xavia
Mitglied
2. Rudolf
Toni kommt auf den Hund
So schnell ihre Beine sie tragen wollten eilte sie zurück nach Hause. Wäre der wohlbekannte Fremde ihr wieder entgegengekommen, hätte es wohl erneut einen Zusammenprall gegeben, aber das Schicksal wollte es anders.
[ 5] Sie erreichte ihr Wohnhaus, erklomm die oberste Etage – drei Stockwerke zu Fuß, ihr täglicher Sport: Das war für sie ausschlaggebend gewesen, diese Wohnung zu mieten. Das, und die Aussicht. Und der Preis. So günstig konnte man nahe der Innenstadt kaum anderswo wohnen. Keuchend ließ sie sich aufs Bett fallen. Als sie wieder langsamer atmen konnte, klappte sie ihren Laptop auf, der nach dem Ausdruck des Romans – ihres Romans! – im Warte-Modus bereitgelegen hatte.
[ 5] Mit schnellen Fingern tippte sie den Namen ihrer Stadt und den Suchbegriff ›Psychotherapeut‹ in die Suchmaschine ein und freute sich, dass ihr sogleich Psychotherapeuten und Psychologen angeboten wurden, manche sogar mit Foto. Allerdings umfasste die Liste 162 Personen. Keine leichte Aufgabe, den Richtigen herauszufinden. Wenn er überhaupt dabei war. Egal, irgend etwas muss sie schließlich tun, während sie auf Sarah wartete. Sie stellte sich eine Liste der Männer zusammen, 58 an der Zahl. Ein helfender Beruf und schon gibt es einen Frauenüberschuss, dachte sie. Nur gut für mich, dann habe ich nicht so viele zu überprüfen. Zwei hatten ein Bild dabei. Die konnte sie auch streichen. Die übrigen 56 Nummern schickte sie zum Drucker.
[ 5] Sechsundfünfzig Anrufe! Möglicherweise ließ sich sowas gar nicht telefonisch regeln. Sie konnte schließlich nicht fragen, wie der Therapeut aussah, bei dem sie sich anmelden wollte. Oder doch? Eine gute Geschichte musste her! Das sollte doch ein Leichtes sein für eine Schriftstellerin!
[ 5] Darüber hinaus brauchte sie einen ›Plan B‹. Wie oft hatte sie das schon bei problematischen Situationen erlebt, dass dann doch der ›Plan B‹ schließlich zum ersehnten Erfolg führte. Vielleicht lief ihr Traum-Mann gerade in diesem Moment unten an ihrer Haustür vorbei und sie sah ihn nicht. Sie konnte ihre Anrufe ebenso gut unten auf der Straße machen, aber sie musste Aufsehen vermeiden.
[ 5] Ein Hund musste her! So schnell wie möglich. Ein Hund ist ein wunderbarer Vorwand, auf der Straße herumzulungern. Sarah war ganz verrückt nach Tieren. Sie hatte ihr mal davon erzählt, dass man sich im Tierheim einen Hund oder eine Katze ausleihen konnte, wenn man noch nicht sicher wusste, ob man damit zurechtkam, ein Haustier zu halten. Sie war sich damals ganz sicher gewesen, dass sie kein Haustier brauchte, aber jetzt – schon hatte sie ihre Jacke und den Autoschlüssel geschnappt und eilte die Stufen hinunter. Sie kannte den Weg zum Tierheim, war mit Sarah schon einmal dort gewesen.
[ 5] Froh über ihre gute Idee steckte sie die Liste mit den Telefonnummern in die Tasche für den Fall, dass sie unterwegs schon eine Gelegenheit finden würde, mit ›Plan A‹ zu beginnen.
Als Toni das Gebäude des Tierheims betrat, kam ihr eine Wolke von Tier-Geruch entgegen und eine Welle von Lebendigkeit, ein wildes Wirrwarr von Gefühlen der Tiere in den Käfigen. Fast hätte sie sofort die Flucht ergriffen, aber das erlaubte sie sich nicht. Schließlich war dieses ihr ›Plan B‹ und der wollte vorbereitet werden. Ein wenig plagte sie das schlechte Gewissen, diese Institution für ihre Zwecke auszunutzen, aber nicht sehr. Immerhin hatten ja beide Seiten etwas davon.
[ 5] »Guten Tag, ich möchte einen Hund zum Gassi-Gehen ausleihen. Geht das? Jetzt gleich?«
[ 5] »Wir sind für jede helfende Hand dankbar. Sind Sie Mitglied in unserem Tierschutzverein? Sind Sie gegen Tetanus geimpft? Haben Sie Ihren Personalausweis dabei?« Die Frau am Empfang schien diese Liste schon oft präsentiert zu haben, denn sie wirkte ein wenig gelangweilt, brachte aber dennoch ein professionelles Lächeln zustande.
[ 5] »Alles nein, nur den Führerschein, leider. Es ist mein erstes Mal. Ich wusste das nicht mit dem Perso. Ich werde mich um alles kümmern. Bitte, machen Sie eine Ausnahme für mich! Ich bin heute morgen aufgewacht und hatte das Gefühl, dass mein Leben eine entscheidende Wendung nehmen wird. Es ist extrem wichtig für mich, das heute in die Tat umzusetzen. Ich weiß, es ist das Richtige und ich weiß, es muss jetzt sein, unbedingt heute!«
[ 5] Sie reichte den Führerschein über den Tresen zu der hübschen jungen Frau, die ihr sofort sympathisch war und setzte ihr liebstes und erfolgsgewohntestes Lächeln auf, das, mit dem sie ihre Eltern um den kleinen Finger wickeln konnte, alle beide. Die Frau schaute sie unbeeeindruckt und prüfend an.
[ 5] Toni konnte sich gut vorstellen, was in deren Kopf vorging: Impulsive Handlungen passen nicht zu der dauerhaften Verantwortung, die das Halten eines Haustiers bedeutete. Das Probe-Gassi-Gehen sollte ja die Chance haben, zu einer längeren Freundschaft mit dem betreffenden Tier zu führen, am besten dazu, dass das Tier ein neues Zuhause bekam. Toni versuchte, solchen Bedenken abzuhelfen:
[ 5] »Ich weiß wohl, dass ich noch manches lernen muss, aber dazu brauche ich einen Hund, das kann ich nicht allein. Ich habe mit Zimmerpflanzen angefangen, Verantwortung zu lernen. Die gedeihen jetzt ganz prächtig bei mir. Heute ist der Moment für den nächsten Schritt, der Anfang eines neuen Lebensabschnitts, das weiß ich ganz genau. Ich fühle mich reif dafür.« Sie hoffte, nicht zu dick aufgetragen zu haben, die Worte waren nur so aus ihr herausgesprudelt.
[ 5] »Na gut, dieses eine Mal. Aber merken Sie es sich für das nächste Mal. Wir haben unsere Vorschriften.«
[ 5] »Ja, klar, das verstehe ich. Ich werde eintreten in den Verein, geben Sie mir gleich ein Formular mit. Und was war das noch? Impfen? Ja, mache ich auch. Und es kommt ganz bestimmt nicht wieder vor, dass ich hier ohne Perso erscheine.«
[ 5] Sie kam sich gemein vor, weil ohne ihr Zutun in ihrem Kopf der Gedanke entstand: ›Es kommt hoffentlich überhaupt nicht vor, dass ich hier noch mal erscheinen muss.‹
[ 5] Wie aus dem Nichts war ein hagerer junger Mann in Arbeitskleidung an ihre Seite getreten. »Kommen Sie, suchen Sie sich einen aus. Haben Sie Erfahrungen mit Hunden?«
[ 5] »Nein, nicht direkt. Ich … hatte mal einen Goldfisch. Als Kind.« Sie folgte dem Mann und überlegte fieberhaft, wie sie diesen schlechten Start auswetzen konnte, machte einen neuen Anlauf: »Ich habe mir immer einen Hund gewünscht, aber meine Eltern haben es nicht erlaubt. Jetzt habe ich eine eigene Wohnung. Und ich will mir einen Schrebergarten zulegen.« – Armselig. Nicht besonders originell. Ach, was soll's. Das ist nur ein Helfer, der trifft hier keine Entscheidungen.
In dem Hundezwinger, zu dem er sie führte, herrschte ein reges Treiben. Aufgeregt kamen einige der Hunde nach vorn gelaufen. Sicherlich wussten sie, dass das ihre Chance war, ein wenig Abwechslung zu bekommen. Wenig interessiert guckte Toni in den Käfig. Ein kleiner weißer Hund gebärdete sich besonders wild. Er sprang, so hoch er konnte und bellte aus Leibeskräften, machte einen verzweifelten Eindruck. Ein anderer, etwas größerer brauner hatte es anscheinend schon aufgegeben. Er stand nur da und blickte mäßig interessiert zu ihr herüber. Ein anderer brauner und ein gefleckter kümmerten sich gar nicht um sie. Die beiden spielten miteinander und schienen ganz vertieft darin zu sein, sich gegenseitig in den Schmutz zu werfen.
[ 5] Sie hatte es eilig, wollte sich das aber nicht anmerken lassen. Da half nur die Flucht nach vorn. Der braune würde am wenigsten Ärger machen. »Der da, der braune, kann ich den mitnehmen? Ich habe das Gefühl, der hat nur auf mich gewartet. Ich mag ihn« , log sie.
[ 5] Der Mann sah sie zweifelnd an. – Oder kam ihr das nur so vor, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte? »Wenn Sie meinen. Der wird Ihnen keine Probleme machen. Er ist sehr anspruchslos und gutmütig. Er ist schon fünf Jahre alt, zwei davon hier bei uns. Seine Besitzerin ist gestorben. Normalerweise hätte man ihn einschläfern sollen. So alte Hunde sind schwer zu vermitteln.«
[ 5] ›Oh weh, er will mir jetzt doch wohl nicht dessen ganze Lebensgeschichte erzählen?‹ dachte sie, sagte aber: »Ach, der Ärmste! Dann hat er doch einen Spaziergang verdient. Holen Sie ihn mir bitte heraus. Ich nehme ihn gleich mit. Wann muss er zurück sein?«
[ 5] Um 13:30 Uhr. Nachmittags sollen die Hunde hier sein, damit sie eine Chance haben, ein neues Zuhause zu finden. Sie hätten ihn aber schon um 10 abholen können. Fürs nächste Mal.
[ 5] »Ah ja, gut zu wissen, danke.« Sie kam sich wie eine Verräterin vor, als sie die Leine entgegennahm. Schnell wandte sie sich dem Ausgang zu. Der braune Hund folgte ihr ohne zu zögern.
[ 5] »Sein Name ist Rudolf!« rief der dünne Mann ihr hinterher. – Noch so ein Fauxpas, dass sie nicht danach gefragt hatte!
[ 5] »Ja, klar, danke schön und bis nachher!« – Schlimmer ging es ja nun wohl wirklich nicht. Sie kam sich schrecklich blöd vor, als sie der freundlichen Dame an der Rezeption möglichst fröhlich zuwinkte und mit Rudolf das Haus verließ.
Der dünne Mann hatte nicht übertrieben: Rudolf war wirklich so unkompliziert, wie er ihn angepriesen hatte. Brav sprang er auf die Rückbank ihres Minis, als sie den Vordersitz vorklappte. Er benahm sich, als sei er immer schon in Kleinwagen durch die Gegend gefahren worden und legte sich dort nieder. Eine Hundedecke hätte sie mitnehmen sollen, Mist. Da müsste sie wohl hinterher mit dem Staubsauger seine Haare beseitigen.
[ 5] Egal. Nur schnell, schnell, sonst ging ihr der Traum-Mann noch durch die Lappen! Was die Parkplatz-Suche anging, schien heute ihr Tag zu sein: Sie fand einen freien Platz direkt vor ihrer Haustür, ein seltener Glücksfall um diese Zeit. Zufrieden machte sie sich mit Rudolf auf den Weg. Sie gingen zum Briefkasten, verweilten dort eine Zeitlang, als wenn der Hund sein Geschäft machen wollte. Da fiel ihr ein, dass sie gar nicht an Plastikbeutel gedacht hatte. Was, wenn er nun wirklich sein Geschäft machte? Als er verdächtig lange an einer Stelle schnupperte, zog sie ihn eilig fort, ging mit ihm zurück bis zu ihrem Haus und noch ein Stück weiter, bis die Straße sich gabelte und sie nicht wusste, welche Richtung ihr Traum-Mann nach dem Zusammenstoß eingeschlagen hatte. Dann ging es zurück zum Briefkasten und noch ein Stück weiter und wieder denselben Weg zurück. Hoffentlich sah niemand aus dem Fenster. Rudolf schien es nicht zu stören, dass es immer derselbe Weg war. Er schnüffelte begeistert an immer denselben Stellen der Häuser, die er längst schon selbst markiert hatte, las sicherlich ganze Geschichten mit seiner Nase dort ab. Toni überlegte sich derweil eine Geschichte, die sie den Sprechstundenhilfen der Psychotherapeuten auftischen wollte. Dann wählte sie die erste Nummer auf ihrer Liste.
Toni kommt auf den Hund
So schnell ihre Beine sie tragen wollten eilte sie zurück nach Hause. Wäre der wohlbekannte Fremde ihr wieder entgegengekommen, hätte es wohl erneut einen Zusammenprall gegeben, aber das Schicksal wollte es anders.
[ 5] Sie erreichte ihr Wohnhaus, erklomm die oberste Etage – drei Stockwerke zu Fuß, ihr täglicher Sport: Das war für sie ausschlaggebend gewesen, diese Wohnung zu mieten. Das, und die Aussicht. Und der Preis. So günstig konnte man nahe der Innenstadt kaum anderswo wohnen. Keuchend ließ sie sich aufs Bett fallen. Als sie wieder langsamer atmen konnte, klappte sie ihren Laptop auf, der nach dem Ausdruck des Romans – ihres Romans! – im Warte-Modus bereitgelegen hatte.
[ 5] Mit schnellen Fingern tippte sie den Namen ihrer Stadt und den Suchbegriff ›Psychotherapeut‹ in die Suchmaschine ein und freute sich, dass ihr sogleich Psychotherapeuten und Psychologen angeboten wurden, manche sogar mit Foto. Allerdings umfasste die Liste 162 Personen. Keine leichte Aufgabe, den Richtigen herauszufinden. Wenn er überhaupt dabei war. Egal, irgend etwas muss sie schließlich tun, während sie auf Sarah wartete. Sie stellte sich eine Liste der Männer zusammen, 58 an der Zahl. Ein helfender Beruf und schon gibt es einen Frauenüberschuss, dachte sie. Nur gut für mich, dann habe ich nicht so viele zu überprüfen. Zwei hatten ein Bild dabei. Die konnte sie auch streichen. Die übrigen 56 Nummern schickte sie zum Drucker.
[ 5] Sechsundfünfzig Anrufe! Möglicherweise ließ sich sowas gar nicht telefonisch regeln. Sie konnte schließlich nicht fragen, wie der Therapeut aussah, bei dem sie sich anmelden wollte. Oder doch? Eine gute Geschichte musste her! Das sollte doch ein Leichtes sein für eine Schriftstellerin!
[ 5] Darüber hinaus brauchte sie einen ›Plan B‹. Wie oft hatte sie das schon bei problematischen Situationen erlebt, dass dann doch der ›Plan B‹ schließlich zum ersehnten Erfolg führte. Vielleicht lief ihr Traum-Mann gerade in diesem Moment unten an ihrer Haustür vorbei und sie sah ihn nicht. Sie konnte ihre Anrufe ebenso gut unten auf der Straße machen, aber sie musste Aufsehen vermeiden.
[ 5] Ein Hund musste her! So schnell wie möglich. Ein Hund ist ein wunderbarer Vorwand, auf der Straße herumzulungern. Sarah war ganz verrückt nach Tieren. Sie hatte ihr mal davon erzählt, dass man sich im Tierheim einen Hund oder eine Katze ausleihen konnte, wenn man noch nicht sicher wusste, ob man damit zurechtkam, ein Haustier zu halten. Sie war sich damals ganz sicher gewesen, dass sie kein Haustier brauchte, aber jetzt – schon hatte sie ihre Jacke und den Autoschlüssel geschnappt und eilte die Stufen hinunter. Sie kannte den Weg zum Tierheim, war mit Sarah schon einmal dort gewesen.
[ 5] Froh über ihre gute Idee steckte sie die Liste mit den Telefonnummern in die Tasche für den Fall, dass sie unterwegs schon eine Gelegenheit finden würde, mit ›Plan A‹ zu beginnen.
Als Toni das Gebäude des Tierheims betrat, kam ihr eine Wolke von Tier-Geruch entgegen und eine Welle von Lebendigkeit, ein wildes Wirrwarr von Gefühlen der Tiere in den Käfigen. Fast hätte sie sofort die Flucht ergriffen, aber das erlaubte sie sich nicht. Schließlich war dieses ihr ›Plan B‹ und der wollte vorbereitet werden. Ein wenig plagte sie das schlechte Gewissen, diese Institution für ihre Zwecke auszunutzen, aber nicht sehr. Immerhin hatten ja beide Seiten etwas davon.
[ 5] »Guten Tag, ich möchte einen Hund zum Gassi-Gehen ausleihen. Geht das? Jetzt gleich?«
[ 5] »Wir sind für jede helfende Hand dankbar. Sind Sie Mitglied in unserem Tierschutzverein? Sind Sie gegen Tetanus geimpft? Haben Sie Ihren Personalausweis dabei?« Die Frau am Empfang schien diese Liste schon oft präsentiert zu haben, denn sie wirkte ein wenig gelangweilt, brachte aber dennoch ein professionelles Lächeln zustande.
[ 5] »Alles nein, nur den Führerschein, leider. Es ist mein erstes Mal. Ich wusste das nicht mit dem Perso. Ich werde mich um alles kümmern. Bitte, machen Sie eine Ausnahme für mich! Ich bin heute morgen aufgewacht und hatte das Gefühl, dass mein Leben eine entscheidende Wendung nehmen wird. Es ist extrem wichtig für mich, das heute in die Tat umzusetzen. Ich weiß, es ist das Richtige und ich weiß, es muss jetzt sein, unbedingt heute!«
[ 5] Sie reichte den Führerschein über den Tresen zu der hübschen jungen Frau, die ihr sofort sympathisch war und setzte ihr liebstes und erfolgsgewohntestes Lächeln auf, das, mit dem sie ihre Eltern um den kleinen Finger wickeln konnte, alle beide. Die Frau schaute sie unbeeeindruckt und prüfend an.
[ 5] Toni konnte sich gut vorstellen, was in deren Kopf vorging: Impulsive Handlungen passen nicht zu der dauerhaften Verantwortung, die das Halten eines Haustiers bedeutete. Das Probe-Gassi-Gehen sollte ja die Chance haben, zu einer längeren Freundschaft mit dem betreffenden Tier zu führen, am besten dazu, dass das Tier ein neues Zuhause bekam. Toni versuchte, solchen Bedenken abzuhelfen:
[ 5] »Ich weiß wohl, dass ich noch manches lernen muss, aber dazu brauche ich einen Hund, das kann ich nicht allein. Ich habe mit Zimmerpflanzen angefangen, Verantwortung zu lernen. Die gedeihen jetzt ganz prächtig bei mir. Heute ist der Moment für den nächsten Schritt, der Anfang eines neuen Lebensabschnitts, das weiß ich ganz genau. Ich fühle mich reif dafür.« Sie hoffte, nicht zu dick aufgetragen zu haben, die Worte waren nur so aus ihr herausgesprudelt.
[ 5] »Na gut, dieses eine Mal. Aber merken Sie es sich für das nächste Mal. Wir haben unsere Vorschriften.«
[ 5] »Ja, klar, das verstehe ich. Ich werde eintreten in den Verein, geben Sie mir gleich ein Formular mit. Und was war das noch? Impfen? Ja, mache ich auch. Und es kommt ganz bestimmt nicht wieder vor, dass ich hier ohne Perso erscheine.«
[ 5] Sie kam sich gemein vor, weil ohne ihr Zutun in ihrem Kopf der Gedanke entstand: ›Es kommt hoffentlich überhaupt nicht vor, dass ich hier noch mal erscheinen muss.‹
[ 5] Wie aus dem Nichts war ein hagerer junger Mann in Arbeitskleidung an ihre Seite getreten. »Kommen Sie, suchen Sie sich einen aus. Haben Sie Erfahrungen mit Hunden?«
[ 5] »Nein, nicht direkt. Ich … hatte mal einen Goldfisch. Als Kind.« Sie folgte dem Mann und überlegte fieberhaft, wie sie diesen schlechten Start auswetzen konnte, machte einen neuen Anlauf: »Ich habe mir immer einen Hund gewünscht, aber meine Eltern haben es nicht erlaubt. Jetzt habe ich eine eigene Wohnung. Und ich will mir einen Schrebergarten zulegen.« – Armselig. Nicht besonders originell. Ach, was soll's. Das ist nur ein Helfer, der trifft hier keine Entscheidungen.
In dem Hundezwinger, zu dem er sie führte, herrschte ein reges Treiben. Aufgeregt kamen einige der Hunde nach vorn gelaufen. Sicherlich wussten sie, dass das ihre Chance war, ein wenig Abwechslung zu bekommen. Wenig interessiert guckte Toni in den Käfig. Ein kleiner weißer Hund gebärdete sich besonders wild. Er sprang, so hoch er konnte und bellte aus Leibeskräften, machte einen verzweifelten Eindruck. Ein anderer, etwas größerer brauner hatte es anscheinend schon aufgegeben. Er stand nur da und blickte mäßig interessiert zu ihr herüber. Ein anderer brauner und ein gefleckter kümmerten sich gar nicht um sie. Die beiden spielten miteinander und schienen ganz vertieft darin zu sein, sich gegenseitig in den Schmutz zu werfen.
[ 5] Sie hatte es eilig, wollte sich das aber nicht anmerken lassen. Da half nur die Flucht nach vorn. Der braune würde am wenigsten Ärger machen. »Der da, der braune, kann ich den mitnehmen? Ich habe das Gefühl, der hat nur auf mich gewartet. Ich mag ihn« , log sie.
[ 5] Der Mann sah sie zweifelnd an. – Oder kam ihr das nur so vor, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte? »Wenn Sie meinen. Der wird Ihnen keine Probleme machen. Er ist sehr anspruchslos und gutmütig. Er ist schon fünf Jahre alt, zwei davon hier bei uns. Seine Besitzerin ist gestorben. Normalerweise hätte man ihn einschläfern sollen. So alte Hunde sind schwer zu vermitteln.«
[ 5] ›Oh weh, er will mir jetzt doch wohl nicht dessen ganze Lebensgeschichte erzählen?‹ dachte sie, sagte aber: »Ach, der Ärmste! Dann hat er doch einen Spaziergang verdient. Holen Sie ihn mir bitte heraus. Ich nehme ihn gleich mit. Wann muss er zurück sein?«
[ 5] Um 13:30 Uhr. Nachmittags sollen die Hunde hier sein, damit sie eine Chance haben, ein neues Zuhause zu finden. Sie hätten ihn aber schon um 10 abholen können. Fürs nächste Mal.
[ 5] »Ah ja, gut zu wissen, danke.« Sie kam sich wie eine Verräterin vor, als sie die Leine entgegennahm. Schnell wandte sie sich dem Ausgang zu. Der braune Hund folgte ihr ohne zu zögern.
[ 5] »Sein Name ist Rudolf!« rief der dünne Mann ihr hinterher. – Noch so ein Fauxpas, dass sie nicht danach gefragt hatte!
[ 5] »Ja, klar, danke schön und bis nachher!« – Schlimmer ging es ja nun wohl wirklich nicht. Sie kam sich schrecklich blöd vor, als sie der freundlichen Dame an der Rezeption möglichst fröhlich zuwinkte und mit Rudolf das Haus verließ.
Der dünne Mann hatte nicht übertrieben: Rudolf war wirklich so unkompliziert, wie er ihn angepriesen hatte. Brav sprang er auf die Rückbank ihres Minis, als sie den Vordersitz vorklappte. Er benahm sich, als sei er immer schon in Kleinwagen durch die Gegend gefahren worden und legte sich dort nieder. Eine Hundedecke hätte sie mitnehmen sollen, Mist. Da müsste sie wohl hinterher mit dem Staubsauger seine Haare beseitigen.
[ 5] Egal. Nur schnell, schnell, sonst ging ihr der Traum-Mann noch durch die Lappen! Was die Parkplatz-Suche anging, schien heute ihr Tag zu sein: Sie fand einen freien Platz direkt vor ihrer Haustür, ein seltener Glücksfall um diese Zeit. Zufrieden machte sie sich mit Rudolf auf den Weg. Sie gingen zum Briefkasten, verweilten dort eine Zeitlang, als wenn der Hund sein Geschäft machen wollte. Da fiel ihr ein, dass sie gar nicht an Plastikbeutel gedacht hatte. Was, wenn er nun wirklich sein Geschäft machte? Als er verdächtig lange an einer Stelle schnupperte, zog sie ihn eilig fort, ging mit ihm zurück bis zu ihrem Haus und noch ein Stück weiter, bis die Straße sich gabelte und sie nicht wusste, welche Richtung ihr Traum-Mann nach dem Zusammenstoß eingeschlagen hatte. Dann ging es zurück zum Briefkasten und noch ein Stück weiter und wieder denselben Weg zurück. Hoffentlich sah niemand aus dem Fenster. Rudolf schien es nicht zu stören, dass es immer derselbe Weg war. Er schnüffelte begeistert an immer denselben Stellen der Häuser, die er längst schon selbst markiert hatte, las sicherlich ganze Geschichten mit seiner Nase dort ab. Toni überlegte sich derweil eine Geschichte, die sie den Sprechstundenhilfen der Psychotherapeuten auftischen wollte. Dann wählte sie die erste Nummer auf ihrer Liste.