Der Haken
Der Tag an dem Heinrich seine Hand verlor, war der schlimmste Tag in seinem Leben. Es war ein Montag. Aber das spielt nur insoweit eine Rolle, als es natürlich eine Vorgeschichte gab.
Die Vorgeschichte, so kurz sie war, begleitete ihn in seinen Träumen. Nacht für Nacht wachte er schweißgebadet auf. Hatte er geschrien? War das sein Schrei, den er gehört hatte, oder war es wieder das grelle Kreischen der Bremsen. Es wäre ihm peinlich gewesen, hätte er Nachbarn durch sein Schreien geweckt. Aber die Bremsen weckten ihn. Dieses Geräusch könnte Gläser zerspringen lassen, so brutal war es, so grausam. Und dann hätte da die Erinnerung an einen Schmerz sein sollen, aber da war kein Schmerz. Da war nichts. Eine große Leere. Die Schmerzen kamen später. Furchtbare Schmerzen.
An diesem Montag wollte er mit der Eisenbahn von Hannover nach Hamburg fahren, um sich auf einen Job als Bauleiter zu bewerben. Der Bahnsteig war ziemlich voll gewesen, als ein Mann ohne Vorwarnung durchdrehte. Er begann, wirres Zeug zu schreien, wurde lauter und lauter und hatte Schaum um den Mund. Er schien große Schmerzen zu haben. Schmerzen, die ihn aggressiv machten. Er schlug um sich, schien Leute anzugreifen. Die wichen zurück. Ein Kind rannte in Panik durch die Wartenden, wohl um sich zu verstecken. Es schien aber keinen sicheren Platz zu finden und rannte, je wilder der Mann wurde, um so wilder durch die Menge, die vor Schrecken starr war. Keiner kümmerte sich um das Kind, ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren. Die Leute waren den Schienen sehr nah gekommen und der einfahrende Zug gab ein Warnsignal, einen Pfiff. In diesem Moment fiel das Kind von der Bahnsteigkante. Der Lokführer leitete sofort eine Notbremsung ein. Heinrich sprang hinunter und riss das Kind von den Schienen. Ende seiner Wahrnehmung. Mehr hatte er von dem Ereignis nicht mitbekommen.
Er wachte im Krankenhaus auf, mit einem dicken Verband um die rechte Hand. Er war benommen, versuchte, aufzustehen und merkte, dass er mit Schläuchen und Kabeln versehen war. Eine Sirene begann zu heulen und Heinrich ließ sich zurücksinken. Ein Pfleger und eine Ärztin waren augenblicklich bei ihm. „Wie fühlen Sie sich?“ Heinrich wusste nicht, wie er sich fühlte. „Ich weiß nicht. ... Was...?“ „Sie hatten einen Unfall. Sie haben einem Kind das Leben gerettet.“ Heinrich wusste von keinem Unfall und von keinem Kind. Sein Schädel brummte, er war schwach, sehr schwach, ohne Kraft. „Alles wird gut.“ Das war die Ärztin. „Was ist mit meiner Hand?“ „Wir konnten sie nicht retten, leider.“ Sie konnten sie nicht retten. Sie konnten sie nicht .... Heinrich war wach. „Heißt das, sie ist ab?“ Er schrie. „Sie ist weg?“ „Die Sanitäter konnten sie nicht finden.“ „Was heißt, Sie konnten sie nicht finden, verdammte Tat. Was heißt denn das, Sie konnten sie nicht ...“ Aus dem Schreien wurde Weinen. „Sie haben ein Kind vor einem herannahenden Zug gerettet und sind dabei überrollt worden. Es ist ein Wunder, dass Sie überlebt haben. Sie sind ein Held.“ Ich bin ein Krüppel, dachte er.
Heinrich war Anfang dreißig, ein kräftiger, körperlicher Mann. Handfest. Er war Zimmerer gewesen, hatte dann ein Ingenieurstudium gemacht und war Bauleiter geworden. Handfest aber nicht unsensibel. Er liebte es, zu rudern. Wenn er mit seinem Einer morgens um sechs über den See pfiff, dann ging sein Herz auf. Aus. Die Hand war nicht zu retten gewesen. Ab. Er sah die Ärztin an. „Ein Held ohne Hand.“ „Seien Sie froh, dass Sie noch am Leben sind.“ „Wie geht es dem Kind?“ „Anja ist wohlauf. Das heißt, sie hat keine Verletzungen.“ „Danke, dass Sie mich behandeln.“ Sie nickte nur. „Versuchen Sie, noch etwas zu schlafen.“
Heinrich bekam eine Ein-Zug System-Hand, die auf die Unterarm-Prothese aufgesteckt wurde. Von der Prothese führte ein Seil über die Schultern. Durch Anspannen der Schulter öffnete sie sich und durch Entspannen schloss sie sich wieder. Man konnte mit der System-Hand also greifen. Es gab einen handähnlichen Handschuh, den er darüber streifen konnte. Als kosmetische Maßnahme.
Das Anpassen der Prothese ließ er gleichmütig, beinahe teilnahmslos über sich ergehen. Er übte verbissen und konnte bald gut mit der neuen Hand umgehen. Schwieriger war schon, mit der linken Hand leserlich schreiben zu lernen, manierlich zu essen und dergleichen.
Als er wieder Augen für seine Umgebung hatte, merkte er, dass den Leuten seine Gegenwart unangenehm war. Sie vermieden den Blick auf seine Hand und in seine Augen. Nur Kinder fragten manchmal, was ihm passiert sei. Die anderen behandelten ihn wie jemanden, der eine ansteckende Krankheit hat. Manche Menschen wichen auf der Straße vor ihm zurück. Sie machten einen Bogen, wenn sie seine Prothese erkannten - einen kleinen Bogen nur, aber Heinrich bemerkte ihn schmerzlich. Natürlich kriegte er keinen Job. Seine Papierform war gut, also bekam er viele Vorstellungstermine. Die Gespräche verliefen meist kurz. Man wollte ihn schnell wieder loswerden. Keiner warf ihm vor, dass er die fehlende Hand verschwiegen hatte. Natürlich nicht. Nur einer fragte, ob er trotz der Behinderung den Computer bedienen könne. Klar konnte er. Bei der Tabellenkalkulation war er etwas langsamer als ein Gesunder, am Entwurfsprogramm kam er sogar auf ein ganz ordentliches Tempo. Es half nichts.
Ohne Arbeit hatte er viel Zeit zum Spazierengehen. Er las noch die wichtigsten Fachzeitschriften, aber die Lektüre machte ihn immer öfter traurig. Was hätte er dafür gegeben, wieder mitmachen zu dürfen. Die langweiligsten Jobs wären ihm willkommen gewesen. Aber er kriegte sie nicht.
Manchmal saß er mit älteren Bauleitern zusammen, mit pensionierten oder arbeitslosen. Da hatte man wenigstens ein Gesprächsthema. Doch auch diese Runden machten ihn bald traurig, bald aggressiv. Einmal wollte einer der Älteren einen besonders schönen Bau loben und sagte: „Wie mit dem Munde gemalt.“ Und ein anderer fügte hinzu: „Von einem blinden Maler.“ Heinrich hatte früher selbst über diese Steigerung ins Absurde geschmunzelt, doch jetzt fühlte er sich getroffen, er sagte: „Das ist ja nett, wie ihr euch über Behinderte lustig macht“, und ließ die Prothese krachend auf den Tisch sausen. Das betretene Schweigen und der hilflose Erklärungsversuch des einen führten auch nicht dazu, dass Heinrich sich besser fühlte. Er stand auf und verließ den Tisch grußlos. Dabei war ihm eigentlich längst klargeworden, wie es zu solchen Sprüchen kam. Dieser stammte wohl noch aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als die Hälfte der männlichen Bevölkerung aus Kriegsinvaliden bestand. Damals klingelten einarmige Männer an Haustüren und boten Postkarten mit mund- oder fußgemalten Motiven an. Eine Art Netzwerk der armen Teufel. Nachts schrien sie ihr Leid so in die Dunkelheit, dass die anderen die gewachste Watte ganz tief in die Ohren drücken mussten, um wenigstens ein bisschen Schlaf zu kriegen. Schlimme Zeit. Und vor diesem Elend musste man sich wohl mit solchen Witzchen schützen. Und manche dieser blöden Texte überlebten hartnäckig. Heinrich fand es zum Kotzen. Er brauchte Stunden, um sich von dem Vorfall zu erholen.
Um sich zu beschäftigen und um ein wenig Geld dazu zu verdienen, fing er an, Kleinmöbel nach Maß zu bauen. Kein sehr einträgliches Geschäft, denn er durfte ja nicht groß werben, das wäre aufgefallen. Es machte ihm Spaß, mit Holz zu arbeiten. Er verbrachte immer mehr und mehr Zeit in seiner kleinen Werkstatt, die er sich im Keller eingerichtet hatte. Er war ein geschickter Handwerker. Irgendwann begann er, sich kleine Werkzeuge zu bauen. So nahm er seinen Hand-Haken heraus und setzte sich einen selbstgebauten Schraubendreher an. Nun hatte er eine Hand mit eingebautem Elektro-Schraubendreher. Er wurde durch einfachen Druck des Stumpfes eingeschaltet und schaltete sich aus, wenn er die Kraft zurücknahm. Super Prinzip. Heinrich war stolz auf sich. Auf die gleiche Weise entstand bald eine Bohrmaschine, deren Akku er am Gürtel trug. Er wagte sich in der Folge an immer kompliziertere Möbel und an immer pfiffigere Werkzeuge.
Einmal vergaß er die Bohrmaschine aus dem Stumpf zu nehmen, bevor er das Haus verließ, um einen Kaffee zu trinken. Im Café sprach ihn eine ältere Dame an. „Na, haben Sie Ihre Bohrmaschine immer dabei?“ Sie war gut gelaunt und zu einem Schwätzchen aufgelegt. Heinrich hob den Arm und ließ den Ärmel so weit hinuntergleiten, dass man den Übergang von Werkzeug zum Stumpf sah. Er drückte das Werkzeug mit der linken Hand gegen den Druckschalter und die Maschine fing an zu heulen. Die ältere Dame stieß einen spitzen Schrei aus, dann lief sie aus dem Haus und vergaß Handtasche und Mantel. Die Serviererin schimpfte mit Heinrich. Sie schimpfte lange und laut mit ihm. Heinrich ging. Er würde hier nie wieder herkommen. Die ältere Dame tat ihm leid. Sie hatte nichts Böses getan. Eine feine Dame. Der Vorgang hatte ihm eine gewisse Macht gegeben. Er hatte ihr Angst eingejagt und sie war geflüchtet.
Die Sache mit der Angst ist ja etwas Seltsames. Einmal hatte Heinrich Angst gehabt. Nachts in einem Park. Er war mit zwei Freunden laut plaudernd durch die Nacht geschlendert, als ihnen jemand entgegenkam. Man sah es an seiner Zigarette. Dann bog die Zigarette vom Weg ab und verschwand im Unterholz. Heinrich und seine Freunde erwarteten einen Überfall und taten so, als ginge sie das alles nichts an. Sie plauderten etwas lauter und lachten etwas lauter. Sie gingen an der Stelle vorbei und der Angriff kam nicht. Sie waren etwa 50 Meter weiter, als die Zigarette wieder aus dem Wald kam. Die Zigaretten-Person hatte Angst gehabt und die drei Freunde hatten folglich Angst vor der Angst gehabt.
Wovor hatten die Leute Angst, die ihm auswichen? Wussten sie, was sie ihm, Heinrich, damit antaten, dass sie ihn so ausgrenzten?
Die nächsten dreieinhalb Wochen verbrachte Heinrich damit, ein Angstwerkzeug zu planen. Eine Stahlkuppel anstelle der Hand, aus der auf Druck ein Haken herausschoss. Ein Spitzer, scharfer Haken, wie ihn die Schauerleute in alten amerikanischen Filmen benutzten, um Stückgut zu bewegen oder um tödliche Kämpfe um die Vorherrschaft zu führen. Der Plan vom Haken erfüllte Heinrich mit Befriedigung, mit einer Art Vorfreude auf die Macht, die er bald haben würde. Er würde es den Angsthasen zeigen, die ihn so gedankenlos ausgrenzten. Er würde ihr Gefühl verstärken und war sehr gespannt, was dabei herauskam.
Viereinhalb Wochen vergingen, bis die einzelnen Teile gebaut waren und er sie abholen konnte. Der Zusammenbau war in wenigen Stunden erledigt. Heinrich wusste genau, welches Teilchen wohin gehörte. Er hatte den Plan im Kopf und arbeitete in fieberhafter Eile. Dann war es fertig und guckte es an. Heinrich baute seine Schränke, freute sich daran und wusste, das Angstwerkzeug gehörte ihm, er konnte es jederzeit einsetzen. Dann würden noch ganz andere Leute laufen lernen als ältere Damen.
Abends saß er manchmal vor dem Haken und träumte sich stark. Plötzlich huschte eine kleine Gestalt durch seine Gedanken, ein Kind. Es hatte vor Schreck geweitete Augen und entfernte sich schnell. Heinrich schreckte auf. Er war ein Held, verdammt noch mal! Und vor Helden hatte man doch keine Angst.
Aber genau genommen bekam er schon langsam Angst vor sich selbst.
Der Tag an dem Heinrich seine Hand verlor, war der schlimmste Tag in seinem Leben. Es war ein Montag. Aber das spielt nur insoweit eine Rolle, als es natürlich eine Vorgeschichte gab.
Die Vorgeschichte, so kurz sie war, begleitete ihn in seinen Träumen. Nacht für Nacht wachte er schweißgebadet auf. Hatte er geschrien? War das sein Schrei, den er gehört hatte, oder war es wieder das grelle Kreischen der Bremsen. Es wäre ihm peinlich gewesen, hätte er Nachbarn durch sein Schreien geweckt. Aber die Bremsen weckten ihn. Dieses Geräusch könnte Gläser zerspringen lassen, so brutal war es, so grausam. Und dann hätte da die Erinnerung an einen Schmerz sein sollen, aber da war kein Schmerz. Da war nichts. Eine große Leere. Die Schmerzen kamen später. Furchtbare Schmerzen.
An diesem Montag wollte er mit der Eisenbahn von Hannover nach Hamburg fahren, um sich auf einen Job als Bauleiter zu bewerben. Der Bahnsteig war ziemlich voll gewesen, als ein Mann ohne Vorwarnung durchdrehte. Er begann, wirres Zeug zu schreien, wurde lauter und lauter und hatte Schaum um den Mund. Er schien große Schmerzen zu haben. Schmerzen, die ihn aggressiv machten. Er schlug um sich, schien Leute anzugreifen. Die wichen zurück. Ein Kind rannte in Panik durch die Wartenden, wohl um sich zu verstecken. Es schien aber keinen sicheren Platz zu finden und rannte, je wilder der Mann wurde, um so wilder durch die Menge, die vor Schrecken starr war. Keiner kümmerte sich um das Kind, ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren. Die Leute waren den Schienen sehr nah gekommen und der einfahrende Zug gab ein Warnsignal, einen Pfiff. In diesem Moment fiel das Kind von der Bahnsteigkante. Der Lokführer leitete sofort eine Notbremsung ein. Heinrich sprang hinunter und riss das Kind von den Schienen. Ende seiner Wahrnehmung. Mehr hatte er von dem Ereignis nicht mitbekommen.
Er wachte im Krankenhaus auf, mit einem dicken Verband um die rechte Hand. Er war benommen, versuchte, aufzustehen und merkte, dass er mit Schläuchen und Kabeln versehen war. Eine Sirene begann zu heulen und Heinrich ließ sich zurücksinken. Ein Pfleger und eine Ärztin waren augenblicklich bei ihm. „Wie fühlen Sie sich?“ Heinrich wusste nicht, wie er sich fühlte. „Ich weiß nicht. ... Was...?“ „Sie hatten einen Unfall. Sie haben einem Kind das Leben gerettet.“ Heinrich wusste von keinem Unfall und von keinem Kind. Sein Schädel brummte, er war schwach, sehr schwach, ohne Kraft. „Alles wird gut.“ Das war die Ärztin. „Was ist mit meiner Hand?“ „Wir konnten sie nicht retten, leider.“ Sie konnten sie nicht retten. Sie konnten sie nicht .... Heinrich war wach. „Heißt das, sie ist ab?“ Er schrie. „Sie ist weg?“ „Die Sanitäter konnten sie nicht finden.“ „Was heißt, Sie konnten sie nicht finden, verdammte Tat. Was heißt denn das, Sie konnten sie nicht ...“ Aus dem Schreien wurde Weinen. „Sie haben ein Kind vor einem herannahenden Zug gerettet und sind dabei überrollt worden. Es ist ein Wunder, dass Sie überlebt haben. Sie sind ein Held.“ Ich bin ein Krüppel, dachte er.
Heinrich war Anfang dreißig, ein kräftiger, körperlicher Mann. Handfest. Er war Zimmerer gewesen, hatte dann ein Ingenieurstudium gemacht und war Bauleiter geworden. Handfest aber nicht unsensibel. Er liebte es, zu rudern. Wenn er mit seinem Einer morgens um sechs über den See pfiff, dann ging sein Herz auf. Aus. Die Hand war nicht zu retten gewesen. Ab. Er sah die Ärztin an. „Ein Held ohne Hand.“ „Seien Sie froh, dass Sie noch am Leben sind.“ „Wie geht es dem Kind?“ „Anja ist wohlauf. Das heißt, sie hat keine Verletzungen.“ „Danke, dass Sie mich behandeln.“ Sie nickte nur. „Versuchen Sie, noch etwas zu schlafen.“
Heinrich bekam eine Ein-Zug System-Hand, die auf die Unterarm-Prothese aufgesteckt wurde. Von der Prothese führte ein Seil über die Schultern. Durch Anspannen der Schulter öffnete sie sich und durch Entspannen schloss sie sich wieder. Man konnte mit der System-Hand also greifen. Es gab einen handähnlichen Handschuh, den er darüber streifen konnte. Als kosmetische Maßnahme.
Das Anpassen der Prothese ließ er gleichmütig, beinahe teilnahmslos über sich ergehen. Er übte verbissen und konnte bald gut mit der neuen Hand umgehen. Schwieriger war schon, mit der linken Hand leserlich schreiben zu lernen, manierlich zu essen und dergleichen.
Als er wieder Augen für seine Umgebung hatte, merkte er, dass den Leuten seine Gegenwart unangenehm war. Sie vermieden den Blick auf seine Hand und in seine Augen. Nur Kinder fragten manchmal, was ihm passiert sei. Die anderen behandelten ihn wie jemanden, der eine ansteckende Krankheit hat. Manche Menschen wichen auf der Straße vor ihm zurück. Sie machten einen Bogen, wenn sie seine Prothese erkannten - einen kleinen Bogen nur, aber Heinrich bemerkte ihn schmerzlich. Natürlich kriegte er keinen Job. Seine Papierform war gut, also bekam er viele Vorstellungstermine. Die Gespräche verliefen meist kurz. Man wollte ihn schnell wieder loswerden. Keiner warf ihm vor, dass er die fehlende Hand verschwiegen hatte. Natürlich nicht. Nur einer fragte, ob er trotz der Behinderung den Computer bedienen könne. Klar konnte er. Bei der Tabellenkalkulation war er etwas langsamer als ein Gesunder, am Entwurfsprogramm kam er sogar auf ein ganz ordentliches Tempo. Es half nichts.
Ohne Arbeit hatte er viel Zeit zum Spazierengehen. Er las noch die wichtigsten Fachzeitschriften, aber die Lektüre machte ihn immer öfter traurig. Was hätte er dafür gegeben, wieder mitmachen zu dürfen. Die langweiligsten Jobs wären ihm willkommen gewesen. Aber er kriegte sie nicht.
Manchmal saß er mit älteren Bauleitern zusammen, mit pensionierten oder arbeitslosen. Da hatte man wenigstens ein Gesprächsthema. Doch auch diese Runden machten ihn bald traurig, bald aggressiv. Einmal wollte einer der Älteren einen besonders schönen Bau loben und sagte: „Wie mit dem Munde gemalt.“ Und ein anderer fügte hinzu: „Von einem blinden Maler.“ Heinrich hatte früher selbst über diese Steigerung ins Absurde geschmunzelt, doch jetzt fühlte er sich getroffen, er sagte: „Das ist ja nett, wie ihr euch über Behinderte lustig macht“, und ließ die Prothese krachend auf den Tisch sausen. Das betretene Schweigen und der hilflose Erklärungsversuch des einen führten auch nicht dazu, dass Heinrich sich besser fühlte. Er stand auf und verließ den Tisch grußlos. Dabei war ihm eigentlich längst klargeworden, wie es zu solchen Sprüchen kam. Dieser stammte wohl noch aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als die Hälfte der männlichen Bevölkerung aus Kriegsinvaliden bestand. Damals klingelten einarmige Männer an Haustüren und boten Postkarten mit mund- oder fußgemalten Motiven an. Eine Art Netzwerk der armen Teufel. Nachts schrien sie ihr Leid so in die Dunkelheit, dass die anderen die gewachste Watte ganz tief in die Ohren drücken mussten, um wenigstens ein bisschen Schlaf zu kriegen. Schlimme Zeit. Und vor diesem Elend musste man sich wohl mit solchen Witzchen schützen. Und manche dieser blöden Texte überlebten hartnäckig. Heinrich fand es zum Kotzen. Er brauchte Stunden, um sich von dem Vorfall zu erholen.
Um sich zu beschäftigen und um ein wenig Geld dazu zu verdienen, fing er an, Kleinmöbel nach Maß zu bauen. Kein sehr einträgliches Geschäft, denn er durfte ja nicht groß werben, das wäre aufgefallen. Es machte ihm Spaß, mit Holz zu arbeiten. Er verbrachte immer mehr und mehr Zeit in seiner kleinen Werkstatt, die er sich im Keller eingerichtet hatte. Er war ein geschickter Handwerker. Irgendwann begann er, sich kleine Werkzeuge zu bauen. So nahm er seinen Hand-Haken heraus und setzte sich einen selbstgebauten Schraubendreher an. Nun hatte er eine Hand mit eingebautem Elektro-Schraubendreher. Er wurde durch einfachen Druck des Stumpfes eingeschaltet und schaltete sich aus, wenn er die Kraft zurücknahm. Super Prinzip. Heinrich war stolz auf sich. Auf die gleiche Weise entstand bald eine Bohrmaschine, deren Akku er am Gürtel trug. Er wagte sich in der Folge an immer kompliziertere Möbel und an immer pfiffigere Werkzeuge.
Einmal vergaß er die Bohrmaschine aus dem Stumpf zu nehmen, bevor er das Haus verließ, um einen Kaffee zu trinken. Im Café sprach ihn eine ältere Dame an. „Na, haben Sie Ihre Bohrmaschine immer dabei?“ Sie war gut gelaunt und zu einem Schwätzchen aufgelegt. Heinrich hob den Arm und ließ den Ärmel so weit hinuntergleiten, dass man den Übergang von Werkzeug zum Stumpf sah. Er drückte das Werkzeug mit der linken Hand gegen den Druckschalter und die Maschine fing an zu heulen. Die ältere Dame stieß einen spitzen Schrei aus, dann lief sie aus dem Haus und vergaß Handtasche und Mantel. Die Serviererin schimpfte mit Heinrich. Sie schimpfte lange und laut mit ihm. Heinrich ging. Er würde hier nie wieder herkommen. Die ältere Dame tat ihm leid. Sie hatte nichts Böses getan. Eine feine Dame. Der Vorgang hatte ihm eine gewisse Macht gegeben. Er hatte ihr Angst eingejagt und sie war geflüchtet.
Die Sache mit der Angst ist ja etwas Seltsames. Einmal hatte Heinrich Angst gehabt. Nachts in einem Park. Er war mit zwei Freunden laut plaudernd durch die Nacht geschlendert, als ihnen jemand entgegenkam. Man sah es an seiner Zigarette. Dann bog die Zigarette vom Weg ab und verschwand im Unterholz. Heinrich und seine Freunde erwarteten einen Überfall und taten so, als ginge sie das alles nichts an. Sie plauderten etwas lauter und lachten etwas lauter. Sie gingen an der Stelle vorbei und der Angriff kam nicht. Sie waren etwa 50 Meter weiter, als die Zigarette wieder aus dem Wald kam. Die Zigaretten-Person hatte Angst gehabt und die drei Freunde hatten folglich Angst vor der Angst gehabt.
Wovor hatten die Leute Angst, die ihm auswichen? Wussten sie, was sie ihm, Heinrich, damit antaten, dass sie ihn so ausgrenzten?
Die nächsten dreieinhalb Wochen verbrachte Heinrich damit, ein Angstwerkzeug zu planen. Eine Stahlkuppel anstelle der Hand, aus der auf Druck ein Haken herausschoss. Ein Spitzer, scharfer Haken, wie ihn die Schauerleute in alten amerikanischen Filmen benutzten, um Stückgut zu bewegen oder um tödliche Kämpfe um die Vorherrschaft zu führen. Der Plan vom Haken erfüllte Heinrich mit Befriedigung, mit einer Art Vorfreude auf die Macht, die er bald haben würde. Er würde es den Angsthasen zeigen, die ihn so gedankenlos ausgrenzten. Er würde ihr Gefühl verstärken und war sehr gespannt, was dabei herauskam.
Viereinhalb Wochen vergingen, bis die einzelnen Teile gebaut waren und er sie abholen konnte. Der Zusammenbau war in wenigen Stunden erledigt. Heinrich wusste genau, welches Teilchen wohin gehörte. Er hatte den Plan im Kopf und arbeitete in fieberhafter Eile. Dann war es fertig und guckte es an. Heinrich baute seine Schränke, freute sich daran und wusste, das Angstwerkzeug gehörte ihm, er konnte es jederzeit einsetzen. Dann würden noch ganz andere Leute laufen lernen als ältere Damen.
Abends saß er manchmal vor dem Haken und träumte sich stark. Plötzlich huschte eine kleine Gestalt durch seine Gedanken, ein Kind. Es hatte vor Schreck geweitete Augen und entfernte sich schnell. Heinrich schreckte auf. Er war ein Held, verdammt noch mal! Und vor Helden hatte man doch keine Angst.
Aber genau genommen bekam er schon langsam Angst vor sich selbst.