Tütken - Flucht vorm Ministerium (3) - Totgesagt, gleichwohl unter den Lebenden (2)

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ahorn

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Schnuffi weiß alles

Wie jeden Morgen, wenn Antonia bei den Oberländer übernachtete, kümmerte sie sich um die Kaninchen. Es waren die einzigen Tiere, die sie ohne Matthias Dabeisein fütterte. Ihre Scheu hatte sie im letzten Jahr abgelegt, allerdings besaß sie weiterhin einen Respekt vor den großen Tieren, und diese Gruppe fing bei ihr bereits bei den Ziegen an.
Am liebsten mochte sie Schnuffi. Eigentlich gehörte es Matthias. Er hatte es ihr geschenkt, soweit jemand Tiere verschenken kann. Schnuffi war ein Zauberkaninchen. Immer, wenn Antonia zornig war, sodann sein weiches schneeweißes Fell streichelte, nahm er ihr all den Zorn ab und machte sie glücklich.
Hindrik aus ihrem Leben getilgt, hüpfte, tänzelte sie, wie ein kleines Mädchen über den Hof. Am Eingang zum Haupthaus zupfte sie eine Malvenblüte ab, steckte diese sich hinters Ohr und betrat das Haus.

Sie kehrte in der Küche ein, blieb sogleich stehen, wunderte sich. Antonia wunderte sich nicht darüber, dass Alina ein weißes Rüschenkleid trug, welches Klara Sesemann aus Heide eher zu Gesicht stand. Dabei hatte sich Alina über sie lustig gemacht, als sie dieses Kleid anhatte. Sie mit dieser Klara verglich.
Da war die Welt noch anders. Alina war es gewesen, die sich darüber aufregte, dass sie im Internat Rock tragen musste. Und sie? Sie betrat vor mehr als einem Jahr eine neue Welt, nein, eine neue alte Welt.
Zurück von Tanjas Hochzeit an dem Ort, mit dem sie im Rückblick nichts für sie Erquickendes verband, verbannte sie alle Kleider, welche nur den Anschein hatten, irgendetwas Jungenhaftes auszustrahlen aus ihrem Schrank, kleidete sich neu ein. Erst nachdem sie Tami kennengelernt hatte, sie ihren verwegenen Trip an der Nordseeküste vollbracht hatten, erkannte sie, dass nicht die Kleider einen Menschen ausmachten, das Geschlecht definierten, sondern die Einstellung. Jeder war, wie er war. Nicht das Umfeld oder gar die Gene prägten einen Menschen, sondern das, was man im Herzen trug.
Stephen, Stephanie, trug ihr Herz am rechten Platz. Wenngleich niemand offen mit der Wahrheit umgegangen war, wusste Antonia, obwohl sie oft anderen Theorien gerne nachging, dass sie ihr in einem entscheidenden Moment den Hinweis gegeben hatte. Es war vom Standesamt, vor dem Standesamt in Passau, in dem sich Stephanie und Tanja das Jawort gegeben hatten. Sie sah es, als wäre kein Tag seitdem vergangen. Stephanie trug eine Lederhose, die sie dermaßen eng einzwängte, dass Antonia es sah. Es sah, was fehlte.

Sie glaubte nie an die Geschichte, in der Stephen bei einem Motorradunfall sein Glied verloren hätte. Wenn dem gewesen wäre, hätte er es versteckt, vor Scham verborgen. Da kannte sie sich aus. Stephanie war nie ein Junge, gar ein Mann gewesen, davon ging Antonia aus. Der Alfons, Matthias Großvater, hatte sie vertrieben. Der in seinem Wahn aus Blut und Ehre, Manneskraft, nie, weder toleriert, gar noch akzeptiert hätte, dass sein Enkel in Minirock und High Heels ein Teil der Familie würde.
Flucht. Flucht, der einzige Weg für sie. Dennoch kam sie für einen Moment zurück. Die Liebe zu ihrer Mutter war für sie stärker als ihre Angst. Der Mutter ein Leben zu schenken, was ihr zustand. Keiner sollte sie von dem Hof vertreiben, auf dem sie lebte, arbeitete. Für den Augenblick der Eheschließung mit Tanja wurde ein letztes Mal aus Stephanie Stephen.
Denn dieses war das Testament des Alten. Dem erstgeborenen Enkel vermachte er den Hof sowie all sein Hab und Gut, wenn dieser verheiratet und ein Kind besaß. Antonia war dieses Kind. Nicht, dass dies als Beweis galt, dass Stephanie wahrlich ihr leiblicher Vater war. Eidesstattlich hatte er sie angenommen, und Bärbel dies bestätigt. Dies erfuhr Antonia von Aishe.
Ein Tag. Ein lächerlicher Tag, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte. Keine Reichtümer in einem ominösen Schließfach trieben den Admiral, sondern Blutgeld für eine Unterschrift.
Lasst die Toten ruhen, denn sie wussten, nicht was sie tun.
Ein von diesen lächerlichen Reimen ihres Großvaters Nahne, die ihr immer in den Sinn kamen. Sie vermisste ihn, diesen knochigen, dürren, kleinen Seebären mit seinem Seemannsgarn.

Das Rüschenkleid interessierte sie nicht. Sie hatte es Alina geschenkt. Wie all ihre Kleider und Röcke, mit Ausnahme des marineblauen Abendkleides, und ihren Schuhen. Alina lebte auf größerem Fuß.
Es war ihr gleichfalls egal, dass Valentin in seinem Staat am Kopfende des Küchentisches saß, seine Finger an seiner Lederhose abwischte. An der Lederhose, von der er behauptet, dass diese im Notfall eine gute Suppe abgebe.
Sogar Matthias in seinem Anzug spielte keine Rolle bei ihrer Verwunderung. Wenngleich sie es liebt, wenn er diesen trug. Der Anzug für sich war es nicht, sondern der Duft, den er verströmte. Den Duft von Lavendelseife, wie bei der Großmutter, wenn sie ihren Wäscheschrank öffnete, um frische Bettwäsche aus diesem zu nehmen.
Auch Franziska, die ihrem Manne in ihrer Tracht, auf ihrem Kopf ihre Haube, vis-à-vis saß, konnte sie nichts Außergewöhnliches abgewinnen. Nicht einmal die Konversation, die über Antonia hereinbrach, wenn sie sonntäglich zum Frühstück erschien.

Franziska wandte sich zu ihr um. „Madel, so kannst nicht in die Kirch. Zieh dir a Kleid über, zuminst a recht Hos, was soll de Leut von uns denken.“
„Mama, das trägt man heut so“, sprang Alina ihr bei.
„Aba in die Kirch trägt man keen kurz Hos oda is se a kleen Bub.“
„Kurze Hose? Hotpants.“
„Och keen Hutpand.“
Alina verdrehte ihre Augen. „Hotpants! Heißes Höschen.“
„Hohl mi de Deibel.“
Antonia kehrte wie jedem Sonntag, wenn sie bei den Oberländern verweilte, um. Sie konnte es zumindest probieren. Bloß dieses Mal war es anders.
„Bleib. Iss erst mal. Umzieh kannst die später. Setz di an mei Seit.“
Dieser eine Satz und der Umstand, dass Alina auf ihren Platz vis-à-vis Mathias saß, verwunderte sie. Seit über einem Jahr saß sie auf ein und denselben Platz. Beim ersten Mittagsessen bei den Oberländer hatte sie sich diesen ergattert, um aus dem Fenster schauen zu können. Denn hinter Matthias befand sich das Fenster zum Hof.
„Ontiona setz die.“
Antonia deutete auf Alina, die, soweit sie es sah, zu schmunzeln begann. „Aber.“
„Nichts aba, des is de Schichsal, de Fügung, das goldene Häubchen täuscht sich nie.“
„Franzi, du und dein Aberglaube“, zeterte Valentin.
Antonia setzte sich hin, starrte Franziska an.
„I hab‘s gleich gewusst beim ersten Tag“, sie strich über Antonias Hand, „Als i di gesahn hab. Dann des goidene Häubchn. Verschwunden war’s all de Jahr. Seit de Stephen.“ Sie senkte ihren Kopf und tupfte sich die Augen.
„Schmarrn, de Stephen, de …“, donnerte Valentin ihr entgegen.
Franziska klopfte an ihre Brust. „A Muada sieht mid den Herzn ned mid den Augn.“
„Damisch seid ihr olle Miteinanda, des is ois“, konterte er, winkte ab und biss in sein Leberwurstbrot.
Dermaßen verstand sie nach all der Zeit auf Bayrisch, dass das Gespräch um Stephen und dem goldenen Häubchen kreiste. Dem Häubchen, dass ihr Franziska am Tag vor der standesamtlichen Trauung aufgesetzt hatte.

Sie erinnerte sich an den Tag, als wäre kein Tag seitdem vergangen.
Tanja, Aishe, Alina und sie fuhren nach Passau. Eis essen gehen, hieß es. Dabei war dies nur die halbe Wahrheit. Franziska hatte Aishe beauftragt, für Alina ein Kleid für die Standesamtliche zu kaufen. Gewehrt hatte sich Alina wie ein Kindergartenkind. Aishe und Tanja fanden dann einen Hosenanzug für sie.
Bepackt mit Taschen und Tüten gingen sie Eis essen, aber nur Alina und sie. Alina erblickte eine Freundin, lief weg. Sie suchte sie, fand sie nicht. Aishe und Tanja nahmen sie mit zum Hof. Bei den Oberländer angekommen stieg Tanja in Fridolins Wagen, fuhr zurück nach Passau, um Alina zu suchen. Antonia machte sich Vorwürfe, dass sie nicht mitgefahren war. Eine Stunde später, derart genau vermochte sie sich nicht mehr daran zu erinnern, stürmte Alina in ihr Zimmer, machte ihr Vorhaltungen. Sie war mit dem Bus gefahren. Franziska hatte sie mehr als nur zur Brust genommen. Ihr eine Strafe auferlegt. Eine Strafe, die Antonia weniger als eine solche empfand. Alina sollte, wie es Brauch war, in einer Tracht Zuckerkuchen an die Dorfbewohner verteilen. Alina in ihrem Zorn befahl ihr, da sie nach ihrer Auffassung schuld war, diese Aufgabe zu übernehmen. Antonia zog sich die Tracht über. Eine Tracht, die nach ihrer Ansicht bereits Generationen von Mädchen anhatten. Sie verschmolz mit dieser. Ihr früheres Leben verblasste, verschwand. Dafür kam es ihr vor, ein fremder Geist ergriff von ihr Besitz. Sie sah Bilder, welche ihr unbekannt waren. Bilder von Mädchen, die Spiele spielten, die sie nur aus Filmen oder Büchern kannten. Die lachten, tobten, vergnügt die Röcke ihrer Kleider warfen und barfuß über Wiesen liefen. Auf einmal fühlte sie sich auf diesem Hof heimisch, als hätte sie nie zuvor woanders gelebt. Dabei sah sie nicht diesen Hof in diesen Bildern. Fremd.
Sie hüpfte wie die Mädchen in diesen Bildern die Treppe herab, stürmte in die Küche. Da sah sie ihn. Stephen.

Aus ihrer Erringung zurückkehrend, murmelte sie: „Stephen. Häubchen.“



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Zuletzt bearbeitet:
Hallo Ahorn,

hat das Ende nicht mehr in den ersten Teil gepasst ...:)

Er hatte es ihr geschenkt, soweit ...
... wurde ein letztes Mal aus Stephanie kein Komma Stephen.
Einer von diesen lächerlichen Reimen ... Hat es eine besondere Bewandtnis, die ich jetzt nicht erkenne, dass ab hier alles kursiv geschrieben steht?
Alina lebte auf größerem Fuß.
Sogar Matthias in seinem Anzug spielte ...
... sondern der Duft, den er verströmte.

Iss erst mal.
Antonia deutete auf Alina, die
Komma soweit sie es sah, zu schmunzeln begann.
Nichts aba
Komma des is de Schichsal ...
Sie erinnerte sich an den Tag, als wäre keine TZag seitdem vergangen.

Gewehrt hatte sich Alina wie ein Kindergartenkind.
Alina in ihrem Zorn
kein Komma befahl ihr, da sie nach ihrer Auffassung schuld war, diese Aufgabe zu übernehmen.
Dabei sah
sie nicht diesen Hof in diesen Bildern.
Da
sah sie ihn. Stephen.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 



 
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