herzens ein eher schüchterner Mensch war, ganz anders als in seiner Praxis. Er schien sich seiner Schönheit nicht bewusst zu sein. Dabei musste er doch an jedem Morgen in diese strahlend grünen Augen blicken, wenn er in den Spiegel sah, das wellige blonde Haar kämmte, und das eigenwillige – aber nicht allzu kantige – Kinn rasierte. Wenn er die leicht gebräunte Haut mit einem wohlriechenden Aftershave belebte … Ja, sie sah ihn da stehen, noch mit nacktem Oberkörper, wie er seinen Tag begann. Sie konnte ihn sogar riechen! Diese private Seite von ihm blieb ihr Geheimnis. Das teilte sie nicht mit ihren Leserinnen.
[ 5] Die kannten ihn nur als den Mann neben der Couch, der zuhörte und verstand, ohne seinen Rat aufzudrängen, der sie mit grenzenloser Geduld begleitete, so lange sie ihn brauchten. Sie verehrten und bewunderten diesen Magier der Seele, der Geborgenheit vermitteln konnte, ohne die professionelle Distanz aufzugeben, der ihnen schließlich das Gefühl schenkte, ihre Probleme ganz allein bewältigt zu haben.

Genug geträumt, Toni! Zurück in die Realität! Sie nahm den Stapel Papier aus dem Drucker und schob ihn in den bereitliegenden Umschlag, der schon lange mit der Adresse eines Verlags und ihrem Absender beschriftet und frankiert auf ihrem Schreibtisch lag. Als Motivation. Und um sie daran zu hindern, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen, wenn ihre Geschichte fertig sein würde. Der Umschlag hatte einen Kleber, den man schmecken konnte. Sie hatte lange danach suchen müssen; die meisten waren heutzutage selbstklebend, wie die Briefmarken. Eine Unsitte! Sie fand es wichtig, an dem Kleber zu lecken, damit sie sich immer daran erinnern konnte, an den Geschmack des Erfolgs.
[ 5] Dieser Tag würde ihr im Gedächtnis bleiben als der Anfang eines neuen Lebensabschnitts: Der 19. April 2018, ein Donnerstag. Ein schöner, sonniger Tag, der im Frühling schon den Sommer ahnen ließ. So hatten die Meteorologen ihn angekündigt und so sah es aus, wenn sie aus dem Fenster schaute. Der Geburtstag von Toni von Berg, Autorin, alias Antonia Gutenberg, Bibliothekarin. Aufgeregt schlüpfte sie in eine leichte Jacke, zog die Haustür hinter sich zu, sprang die Treppe hinunter und rannte die Straße entlang, zum Briefkasten, der hinter der nächsten Kreuzung stand und mittags geleert werden sollte.
[ 5] Als sie um die Ecke bog, lief sie geradewegs einem Mann in die Arme. Peinlich. Sie trat zurück, murmelte eine Entschuldigung, mochte gar nicht aufblicken. Da roch sie das Aftershave, sein Aftershave! Sie sah zu ihm hoch und erstarrte.
[ 5] »Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!« sagte er mit einem Lächeln, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war. Überlegen lächelnd und mit den Worten »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen« setzte er seinen Weg fort, ohne sich nach ihr umzusehen.
[ 5] Sie stand da wie vom Donner gerührt, war unfähig, etwas zu sagen und hielt ihren dicken Umschlag vor der Brust an sich gepresst: Das war er!

Mit weichen Knien wankte sie zum Briefkasten und warf ihr Manuskript ein. Sie hatte es sich fest vorgenommen, daran konnte auch das Erscheinen ihres Traum-Mannes sie nicht hindern. Danach setzte sich auf die Schwelle eines Hauseingangs, um nachzudenken. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Sie saß eine ganze Weile so da, bis sich ihr innerer Aufruhr ein wenig gelegt hatte. Die Kälte, die durch ihre Jeans kroch, erinnerte sie an ihren Vater, der es ganz und gar nicht mochte, wenn sie sich auf kalten Stein setzte, nicht mal für einen kurzen Moment. ›Nur noch einen Augenblick, bis ich einen Plan habe‹, versuchte sie, ihre väterliche innere Stimme zu besänftigen und blieb sitzen.
[ 5] Sie musste ihn kennenlernen, musste ihn erobern. Unbedingt. Aber wie? Wäre sie doch nur hinter ihm hergelaufen, hätte beobachtet, wohin er gegangen ist! Nun konnte sie nur hoffen, dass er nicht zufällig oder gar einmalig hier herumgelaufen war. Andererseits wäre er ihr doch sicherlich früher schon aufgefallen, wenn er in der Gegend wohnte. Vielleicht sollte sie ihm einfach am nächsten Tag um dieselbe Zeit auflauern, sich dafür einen weiteren Tag frei nehmen. Aber vielleicht hatte sie ihn abends bereits gefunden. Den Rest des heutigen Tages würde sie auf jeden Fall dazu nutzen, Detektiv zu spielen: Das Leben konnte so aufregend sein!
[ 5] Sie konnte es gar nicht abwarten, ihrer besten Freundin Sarah diese brisanten Neuigkeiten zu berichten. Blöd nur, dass die heute bis 19 Uhr in der Bibliothek arbeiten musste. Das war wirklich kein geeigneter Ort dafür, die Regale hatten Ohren. Eine SMS würde sicherstellen, dass Sarah wenigstens nach Feierabend verfügbar wäre:
[ 8]treffen 19:05h bei pete: sensation!!!

Das reichte, sie kannte die Neugier ihrer Freundin und konnte sich vorstellen, wie die nun die Stunden bis Feierabend zählte. So weit, so gut. Und nun? Was tun mit der freien Zeit? Sie stand auf, lief ziellos auf und ab, blieb stehen, sah sich um. Er würde wohl kaum den Weg zurückkommen, den er gerade erst gegangen war? Oder doch? Man konnte ja nicht wissen. Aber er durfte sie nicht wieder so auf der Straße treffen, er musste ihr ganz zufällig an einem Ort begegnen, der ihm Gemeinsamkeit signalisierte und ihr mehr Würde verlieh als beim achtlosen Auf-der-Straße-Herumrennen.
[ 5] Wie findet man einen Menschen, von dem man nur weiß, wie er aussieht? In eine Suchmaschine kann man einen Namen eingeben und bekommt ein Bild. Meistens. Aber umgekehrt? – Ja, wenn sie über die Such-Funktionen der Polizei verfügen könnte … Rasterfahndung … Bilderkennung … Andererseits: Vielleicht sah er ja nicht nur so aus wie ihr Roman-Traum-Mann, vielleicht hatte er ja auch denselben Beruf?

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xavia

Mitglied
1. Schriftstellerin

Toni trifft ihren Traum-Mann

Geschafft! Zufrieden schrieb sie unter den Text: »Ende«. Seit sie lesen konnte, war es ihr Traum gewesen, selbst einen Roman zu schreiben. Viele denken, das sei eine Kleinigkeit, sich eine Geschichte auszudenken und sie aufzuschreiben. Antonia wusste, dass das ein Irrtum ist:
[ 5] Wie oft hatte sie eine Idee, fing an, eine Weile ging es ganz gut, aber dann stockte es plötzlich. Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war: Eben noch waren ihre Figuren munter und lebendig gewesen und hatten ihr Eigenleben geführt, das sie nur niederzuschreiben brauchte. Dann auf einmal kam es ihr vor, als hätte sie mit der Handlung gar nichts mehr zu tun, als sei jedes Wort, das sie hinzufügte, ein Fremdkörper. In solchen Situationen hatte sie ihren Text oft traurig beiseite gelegt nicht wieder in die Hand genommen.
[ 5] Aber dieses Mal sollte es anders kommen. Sie hatte ihren Drang, zu schreiben, dazu genutzt, ihren Traum-Mann zu erschaffen. – Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen?
[ 5] Jedes Mal, wenn sie mit einem Mann ausging, steuerten sie auf dieselbe Katastrophe zu. Es funktionierte einfach nicht. Die Männer verhielten sich, wie ihre Mutter es ihr in den finstersten Farben geschildert hatte: Am Anfang schwebte sie auf Wolken, man kam sich näher, traf sich ein zweites, vielleicht ein drittes Mal, kam sich noch näher und dann … Sobald sie ein Liebespaar waren, merkte sie, dass er kein Interesse mehr an ihr hatte, sondern nur an ihrem Körper. Sie genoss die Freuden der körperlichen Vereinigung, aber das war doch nicht alles, was eine Beziehung ausmachte! – Ein billiges Klischee, ein Muster in ihrem Leben.
[ 5] Der Mann in ihrer Geschichte war anders. Er kannte wahre, tiefe Gefühle. Sie sah ihn genau vor sich, seit sie über ihn geschrieben hatte: Groß, sportlich, aber nicht zu muskulös, sensibel, mit schönen, schlanken Händen, die wunderbar Klavier spielen konnten. Aber er spielte nur zum Spaß, hatte diese künstlerische Ader, aber auch Intelligenz, Scharfsinn, Witz.
[ 5] Sein Beruf? Psychologe. Psychotherapeut. Ja, ein Therapeut und natürlich waren alle seine Patientinnen in ihn verliebt. Aber er, der Profi, hielt das aus, wahrte die professionelle Distanz, die nötig ist, um einen Menschen zu begleiten, wenn er zu sich selbst finden will. Die ›Richtige‹ hatte er natürlich noch nicht gefunden und er suchte sie nicht unter seinen Patientinnen. Insgeheim hatte sie sich vorgestellt, dass sie die Eine sein würde. So würde es wohl allen ihren Leserinnen gehen. Gut so! – Sie wollte das Buch ja schließlich auch verkaufen.
[ 5] In ihrer Geschichte ging es aber gar nicht in erster Linie um diesen Mann, sondern um eine seiner Patientinnen, eine traurige, zarte junge Frau mit blassem Gesicht und langen schwarzen Haaren, die Schlimmes durchgemacht hatte und noch durchmachte und die darum kämpfte, nicht im Sumpf ihrer Erinnerungen zu versinken, sondern sich vor diesem Hintergrund dem Leben zuzuwenden.
[ 5] Über diese Frau hatte sie so leicht schreiben können wie in ihr eigenes Tagebuch. Dabei ähnelte sie dieser Unglücklichen überhaupt nicht: Im Gegensatz zu jener hatte sie selbst eine eher robuste und stämmige Natur, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie hatte kräftiges, etwas störrisches, hellbraunes Haar, fröhliche braune Augen und ein paar Sommersprossen auf ihrer Stupsnase. Eine glückliche und behütete Kindheit lag hinter ihr und hoffentlich eine Karriere als Bestseller-Autorin vor ihr.
[ 5] Toni saß an ihrem Schreibtisch, während der Drucker arbeitete. Sie blickte aus dem Fenster, ohne den Fluss wirklich zu sehen, der neben der Straße entlangfloss, oder die Menschen, die eilig nach links oder rechts liefen, scheinbar ziellos, wie Ameisen. Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Traum-Mann zurück. Sie stellte sich vor, dass er im Grunde seines Herzens ein eher schüchterner Mensch war, ganz anders als in seiner Praxis. Er schien sich seiner Schönheit nicht bewusst zu sein. Dabei musste er doch an jedem Morgen in diese strahlend grünen Augen blicken, wenn er in den Spiegel sah, das wellige blonde Haar kämmte, und das eigenwillige – aber nicht allzu kantige – Kinn rasierte. Wenn er die leicht gebräunte Haut mit einem wohlriechenden Aftershave belebte … Ja, sie sah ihn da stehen, noch mit nacktem Oberkörper, wie er seinen Tag begann. Sie konnte ihn sogar riechen! Diese private Seite von ihm blieb ihr Geheimnis. Das teilte sie nicht mit ihren Leserinnen.
[ 5] Die kannten ihn nur als den Mann neben der Couch, der zuhörte und verstand, ohne seinen Rat aufzudrängen, der sie mit grenzenloser Geduld begleitete, so lange sie ihn brauchten. Sie verehrten und bewunderten diesen Magier der Seele, der Geborgenheit vermitteln konnte, ohne die professionelle Distanz aufzugeben, der ihnen schließlich das Gefühl schenkte, ihre Probleme ganz allein bewältigt zu haben.

Genug geträumt, Toni! Zurück in die Realität! Sie nahm den Stapel Papier aus dem Drucker und schob ihn in den bereitliegenden Umschlag, der schon lange mit der Adresse eines Verlags und ihrem Absender beschriftet und frankiert auf ihrem Schreibtisch lag. Als Motivation. Und um sie daran zu hindern, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen, wenn ihre Geschichte fertig sein würde. Der Umschlag hatte einen Kleber, den man schmecken konnte. Sie hatte lange danach suchen müssen; die meisten waren heutzutage selbstklebend, wie die Briefmarken. Eine Unsitte! Sie fand es wichtig, an dem Kleber zu lecken, damit sie sich immer daran erinnern konnte, an den Geschmack des Erfolgs.
[ 5] Dieser Tag würde ihr im Gedächtnis bleiben als der Anfang eines neuen Lebensabschnitts: Der 19. April 2018, ein Donnerstag. Ein schöner, sonniger Tag, der im Frühling schon den Sommer ahnen ließ. So hatten die Meteorologen ihn angekündigt und so sah es aus, wenn sie aus dem Fenster schaute. Der Geburtstag von Toni von Berg, Autorin, alias Antonia Gutenberg, Bibliothekarin. Aufgeregt schlüpfte sie in eine leichte Jacke, zog die Haustür hinter sich zu, sprang die Treppe hinunter und rannte die Straße entlang, zum Briefkasten, der hinter der nächsten Kreuzung stand und mittags geleert werden sollte.
[ 5] Als sie um die Ecke bog, lief sie geradewegs einem Mann in die Arme. Peinlich. Sie trat zurück, murmelte eine Entschuldigung, mochte gar nicht aufblicken. Da roch sie das Aftershave, sein Aftershave! Sie sah zu ihm hoch und erstarrte.
[ 5] »Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!« sagte er mit einem Lächeln, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war. Überlegen lächelnd und mit den Worten »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen« setzte er seinen Weg fort, ohne sich nach ihr umzusehen.
[ 5] Sie stand da wie vom Donner gerührt, war unfähig, etwas zu sagen und hielt ihren dicken Umschlag vor der Brust an sich gepresst: Das war er!

Mit weichen Knien wankte sie zum Briefkasten und warf ihr Manuskript ein. Sie hatte es sich fest vorgenommen, daran konnte auch das Erscheinen ihres Traum-Mannes sie nicht hindern. Danach setzte sich auf die Schwelle eines Hauseingangs, um nachzudenken. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Sie saß eine ganze Weile so da, bis sich ihr innerer Aufruhr ein wenig gelegt hatte. Die Kälte, die durch ihre Jeans kroch, erinnerte sie an ihren Vater, der es ganz und gar nicht mochte, wenn sie sich auf kalten Stein setzte, nicht mal für einen kurzen Moment. ›Nur noch einen Augenblick, bis ich einen Plan habe‹, versuchte sie, ihre väterliche innere Stimme zu besänftigen und blieb sitzen.
[ 5] Sie musste ihn kennenlernen, musste ihn erobern. Unbedingt. Aber wie? Wäre sie doch nur hinter ihm hergelaufen, hätte beobachtet, wohin er gegangen ist! Nun konnte sie nur hoffen, dass er nicht zufällig oder gar einmalig hier herumgelaufen war. Andererseits wäre er ihr doch sicherlich früher schon aufgefallen, wenn er in der Gegend wohnte. Vielleicht sollte sie ihm einfach am nächsten Tag um dieselbe Zeit auflauern, sich dafür einen weiteren Tag frei nehmen. Aber vielleicht hatte sie ihn abends bereits gefunden. Den Rest des heutigen Tages würde sie auf jeden Fall dazu nutzen, Detektiv zu spielen: Das Leben konnte so aufregend sein!
[ 5] Sie konnte es gar nicht abwarten, ihrer besten Freundin Sarah diese brisanten Neuigkeiten zu berichten. Blöd nur, dass die heute bis 19 Uhr in der Bibliothek arbeiten musste. Das war wirklich kein geeigneter Ort dafür, die Regale hatten Ohren. Eine SMS würde sicherstellen, dass Sarah wenigstens nach Feierabend verfügbar wäre:
[ 8]treffen 19:05h bei pete: sensation!!!

Das reichte, sie kannte die Neugier ihrer Freundin und konnte sich vorstellen, wie die nun die Stunden bis Feierabend zählte. So weit, so gut. Und nun? Was tun mit der freien Zeit? Sie stand auf, lief ziellos auf und ab, blieb stehen, sah sich um. Er würde wohl kaum den Weg zurückkommen, den er gerade erst gegangen war? Oder doch? Man konnte ja nicht wissen. Aber er durfte sie nicht wieder so auf der Straße treffen, er musste ihr ganz zufällig an einem Ort begegnen, der ihm Gemeinsamkeit signalisierte und ihr mehr Würde verlieh als beim achtlosen Auf-der-Straße-Herumrennen.
[ 5] Wie findet man einen Menschen, von dem man nur weiß, wie er aussieht? In eine Suchmaschine kann man einen Namen eingeben und bekommt ein Bild. Meistens. Aber umgekehrt? – Ja, wenn sie über die Such-Funktionen der Polizei verfügen könnte … Rasterfahndung … Bilderkennung … Andererseits: Vielleicht sah er ja nicht nur so aus wie ihr Roman-Traum-Mann, vielleicht hatte er ja auch denselben Beruf?
 

xavia

Mitglied
1. Schriftstellerin

Toni trifft ihren Traum-Mann

Geschafft! Zufrieden schrieb sie unter den Text: »Ende«. Seit sie lesen konnte, war es ihr Traum gewesen, selbst einen Roman zu schreiben. Viele denken, das sei eine Kleinigkeit, sich eine Geschichte auszudenken und sie aufzuschreiben. Antonia wusste, dass das ein Irrtum ist.
[ 5] Wie oft hatte sie eine Idee, fing an, eine Weile ging es ganz gut, aber dann stockte es plötzlich. Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war: Eben noch hatten ihre Figuren munter und lebendig ihr Eigenleben geführt, das sie nur niederzuschreiben brauchte. Dann auf einmal kam es ihr vor, als hätte sie mit der Handlung gar nichts zu tun, als sei jedes Wort, das sie hinzufügte, ein Fremdkörper. In solchen Situationen legte sie ihren Text oft traurig beiseite.
[ 5] Aber dieses Mal hatte sie ihren Drang, zu schreiben, dazu genutzt, ihren Traum-Mann zu erschaffen, und schon flossen die Worte nur so aus ihr heraus. – Wieso war sie nicht schon früher darauf gekommen? Eine Schriftstellerin konnte erschaffen, was immer sie haben wollte.

Ihre Erfahrungen mit Männern waren bisher weitgehend unerfreulich gewesen. Sie entsprachen durchweg dem Klischee, vor dem ihre Mutter sie gewarnt hatte und an das zu glauben sie sich nach Kräften gewehrt hatte. Sie wollten alle nur ›das Eine‹, hatten kein wirkliches Interesse an ihr, sondern nur an ihrem Körper. – Auch sie genoss die Freuden der körperlichen Vereinigung, aber das war doch nicht alles, was eine Beziehung ausmachte!
[ 5] Der Mann in ihrer Geschichte war anders. Er kannte wahre, tiefe Gefühle. Sie sah ihn genau vor sich, seit sie über ihn geschrieben hatte: Groß, sportlich, aber nicht zu muskulös, sensibel, mit schönen, schlanken Händen, die wunderbar Klavier spielen konnten. Aber er spielte nur zum Spaß, hatte diese künstlerische Ader, aber auch Intelligenz, Scharfsinn, Witz.
[ 5] Sein Beruf? Psychologe. Psychotherapeut. Ja, ein Therapeut und natürlich waren alle seine Patientinnen in ihn verliebt. Aber er, der Profi, hielt das aus, wahrte die professionelle Distanz, die nötig ist, um einen Menschen zu begleiten, wenn er zu sich selbst finden will. Die ›Richtige‹ hatte er natürlich noch nicht gefunden und er suchte sie nicht unter seinen Patientinnen. Insgeheim hatte sie sich vorgestellt, dass sie die Eine sein würde. So würde es wohl allen ihren Leserinnen gehen. Gut so! – Sie wollte das Buch ja schließlich auch verkaufen.
[ 5] In ihrer Geschichte ging es aber gar nicht in erster Linie um diesen Mann, sondern um eine seiner Patientinnen, eine traurige, zarte junge Frau mit blassem Gesicht und langen schwarzen Haaren, die Schlimmes durchgemacht hatte und noch durchmachte und die darum kämpfte, nicht im Sumpf ihrer Erinnerungen zu versinken, sondern sich vor diesem Hintergrund dem Leben zuzuwenden.
[ 5] Über diese Frau hatte sie so leicht schreiben können wie in ihr eigenes Tagebuch. Dabei ähnelte sie dieser Unglücklichen überhaupt nicht: Im Gegensatz zu jener hatte sie selbst eine eher robuste und stämmige Natur, sowohl seelisch als auch körperlich. Kräftiges, etwas störrisches, hellbraunes Haar, fröhliche braune Augen und ein paar Sommersprossen auf ihrer Stupsnase drückten die Sorglosigkeit aus, die eine glückliche und behütete Kindheit ihr geschenkt hatten und jetzt freute sie sich auf eine Karriere als Bestseller-Autorin.
[ 5] Toni saß an ihrem Schreibtisch, während der Drucker arbeitete. Sie blickte aus dem Fenster, ohne den Fluss wirklich zu sehen, der neben der Straße entlangfloss, oder die Menschen, die eilig nach links oder rechts liefen, scheinbar ziellos, wie Ameisen. Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Traum-Mann zurück. Sie stellte sich vor, dass er im Grunde seines Herzens ein eher schüchterner Mensch wäre, ganz anders als in seiner Praxis. Er schien sich seiner Schönheit nicht bewusst zu sein. Dabei musste er doch an jedem Morgen in diese strahlend grünen Augen blicken, wenn er in den Spiegel sah, das wellige blonde Haar kämmte, und das eigenwillige – aber nicht allzu kantige – Kinn rasierte. Wenn er die leicht gebräunte Haut mit einem wohlriechenden Aftershave belebte … Ja, sie sah ihn da stehen, noch mit nacktem Oberkörper, die Pyjama-Hose lässig auf seinen schmalen Hüften hängend. Sie konnte ihn sogar riechen! Diese private Seite von ihm blieb ihr Geheimnis. Das teilte sie nicht mit ihren Leserinnen.
[ 5] Die kannten ihn nur als den Mann neben der Couch, der zuhörte und verstand, ohne seinen Rat aufzudrängen, der seine Patientinnen mit grenzenloser Geduld begleitete, so lange sie ihn brauchten. Sie verehrten und bewunderten diesen Magier der Seele, der Geborgenheit vermitteln konnte, ohne aufdringlich zu werden, der ihnen schließlich das Gefühl schenkte, ihre Probleme ganz allein bewältigt zu haben.

Genug geträumt, Toni! Zurück in die Realität! Sie nahm den Stapel Papier aus dem Drucker und schob ihn in den bereitliegenden Umschlag, der schon lange mit der Adresse eines Verlags und ihrem Absender beschriftet und frankiert auf ihrem Schreibtisch lag. Als Motivation. Und um sie daran zu hindern, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen, wenn ihre Geschichte fertig wäre. Der Umschlag hatte einen Kleber, den man schmecken konnte. Sie hatte lange danach suchen müssen; die meisten waren heutzutage selbstklebend, wie die Briefmarken. Eine Unsitte! Sie fand es wichtig, an dem Kleber zu lecken, damit sie sich immer daran erinnern konnte, an den Geschmack des Erfolgs.
[ 5] Dieser Tag würde ihr im Gedächtnis bleiben als der Anfang eines neuen Lebensabschnitts: Der 19. April 2018, ein Donnerstag. Ein schöner, sonniger Tag, der im Frühling schon den Sommer ahnen ließ. So hatten die Meteorologen ihn angekündigt und so sah es aus, wenn sie aus dem Fenster schaute. Der Geburtstag von Toni von Berg, Autorin, alias Antonia Gutenberg, Bibliothekarin. Aufgeregt schlüpfte sie in eine leichte Jacke, zog die Haustür hinter sich zu, sprang die Treppe hinunter und rannte die Straße entlang, zum Briefkasten, der hinter der nächsten Kreuzung stand und mittags geleert werden sollte.
[ 5] Als sie um die Ecke bog, lief sie geradewegs einem Mann in die Arme. Peinlich. Sie trat zurück, murmelte eine Entschuldigung, mochte gar nicht aufblicken. Da roch sie das Aftershave, sein Aftershave! Sie sah zu ihm hoch und erstarrte.
[ 5] »Hoppla, junge Frau, nicht so hastig!« sagte er mit einem Lächeln, nachdem er den Zusammenprall locker abgefedert hatte. Mit strahlend grünen Augen blickte er sie prüfend an, trat zur Seite und spähte in die Straße, aus der sie gekommen war. Überlegen lächelnd und mit den Worten »Kein Feind in Sicht, Sie können getrost langsamer gehen« setzte er seinen Weg fort, ohne sich nach ihr umzusehen.
[ 5] Sie stand da wie vom Donner gerührt, unfähig, etwas zu sagen, und hielt ihren dicken Umschlag vor der Brust an sich gepresst: Das war er!

Mit weichen Knien wankte sie zum Briefkasten und warf ihr Manuskript ein. Sie hatte es sich fest vorgenommen, daran konnte auch das Erscheinen ihres Traum-Mannes sie nicht hindern. Danach setzte sich auf die Schwelle eines Hauseingangs, um nachzudenken. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Sie saß eine ganze Weile so da, bis sich ihr innerer Aufruhr ein wenig gelegt hatte. Die Kälte, die durch ihre Jeans kroch, erinnerte sie an ihren Vater, der es ganz und gar nicht mochte, wenn sie sich auf kalten Stein setzte, nicht mal für einen kurzen Moment. ›Nur noch einen Augenblick, bis ich einen Plan habe‹, versuchte sie, ihre väterliche innere Stimme zu besänftigen und blieb sitzen.
[ 5] Sie musste ihn kennenlernen, musste ihn erobern. Unbedingt. Aber wie? Wäre sie doch nur hinter ihm hergelaufen, hätte beobachtet, wohin er gegangen ist! Nun konnte sie nur hoffen, dass er nicht zufällig oder gar einmalig hier herumgelaufen war. Andererseits wäre er ihr doch sicherlich früher schon aufgefallen, wenn er in der Gegend wohnte. Vielleicht sollte sie ihm einfach am nächsten Tag um dieselbe Zeit auflauern, sich dafür einen weiteren Tag frei nehmen. Aber vielleicht hatte sie ihn abends bereits gefunden. Den Rest des heutigen Tages würde sie auf jeden Fall dazu nutzen, Detektiv zu spielen: Das Leben konnte so aufregend sein!
[ 5] Sie konnte es gar nicht abwarten, ihrer besten Freundin Sarah diese brisanten Neuigkeiten zu berichten. Blöd nur, dass die heute bis 19 Uhr in der Bibliothek arbeiten musste. Das war wirklich kein geeigneter Ort für so eine Geschichte. Die Regale hatten Ohren. Eine SMS würde sicherstellen, dass Sarah wenigstens nach Feierabend verfügbar wäre:
[ 8]treffen 19:05h bei pete: sensation!!!

Das reichte, sie kannte die Neugier ihrer Freundin und konnte sich vorstellen, wie die nun die Stunden bis Feierabend zählte. So weit, so gut. Und nun? Was tun mit der freien Zeit? Sie stand auf, lief ziellos auf und ab, blieb stehen, sah sich um. Er würde wohl kaum den Weg zurückkommen, den er gerade erst gegangen war? Oder doch? Man konnte ja nicht wissen. Aber er durfte sie nicht wieder so auf der Straße treffen, er musste ihr ganz zufällig an einem Ort begegnen, der ihm Gemeinsamkeit signalisierte und ihr mehr Würde verlieh als beim achtlosen Auf-der-Straße-Herumrennen.
[ 5] Wie findet man einen Menschen, von dem man nur weiß, wie er aussieht? In eine Suchmaschine kann man einen Namen eingeben und bekommt ein Bild. Meistens. Aber umgekehrt? – Ja, wenn sie über die Such-Funktionen der Polizei verfügen könnte … Rasterfahndung … Bilderkennung … Andererseits: Vielleicht sah er ja nicht nur so aus wie ihr Roman-Traum-Mann, vielleicht hatte er ja auch denselben Beruf?
 



 
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