Ungewohnte Perspektiven: Rumpelstilzchen

ex-mact

Mitglied
Hallo,

eine neue Art der "Fingerübung" möchte den Autor dazu veranlassen, bekannte Geschehen aus "ungewohnten Perspektiven" zu sehen - und zu erzählen.
Aus solcherart entstandenen Texten können heitere "Varianten", aber auch erkenntnisreiche Beobachtungen entstehen, die bei der täglichen Textarbeit zu neuen Einsichten führen können.

Die Aufgabe für diese Woche ist es, die von den Grimm'schen Brüdern bekannte Mär des "Rumpelstilzchen" aus der Sicht des Zwergen zu beschreiben. Es ist dem Autor frei gestellt, ob er hierbei den (dem Original wohl zugrunde liegenden) "Tag-Elfen" beschreibt (dessen Goldschätze legendär, sein Verlangen nach Menschen-Kindern aber noch weit größer ist) oder ob er sich an der überlieferten "zusammenhanglosen" Version orientiert. Auch sei ihm überlassen, ob er die Geschichte aus der "Ich"-Perspektive oder in der dritten Person mit einem "Viewpoint-Charakter" erzählt.

Im Resultat soll die Geschichte aber die Sichtweise des Rumpelstilzchen beleuchten - vielleicht Sympathie für ihn erwecken (vielleicht aber auch nicht?) und schließlich dazu führen, diesen vernachlässigten Charakter lebendiger zu machen.
 
R

Rote Socke

Gast
Rumpelstilzchen
(der Brüder Grimm, aus anderer Sicht)
von Volkmar S. Paal

In der Abgeschiedenheit eines kleinen Wäldchens nahe des großen Berges Auerstein, lebte ein Zwerg mit Namen Rumpelstilzchen. Er war schon recht alt, hatte kaum Haare auf dem Kopf, eine runzelige Haut und spürte, dass seine Zeit auf Erden dem Ende nahte. Ein einsames Leben hatte er gefristet, war jeden Tag allein auf die Jagd gegangen und ließ die Stunden in seinem kleinen Häuschen mit großer Langeweile verstreichen. ‚Wer würde nach mir in meinem Häuslein wohnen?’, fragte er sich unentwegt. Gerne hätte er Kinder gehabt, aber das war ihm nicht vergönnt gewesen. Vielleicht sollte er ein Kind adoptieren, aber bestimmt würde niemand einem Zwerg ein Kind anvertrauen, war er gewiss und verwarf den Gedanken sofort.
Eines nachts schlich Rumpelstilzchen durch eine Menschensiedlung, um einige Handwerkzeuge zu stehlen, die er daheim gut gebrauchen konnte. Da belauschte er zufällig zwei Männer, die aus der Schankstube kamen. So erfuhr Rumpelstilzchen, dass der Müller der Menschensiedlung, seine Tochter an den König gab, weil diese angeblich aus Stroh Gold machen könne. Von der Neugierde getrieben begab sich Rumpelstilzchen zum Schloss des Königs und schlich heimlich durch die Gemächer. Plötzlich hörte er ein Mädchen wimmern und öffnete die Tür, von wo die klagende Stimme kam.
„Was bedrückt dich mein Kind?’, fragte Rumpelstilzchen und sah dass die Jungfer vor einem Spinnrad saß und von einem Berg Stroh umgeben war.
Die Müllerstochter klagte dem Zwerg ihr Leid: „Aus diesem Stroh soll ich bis morgenfrüh Gold gesponnen haben. Ich weiß gar nicht wie das geht. Aber wenn es mir nicht gelingt, will mich der König töten. Gelingt es mir, dann wird er mich zur Frau nehmen“.
Rumpelstilzchen durchfuhr ein Geistesblitz: „Pass auf mein Kind. Ich helfe dir aus jedem Strohhalm Gold zu machen. Aber dafür gibst du mir dein Erstgeborenes“.
Die Müllerstochter überlegte kurz und stimmte zu. Eine andere Wahl blieb ihr nicht. Am nächsten Morgen entdeckte der König das viele Gold und verkündete die Hochzeit mit der Müllerstochter. Das Rumpelstilzchen war längst zuhause, briet sich über dem Feuer eine Taube und tanzte ausgelassen. Er freute sich sehr, dass bald ein Kind an seiner Seite war.

Sommer, Winter und Herbst vergingen und alle Welt freute sich über das schöne Kind, das die Königin gebar. Das kam auch Rumpelstilzchen zu Ohren und er begab sich zur Müllerstochter, um das Söhnlein in Empfang zu nehmen.
„Oh mein lieber Zwerg. Ich weiß um mein Versprechen, doch es wird mein Herz zerreißen, wenn ich dir nun mein Kind geben soll“.
Rumpelstilzchen sah voller Trauer, wie sehr die Königin weinte und überlegte, was er tun könne: „Du weißt, ein Versprechen darf niemand brechen. Aber ich will dir eine Chance geben. Wenn du innerhalb von drei Tagen meinen Namen errätst, darfst du dein Kindlein behalten“.
Die Königin sandte daraufhin alle Späher aus, um die Namen der Bürger im Reich zu erkunden.
Derweil tanzte Rumpelstilzchen daheim wieder freudig um das Lagerfeuer herum und wusste, dass er eine kluge Entscheidung getroffen hatte. Wie sollte die Königin seinen Namen erfahren und so würde er mit gutem Gewissen das Kind an sich nehmen können. Er sprang glücklich in die Luft und sang:

„Morgen ist ein besonders großer Tag,
mir die Königin ein Kindlein schenken mag.
Ach wie gut, dass niemand weiß,
dass ich Rumpelstilzchen heiß“.

Zufällig hörte ein Späher der Königin Rumpelstilzchens Singsang. Im Schloss berichtete er seiner Herrin von dem Vorfall.
Am nächsten Tag erschien Rumpelstilzchen das Kind zu holen. Gelangweilt hörte er sich alle Namen an, die ihm die Königin nannte. Er schüttelte nur seinen Kopf. Schließlich hörte er den Namen Rumpelstilzchen fallen. Das bescherte ihm einen solchen Schock, dass er in tiefen Gram auf der Stelle tot umfiel.
 

Renee Hawk

Mitglied
*ggg* bevor ich jetzt mein Rumpelstilchen anfange zu schreiben (Idee ist bereits vorhanden) muß ich fragen ob ich mich an die Zeit halten muß, also ich meine kann ich es etwas futuristischer darstellen?

Bitte Marc, sag' ja ... *bettel, bettel*

Gruß
Reneè
 
R

Rote Socke

Gast
Ich heiße zwar nicht marc,

aber Renee, mich würde eine solche Fassung brennend interessieren.

LG
Volkmar
 

ex-mact

Mitglied
Moin,

ich habe absichtlich keinerlei Vorgaben über die Textart gemacht - ich habe selber eine etwas "phantastischere" Idee im Kopf :)
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Na, da bin ich ja mal gespannt! Ich sitze auch schon ne Weile drüber. Kommt aber kaum vor Sonntag. Schlimm, wenn es etwas länger wird? Ich werde es wohl nie lernen Ganz-Kurz-Geschichten zu schreiben.

Gruß Ralph
 
R

Rote Socke

Gast
Sorry,

ich weiß ja, dieser Thread sollte nicht zum quatschen sondern arbeiten sein. Trotzdem muss ich ganz dringend loswerden, dass ich mich auf die Beteiligung von Ralph riesig freue. Also Ralph, nicht mehr kneifen, wir warten auf Deine Story, auch wenn's länger dauert.

Schöne Grüße
 

Renee Hawk

Mitglied
etwas lang, aber die Grimm's konnten es wohlmöglich auch nicht kürzer *grins*

Rumpelstilzchen



Ich schaute aus dem Fenster. Mittlerweile war es Winter und in meiner kleinen Hütte zog es wie Hechtsuppe. Seit einigen Jahren verspürte ich immer mehr das Rheuma und die Gischt in meinen alten Knochen. Es wurde Zeit, an einen Nachfolger zu denken. Während ich meine Finger am Kamin wärmte dachte ich darüber nach, wer dafür am besten in Frage käme und wurde jäh aus meinen Überlegungen gerissen, als mich ein Hilferuf ereilte. Es war ein leiser Hilferuf, aber es klang nach einer Frau und sie hörte sich sehr verzweifelt an. Ich packte meine Tasche und machte mich sogleich auf den Weg. Das Dimensionstor hatte ich bereits geöffnet und der Sog nahm mich mit auf seine Reise.
So stand ich nun Sekunden später in einem schlecht eingerichteten Raum und war von Stroh umgeben. In der Mitte des Raumes saß ein junges Ding vor einem alten Spinnrad und heulte sich die wunderschönen blauen Augen aus dem Kopf. Vorsichtig ging ich auf das Mädchen zu, neigte meinen Kopf und hob meine grüne Mütze zum Gruße.
„Tag Fräulein.“, sagte ich leise und das junge Mädchen hob den Kopf. Oh welch wunderbare Gesichtszüge, welch sinnlichen Mund, welch edle Nase und welch liebliche Wangen sie doch hatte. Als sie mich sah schluckte sie ein paar mal und zog ein Taschentuch aus ihrer Jeanshosentasche, schnäuzte sich die Nase und lächelte.
„Danke, dass sie gekommen sind.“, sagte sie und schnäuzte noch mal in ihr Taschentuch.
„Es ist meine Pflicht ihnen zu helfen. Also, wo ist das Problem?“, fragte ich.
„Sehen sie hier, der ganze Raum voller Stroh, bis morgen früh soll ich alles zu Gold gesponnen haben. Das kann ich doch nicht.“
„Hm ... „, dann schaute ich mich etwas genauer um, prüfte das Stroh und fügte meiner Überlegung folgendes hinzu:“... mein liebes Fräulein, sie riefen mich um Hilfe, sie wissen, dass meine Dienste nicht umsonst sind. Was können sie mir bieten?“
Sie kramte mit ihren schmalen Händen in der Hosentasche und zog ein Ring hervor.
„Das ist alles was ich habe.“. Sie reichte mir den Ring und lächelte verlegen. Meinen Augen konnte ich nicht mehr hundertprozentig trauen, sie sind alt und im Laufe der vielen Jahrhunderte bereits an die Grenze ihrer Sehkraft angekommen, aber meinen Fingern, denen konnte ich vertrauen, jedes Material konnte ich ertasten, aufs genauste bestimmen und wog so deren Qualität und Wert ab. Ich nickte, steckte den Ring in meine Tasche und nahm auf dem Stuhl hinter dem Spinnrad Platz. Meine Finger begannen flink das Stroh zu spinnen und einen Goldbarren nach dem anderen legte ich seelenruhig zur Seite. Während ich mich in meine Arbeit vertiefte, erzählte mir die Kleine von ihrer Schmach.
Ihr Vater würde immer lügen und viele Ungereimtheiten im Dorf erzählen. Einmal erzählte er, er habe ein Goldschatz gefunden, welcher von einem Troll versteckt wurde, ein anderes mal soll er erzählt haben, dass er dem König wahrhaftig begegnet sei. Doch am vergangenen Abend, so erzählte mir die Kleine, überschlugen sich die Ereignisse. Der Alte habe sie mit seiner Prahlerei arg in Bedrängnis gebracht. Im Gasthof habe er allen erzählt, dass sie Stroh zu Gold spinnen könne. Mit dem Bürgermeister habe er eine Wette abgeschlossen. Und nun wollte sie doch ihren Vater nicht enttäuschen und ich glaube, sie bedankte sich mehr als vier mal für mein kommen. Ich hörte ihr geduldig zu und ging unbeeindruckt meiner Arbeit nach. Gegen Morgengrauen war ich fertig und das Mädchen am Schlafen, so konnte ich ohne Aufsehen zu erregen durch das Dimensionstor schlüpfen und war Sekunden später zu Hause, in meiner kleinen Waldhütte.

Am nächsten Abend saß ich gerade in meiner kleinen Küche und schlürfte Krötenschenkelsuppe á la Ruppi, eine Spezialität meiner Großmutter, als mich wieder dieser zarte Hilferuf des Mädchens ereilte. Ich konnte nicht weghören, ich musste ihr helfen, was immer sie auf dem Herzen hatte, ich musste ihr helfen. Wie am Vorabend stand ich Sekunden später mit meiner Tasche in der Hand in diesem Turm und diesmal war noch mehr Stroh um mich herum. Die Kleine konnte ich kaum sehen, so hoch lagerte das Stroh um mich herum.
„Ich bin hier drüben.“, rief sie und mit Hilfe ihrer Stimme fand ich den Weg zum Spinnrad.
„Hmmm .....“, begann ich und schaute mich um, „ ... das wird nicht einfach und nicht billig. Was kannst du mir heute anbieten?“
„Ich habe nichts, ich habe gar nichts mehr.“
„Dann kann ich dir nicht helfen.“. Ich wollte bereits gehen als sie mich zurückrief.
„Bitte warte einen Moment. Ich habe nur noch diese Kette.“. Das Mädchen hielt eine mit glühend roten Steinen besetzte Kette in der Hand, silbern funkelnd und filigran gearbeitet.
„Gut, ich werde dir helfen.“ Ich nahm die Kette, steckte sie ein und setzte mich, wie auch am Vorabend, ans Spinnrad.
Wie auch an Abend zuvor erzählt mir die Kleine was passierte. Der Bürgermeister soll recht zufrieden gewesen sein mit dem Ergebnis und erpresste ihren Vater, damit sie noch einmal ihre Künste unter Beweis stelle. Dass ihr Vater Steuerhinterziehung betrieb erwähnte das Mädchen ebenso und noch etwas sagte sie mir. Ein junger Mann, scheinbar der Sohn des Bürgermeisters, wäre am heutigen Morgen auch zugegen gewesen, sie habe sich unsterblich in ihn verliebt. Dann erzählte sie mir bin ins kleinste Detail welche Gestiken und Augenaufschläge der Knabe ausübte, welche Worte er zu ihr sprach und was es in ihrer einfachen Bauernsprache doch bedeuten könnte, von ihrer Nervosität und ihrem Herzflattern, von ihren Schmetterlingen und ihrem Lächeln. Dieses Kind war extrem verliebt.
Die ersten Sonnenstrahlen berührten bereits das Gesicht der schlafenden Maid, als ich mein Nachtwerk beendete. Die Goldbarren lagen fein säuberlich aufgeschichtet und nicht ein Krümelchen Stroh war mehr zu sehen. Ich verabschiedete mich mit einem leisen ‚Servus’ und verschwand wieder durch mein Tor.

Wie sie sich denken können, war das nicht der letzte Ausflug. In der Tat rief mich das junge Ding noch einmal zu sich. An dieser Stelle möchte ich es kurz machen, wir sprachen über meinen Lohn und da sie nichts hatte, versprach sie mir ihr Erstgeborenes. Da ich ein sehr gutmütiger und sensibler Kobold bin, habe ich mich auf das Geschäft eingelassen. Diesmal erzählte sie mir nicht was am Tage passierte, doch ihr Gesicht sprach Bände. Ich konnte an ihrem Lächeln erkennen, dass sich zwischen dem Knaben und ihr eine Liebesbeziehung entwickelt. Da ich einfach neugierig war, schaute ich mich etwas genauer in ihrem Herzen um, und was sah ich da – eine Liebesheirat in wenigen Monaten. So machte ich mich lächelnd und zufrieden an die Arbeit und war wie versprochen gegen Morgen mit der selbigen fertig.

Es vergingen einige Monate und die Hochzeit wurde gefeiert. Es war ein großes Fest, ja ich möchte sogar behaupten, es war das größte Fest, welches das Dorf je gesehen hatte. Heimlich schlich ich mich unter die Besucher und amüsierte mich prächtig. In einem unbeobachteten Augenblick erschlich ich mir einen Weg zur Braut und erinnerte sie an ihr Versprechen.

Wiederum vergingen einige Monate und ein kleines Würmchen wurde geboren – mein Nachfolger stand fest. Eines Abends machte ich mich auf den Weg und besuchte die junge Mutter in ihrem Zimmer.

„Guten Abend.“
„Guten Abend.“, erwiderte sie fröhlich meinen Gruß.
„Ich bin gekommen um mein Lohn einzufordern.“, sagte ich, ging ohne Umschweife zur Wiege und nahm das Kind heraus. Ein nettes Kind. Es lächelte mich an und blabberte mir in seiner Undeutlichkeit ein freundliches ‚gaga’ entgegen.
„Bitte, nehmt mir nicht das Kind.“. Schnellen Schrittes kam sie auf mich und das Kind zu und nahm mir ihr Erstgeborenes aus dem Arm.
„Wir haben ein Geschäft zu laufen.“, erinnerte ich sie.
„Bitte, ich kann euch Gold und Juwelen geben, Geld und ein Königreich, aber bitte nicht mein Kind.“. Die junge Mutter fing bitterlich an zu weinen.
„Nein. Das Kind gehört mir.“
„Ach bitte, ihr seit doch so gnädig gewesen, ihr habt mir geholfen, bitte nicht mein Kind.“
In einem Anflug von Mitleid ließ ich mir ein Geschäft durch den Kopf gehen.
„Ich will euch das Kind überlassen, wenn ihr mir binnen vierundzwanzig Stunden meinen Namen nennen könnt.“
Sie willigte ein und ich hatte gut lachen. Meinen Namen würde sie niemals erraten. Es war schon mehr als Jahrhunderte her, als ich ihn zum letzten mal hörte und keiner in dieser Welt wusste um meine Existenz und meinen Namen. Ich konnte mich zurückziehen und warten, denn am nächsten Abend sollte ich meinen Nachfolger in Empfang nehmen. Endlich würde ich nicht mehr zaubern müssen, endlich würde ich keinen Stress mehr haben, endlich konnte ich mein Wissen und meine Macht an ein junges Wesen weitergeben.

Da es Spätherbst war, zündete ich vor meiner kleinen Waldhütte ein Feuerchen an und feierte meinen Triumph mit ausgelassenem Gesang und einer guten alten Flasche Wein.

Was ich allerdings nicht wusste und auch nicht erahnte war die Tatsache, dass ich mit meinem Singsang einiges aufs Spiel setzte. Doch das sollte sich für mich am nächsten Abend erst herausstellen.

Im Schlafzimmer der jungen Mutter waren nun auch ihr Mann und ihr Vater anwesend. Da es noch Zeit war und die vierundzwanzig Stunden noch nicht abgelaufen waren, setzte ich mich in den Sessel und lauschte den aufgezählten Namen.

„Egon.“, sagte der Vater.
„Nein.“
„Hugo.“, sagte der Ehemann.
„Nein.“
„Balthasar.“, sagte die junge Mutter.
„Nein.“
„Schuppenheinz.“, sagte der Vater.
„Nein.“
„Struwelpeter?“, fragte der Ehemann.
„Nein.“, und ich begann mich zu erheitern und lachte laut auf.
„Oswald?“, fragte nun die junge Mutter.
„Nein.“
„Igor.“, behauptete der Vater
„Nein, nein und nochmals nein. Ihr habt noch vier Minuten Zeit.“
„Dieter?“, fragte nun der Mann.
„Nein.“
„Cornelius?“, fragte das Mädchen und verdrehte die Augen.
„Nein.“, sagte ich und aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich die Tür des Zimmers öffnete und ein Mann hereintrat. Weiter konnte ich verfolgen, dass sich der junge Mann zur Mutter hin wandte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Verstanden hatte ich es nicht, interessiert hatte es mich auch nicht, und die Zeit lief in einer Minute ab.
„Ihr habt noch eine Minute. Das schafft ihr nicht.“, rief ich lachend und stand auf, ging zur Wiege, beugte mich über deren Rand und lächelte dem Kind zu.
„Konrad.“, sagte der junge Mann, welcher das Zimmer gerade erst betrat.
„Nein.“, sagte ich und legte meine Hände um das Köpfchen des Kindes. „Gleich mein Sohn, wirst du mir gehören.“, flüsterte ich ihm zu und schaute dabei verstohlen auf meine Uhr. Noch fünfzehn Sekunden.
„Rumpelstilzchen.“, sagte die junge Frau und triumphierte dabei. Ich hörte mit Schrecken meinen Namen und begann am gesamten Körper zu zittern, ich war wütend, ich war sauer, ich war beschämt, ich war am Boden zerstört, kein Nachfolger und ich als letzter meiner Rasse. Wie konnte das passieren? Ich schaute der jungen Frau ein letztes mal in ihr fröhliches Gesicht und machte mich so schnell ich nur konnte durch das Dimensionstor auf den Weg in mein kleines Waldhäuschen.

Nun möchten Sie bestimmt wissen, weshalb ich ihnen das erzählte?
Wahrscheinlich, weil mich seit den Brüdern Grimm keiner mehr besucht hat.



Reneè Hawk ©KW 3/2002
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Rubbel-Stielchen (Teil I)

Mitten im Wald, dort wo er wohl am dichtesten ist und wo die Wege zu dürftigen Trampelpfaden verkümmern- spätestens dort wird der einsame Wanderer von einem Schild aufgehalten, das ihn zur Umkehr auffordert.

- T O T A L R E S E R V A T -
B e t r e t e n v e r b o t e n

So steht es in großen schwarzen Lettern auf lindgrünem Grund.
Der junge Mann, der an einem herrlich warmen Sommernachmittag an diese Stelle kam, scherte sich nicht um dieses Verbot, sondern schritt zügig weiter. Er durfte das. Schließlich trug er eine khakifarbene Bluse, auf deren linken Ärmel die Aufschrift "Naturwacht" prangte. An seiner Brust baumelte das obligatorische Fernglas und in der Rechten trug er einen dicken Wälzer - wohl ein Tierarten-Bestimmungsbuch. Das Tempo, das dieser moderne Waldläufer vorlegte, durfte man durchaus als atemberaubend bezeichnen. Er folgte kaum erkennbaren Pfaden, turnte über massenhaft herumliegendes Totholz, sprang geschickt über unzählige Wurzeln und gelangte so schließlich an einen wild dahin gurgelnden Bach. Normalerweise wäre er beim Anblick des hier friedlich äsenden Schwarzstorches vor Entzücken wie angewurzelt stehen geblieben, aber heute hielt er sich damit nicht auf. Er folgte vielmehr dem stark mäandrierenden Bachbett, bis er schließlich zu einem reichlich mannshohen Wasserfall kam, dessen mächtiges Rauschen selbst den schrillen Lockruf der Waldzirpelente übertönte. Der Naturwächter entledigte sich seiner Schuhe und Strümpfe, steckte Buch und Fernglas schützend unter die Khakibluse und watete schließlich direkt auf die in breiter Front herab stürzenden Wassermassen zu. Ein winziges Zögern, dann ein entschlossener Schritt, begleitet von einem "Scheiße, iss das kalt!", dann war er bereits durch den Schleier aus Wasser und Gischt hindurch. Und siehe da. Im Felsen fand sich eine, hinter dem breiten Wasserstrahl verdeckte Öffnung, die sich als Eingang zu einer niedrigen Höhle entpuppte. Eigentlich handelte es sich mehr um einen engen, leicht aufwärts führenden Gang.
Gebückt ging der Mann einige Schritte weiter, ehe er halblaut "Hallo!" rief und für einen Moment horchend verharrte.
"Ja, ich bin zu Hause", kam es arg krächzend zurück.
Der Mann setzte seinen Weg fort und gelangte nach wenigen Metern in eine zwar niedrige, aber durchaus geräumige Höhle. Durch zwei schmale Felsspalten fiel etwas Licht in den Raum und malte helle Kringel auf die Platte eines niedrigen, aber recht klobigen Tisches, um den drei aus Weidengeflecht gefertigte Sessel gruppiert waren. Auf einem dieser rustikalen Sitzmöbel saß ein kleines schrumpeliges Männchen, das jetzt den Kopf hob, seine leicht ausgefranste Jacke aus derben Stoff zurecht zupfte und dem Eintretenden freundlich entgegen blinzelte. Ächzend schob er sich von seinem Sitz.
"Hallo Maik. Schön, daß Du gekommen bist. Hast Du das Buch dabei?"
Der Angesprochene nickte und ging auf den Hausherren zu, um ihm die Hand zu schütteln. Er mußte sich sogar ein wenig bücken, denn das alte Männchen reichte ihm gerade mal bis zum Bauchnabel.
"Nimm Platz. Darf ich dir einen Tee anbieten?"
"Ja gern", sagte Maik höflich. Der Alte huschte davon und verschwand hinter einem Vorhang aus dickem Filz. Maik war nicht zum ersten Mal hier und besaß daher keinen Blick für die verschiedenfarbigen Felle, die den der Fußboden bedeckten und die Wände verzierten. Er blätterte vielmehr in dem mitgebrachten Buch, suchte eine bestimmte Stelle und ließ es dann aufgeschlagen liegen.
Der Alte kam mit einem reichlich zerbeulten Teekessel zurück und goß die bereit stehenden Tassen randvoll.
"So. Dann wollen wir mal. Ist es das?" Damit zog er das dicke Buch an sich und machte es sich wieder auf dem Sessel bequem.
"Zumindest handelt die Geschichte von einem einsamen Zwerg", sagte Maik und wagte ein heimliches Grinsen. "Aber lies selbst."
"Rum...pel...stilz...chen", buchstabierte der Alte. Dann vertiefte er sich in den Text. Schon bald fing er an, heftig mit dem Kopf zu wackeln. "Von wegen Müllerstochter", grunzte er verächtlich. "Ihr Vater war weiter nichts als ein beim Müller angestellter Knecht."
Er schien immer erregter zu werden, denn die giftig genuschelten Kommentare rissen nicht mehr ab. Mit jedem Satz, den er las, schwollen seine Stirnadern gefährlicher an. Schließlich ließ er das Buch mit einem lauten Knall zuschlagen.
"Das ist eine bodenlose Frechheit", schnappte er aufgebracht. "Aber so ist das eben in unseren Gefilden. Jeder, der sich von der Normalität unterscheidet, der anders denkt oder auch nur anders aussieht, der wird diskriminiert und verteufelt. Welcher Schmierfink hat dieses Machwerk verfaßt?" Er schielte auf den Einband. "Gebrüder Grimm", las er laut. "Noch nie gehört, aber wenn ich diesen Brüdern einmal begegnen sollte, dann werde i c h grimmig."
"Sie sind längst tot", warf Maik ein und erntete ein: "Da haben die aber wirklich großes Glück."
Das zornige Männlein sprang auf, verschränkte die Arme hinter dem krummgezogenen Rücken und stürmte, wütend vor sich hin brabbelnd, im Raum auf und ab. Plötzlich blieb er vor Maik stehen, linste ihn von unten herauf an und fragte: "Soll ich dir erzählen, wie es sich wirklich zugetragen hat?"
Maik nickte eifrig. Der schnurrig poltrige Zwerg gefiel ihm, und sein mit einem mal so listiges Blinzeln verriet, daß es eine vergnügliche Geschichte werden würde.

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"Weißt Du, mein Junge", begann er. "ich war nicht immer ein kränklich krächzender und vom Rheuma verbogener Greis. Oh, nein - obwohl klein von Wuchs, so fühlte ich mich doch als ein recht kerniger Bursche. Ich war damals in die Gegend von... ach, das sagt dir ja doch nichts... gezogen, hatte die von meinem seligen Vater vermachten und durch mich nicht unwesentlich vermehrten Schätze in eine Komforthöhle geschleppt und damit begonnen, die nähere Umgebung ein wenig zu beschnuppern. Ganz in der Nähe meiner neuen Wohnhöhle lag eine kleine Stadt, in der auch der gnädige Landesvater sein bescheidenes Schloß hatte. In dem Buch ist natürlich von einem König die Rede. Typischer Fall von maßloser Übertreibung. Ein kleiner Graf war's, der über ein Ländchen gebot, das selbst ich mit meinen kurzen Beinen in knapp zwei Stunden zu durchqueren vermocht hätte.
Es war an einem der ersten warmen Frühlingstage, als ich mich ein wenig in diesem Kaff umzuschauen begann. Da gerade Markttag war, konnte ich im allgemeinen Gewühl nahezu untertauchen. Irgendwann fiel mein Blick auf einen Verkaufsstand, wo ein junges Mädchen vom Lande ihre selbst gebastelten Strohblumen feil bot. Hin und wieder blieben einige Leute stehen, um sich die kleinen Kunstwerke anzuschauen, sie zu befühlen, oder wenigstens anerkennend zu nicken. Nicht wenige ließen sich sogar zum Kauf hinreißen. Auch ich blieb stehen. Nein - nicht wegen der Strohblumen, das Mädchen war's daß mich mit ihrer auffälligen Schönheit in ihren Bann zog. Als ich diesen gertenschlanken Körper, diese wohlgeformten Glieder und dieses niedliche, leicht stupsnäsige Gesicht betrachtete, kochten seit Langen mal wieder sinnliche Gelüste in mir hoch, und ich begann mich zu erinnern, daß es schon sehr sehr lange her war, seit ich zum letzten Mal... Na, ja - du weißt schon. Grinse nicht - auch Zwerge haben ein Recht auf ein einigermaßen geregeltes Sexualleben. Ich ließ gerade meine Phantasie wilde Sprünge vollführen, als sich ein junger Mann, dessen hünenhafte Gestalt in der Livree eines gräflichen Bediensteten steckte, dem Stand näherte. Mit selbstverständlicher Leichtigkeit gelang es ihm, die schöne Strohblumenflechterin in eine nette Plauderei zu verstricken. Die sichtbare Bewunderung, mit der ihr Blick auf seinem athletischen Körper ruhte, erinnerte mich schmerzhaft an meine körperliche Abnormität. So begrub ich seufzend meine sinnlichen Träume und beschloß, unauffällig in der Menge unterzutauchen. Just in dem Moment trat ein älterer, ziemlich nachlässig gekleideter und wohl auch ein wenig angetrunkener Mann zu den Beiden. Er legte ungeniert seinen schweren Arm um die zarten Schultern des Mädchen und gab ihr einen widerlich schmatzenden Kuß auf die Wange.
"Nun, mein Herr - da staunen Ihr, was?" hörte ich ihn sagen. "Ja, meine Tochter Christine ist sehr geschickt. Sie vermag Stroh zu purem Gold zu flechten."
Und damit ließ er prahlerisch ein paar kleine Münzen - wahrscheinlich der Verkaufserlös der letzten Stunden - durch seine groben Hände gleiten. Das Mädchen lächelte ein wenig geschmeichelt. Der gräfliche Diener hob erstaunt die Augenbrauen, verabschiedete sich und lief hastig davon.
Am nächsten Markttag kreuzte ich wieder in der Stadt auf. Mein suchender Blick galt sofort eben diesem Mädchen, doch ich fand sie nirgends. Als ich einen Einheimischen daraufhin ansprach, musterte der mich erst mal mißtrauisch, ehe er mit dem ausgestreckten Arm zum Schloß wies.
"Eingesperrt hat man das Mädchen. Sie soll für den Grafen aus Stroh Gold flechten."
Ich begriff nicht gleich, erinnerte mich aber an die Worte ihres Vaters und zog weitere Erkundigungen ein. Langsam begann sich das Bild zu runden. Der gräfliche Diener hatte die Prahlerei des Vaters wörtlich genommen und die Nachricht von den ungewöhnlichen Gaben dieser Christine seinem Herren hinterbracht. Du mußt wissen, das Wort "Gold" besaß damals noch wesentlich magischere Anziehungskraft, als heute Dollar oder T-Aktie. Selbst große Herrscher hatten einen Goldtick und sperrten kluge Leute jahrelang ein, in der Hoffnung sie würden aus ein paar Tonklumpen dieses edle Metall gewinnen. Irgendwo habe ich mal aufgeschnappt, daß auf diese Weise das Porzellan erfunden worden wäre. Kann aber auch genauso ein Lügenmärchen sein, wie das in dem Buch da.
Während ich mich kopfschüttelnd über so viel Dummheit auf den Heimweg machte und auch das Mädchen ein wenig zu bedauern begann, kam mir plötzlich eine Idee, die schlichtweg zu einer fixen wurde und mich einfach nicht mehr loslassen wollte. In meiner Höhle angekommen, steckte ich ein paar kleine Goldstücken in die Tasche und machte mich bei einbrechender Dunkelheit auf den Weg zum Schloß. Ich hatte erfahren, welches Fenster zu dem Zimmer gehörte, in dem der Graf das Mädchen gefangen hielt. Es lag zwar im dritten Stock, aber das störte mich nicht. Ich klettere besser als jede Katze. Die reichlich ausgewaschenen Fugen des heruntergekommenen Gemäuers vermochte ich wie eine Leiter zu benutzen. Es war eine mondlose Nacht, und so konnte ich unbemerkt bis zum glücklicherweise unvergitterten Fenster vordringen. Da dies obendrein nur leicht angelehnt war, gelang es mir, nahezu geräuschlos in das Gemach einzudringen.
Das schöne Mädchen saß beim Schein einer blakenden Ölfunzel auf einem wackligen Holzstuhl, um sich eine Schütte Stroh gebreitet und war so sehr damit beschäftigt, sich die Augen aus dem Kopf zu heulen, daß sie mich erst bemerkte, als ich ihr sacht auf die Schultern tippte.
Entsetzt ließ sie den Rockzipfel fahren, in den sie sich gerade lautstark geschneuzt hatte, schaute mich entgeistert an, und ich mußte sie sogar festhalten, damit sie nicht vom Stuhl kippte.
"Wer bist Du?" fragte sie schließlich vor Angst fast schon hechelnd.
"Namen sind Schall und Rauch", sagte ich weise und begann vorsichtig ihr Knie zu streicheln. Sofort prallte sie zurück, und segelte nun wirklich vom Stuhl. Nie werde ich ihre furchtsam aufgerissenen Augen vergessen, als sie schrie: "Was willst Du von mir? Du...Du...Du alter häßlicher Zwerg!"
Also den Zwerg hätte ich ja noch durchgehen lassen, aber alt und häßlich? Du sollst nicht feixen - das ist immerhin ein paar hundert Jahre her! Damals war ich ein ausgesprochen schöner Zwerg. Verdammt, wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Ich muß gestehen - ich war ein wenig wütend und fand sie mit ihrer verheult verschreckten Fratze auch gar nicht mehr so wahnsinnig anziehend. Vielleicht wurde sie es aber wieder, wenn sie sich auszog?
Da es mir greulich um die Lenden herum kribbelte, unterdrückte ich meinen berechtigten Ärger und sprach salbungsvoll "Ich bin hier, um dir zu helfen, mein Kind."
Schon ließ ich mich neben sie ins raschelnde Stroh gleiten.
"Ich weiß, daß Du aus diesen Strohhalmen hier Gold zusammenbasteln sollst. Der Graf muß reichlich bescheuert sein, wenn er so etwas für bare Münze nimmt."
"Er ist aber nicht davon abzubringen. Er hat sogar gedroht, mich töten zu lassen, wenn es mir nicht gelingt."
"Oh, was für ein arger Tyrann, aber Tyrannen wollen beschissen werden.
"Und wie?"
"Der Graf will nur Gold sehen, egal woher es kommt. Und ich werde es dir beschaffen. Nicht zu viel, denn wir wollen ja den Erlauchten nicht übermäßig verwöhnen."
"Was hast Du vor?" Sie schaute mich mit einer Mischung aus Mißtrauen, Zweifel und allmählich durchschimmernder Hoffnung an. In ihrer Angst würde sich an jeden Strohalm klammern. Innerlich kicherte ich über diese treffende Metapher.
"Nun, ich vermag ein wenig zu zaubern."
"Du kannst Gold herbei zaubern?" Sie hatte sich aufgesetzt, die Knie dicht ans Kinn gezogen und musterte mich nun mißtrauisch von oben herab. Ich genoß einen Moment lang den Anblick ihrer vollendet geformten Waden und riskierte sogar einen Blick auf die verführerisch weißen Schenkel, auf die das zuckende Öllicht verheißungsvoll tanzende Schatten warf. Meine Stimme muß wohl ziemlich belegt geklungen haben, als ich ihr sagte, daß ich das sehr wohl könne. Sie müsse mir dabei nur ein wenig zur Hand gehen.
Ich sprach's und öffnete meine ohnehin schon ziemlich eng gewordene Hose, was ihr einen kleinen spitzen Aufschrei entlockte.
"Was ist das? Etwa ein Zauberstab?"
Oh, welch Glück widerfuhr mir hier. Das Mädchen schien noch einfältiger, als ich es im Stillen erhofft hatte.
"Das ist mein Rubbel-Stielchen", sagte ich ernsthaft und nicht ganz ohne Stolz, denn im Gegensatz zu meinen sonstigen Körperproportionen vermochte sich mein Zauberstab durchaus mit denen von normal gebauten Männern zu messen.
"Rubbel-Stielchen? Davon habe ich noch nie etwas gehört", staunte sie und schaute mit neugieriger Skepsis auf die Zierde meiner Zwergigkeit.
Und nun begann ich mit einer recht langatmigen Erläuterung darüber, woher diese Bezeichnung stamme und wie man das Stielchen benutze. Ich vergaß auch nicht, vorsorglich darauf hinzuweisen, daß man die Rubbelei auf keinen Fall allzu wörtlich nehmen dürfe und sehr viel Einfühlungsvermögen geboten sei.
Christine begriff viel schneller, als ich zu erklären vermochte. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr mehr, als meine blumigen Worte. Und sie erwies sich wirklich als äußerst einfühlsam. Als ich schließlich nach geraumer Zeit ihres lustspendenden Tuns schließlich japsend und lustvoll die Augen verdrehend beim Uiih, Ooohhh und Aaaahhh angekommen war, besaß ich gerade noch soviel Geistesgegenwart, ihr eines meiner Goldstücke in die feucht gewordenen Hände zu schmuggeln. Sie betrachtete es mit kindlichem Erstaunen und meinte schließlich, daß sie sich das Ganze wahrlich nicht so leicht vorgestellt habe.
"Vor allem, wie schnell das ging!"
"Tja - wenn das Stielchen sehr lange nicht mehr benutzt wurde, dann geht es besonders rasch."
Eine Weile sann sie vor sich hin, drehte das Gold hin und her und äußerte schließlich Zweifel, ob den Herrn Grafen dieses kleine Stückchen auch zufrieden stellen würde. Ich wackelte ebenfalls bedenklich mit dem Kopf und meinte, ein wenig mehr müsse es wohl sicherlich noch sein.
"Funktioniert er denn noch?" fragte sie mit einem zweifelnd scheelen Seitenblick auf das trostlos in sich verkrochene Etwas, das wahrlich keine Ähnlichkeit mit einem Stab mehr besaß.
"Du vermagst dem Rubbel-Stielchen seine Zauberkraft wieder zurück zu geben. Du mußt nur kräftig..."
Aber da war sie auch schon zu Gange. Christine mühte sich nach Kräften und schien richtig begeistert, als sie spürte, daß die Zauberkraft tatsächlich zurück zu kehren schien. Ihre Bemühungen wurden nach und nach ungeduldiger, energischer und schließlich schmerzhaft fordernd.
"Du hast gelogen", sagte sie schließlich ganz außer Atem und rieb sich das schmerzende Handgelenk.
"Nein, ihm ist nur kalt", erklärte ich und wollte gerade zu weiteren Erläuterungen ausholen, als sie mir ins Wort fallend vorschlug, doch einfach die Ölfunzel drunter zu halten.
"Neiiin!" schrie ich entsetzt, und endlich gelang es mir - ich gebe zu, es geschah ziemlich umständlich - ihr klar zu machen, an welche sensibler Stelle ihres Körpers die Wärmeübertragung unbedingt stattfinden müsse, wenn sie den gewünschten Erfolg haben solle. Es kostete mich schon einige Mühe, ihr Mißtrauen zu zerstreuen, um schließlich zur Tat schreiten zu dürfen. Als sie den kleinen Schmerz spürte, den ich ihr zuzufügen nicht umhin kam, zuckte sie merklich zurück, und ich hatte schon Angst, sie würde in Wehgeschrei ausbrechen, welches unter Umständen sogar die Dienerschaft im Schloß aufwecken könnte. Doch meine Sorge erwies sich als unbegründet, vom ersten Aufschrei bis zu einem wohligen Seufzer war es nur ein winziger Moment und dann...

· * *
Hier brach der Alte ab, und Maik sah, wie er mit verklärt glasigen Augen einen imaginären Punkt im Raum anstarrte.
"Es war wahrlich traumhaft schön", sagte er nach einer Weile. Allmählich gelang es ihm, auch seinen Blick wieder zurück zu holen. und auf Maik zu heften.
"Aber was schwärme ich dir hier vor. Du weißt sicherlich viel besser als ich, wie beglückend es mit einer schönen Frau sein kann. Uns Zwergen ist das leider nur sehr selten vergönnt."
Seine Mundwinkel hingen einen Moment lang traurig herab, aber dann verzog sich sein Gesicht zu einem heiteren Grinsen. "Dafür leben wir länger."
"Und wie ging es dann weiter?" fragte Maik. "War der Graf mit dem Gold zufrieden?"
"Natürlich nicht. Solche goldgeile Kreaturen können nie genug bekommen. Christine flocht auf meinen Rat hin einige hübsche Strohblumen, die sie mit den Goldstücken verzierte. Der Graf war zwar entzückt, ließ sich aber von ihrem Betteln, sie doch bitte nach Hause zu lassen, nicht im geringsten erweichen. Sie blieb weiter eingesperrt, wurde nur mit mehr Aufmerksamkeit behandelt. Sogar ein vortrefflich weiches Federbett stellte man in ihr Zimmer. Was für aufregende Nächte durfte ich dort mit ihr verbringen! Ich hätte es sicherlich noch lange so ausgehalten, aber allmählich schmolz mein in harter Bergwerksarbeit erschufteter Goldvorrat spürbar zusammen. Außerdem wollte ich nicht einsehen, daß ich große Teile meines Schatzes diesem gräflichen Nimmersatt in den Rachen werfen sollte. Ich grübelte lange, und eines nachts, es war das elfte Mal, daß ich Christine besuchte, kam mir eine Idee.
"Weißt Du Christine, ich muß dir etwas gestehen. Der Zauberstab kann nur zwölfmal hintereinander Gold bescheren. Ab dem dreizehnten Mal funktioniert es zwar immer noch, aber das Gold bringt dann seinem Besitzer sehr großes Unglück. Nicht mal sein Tod läßt sich ausschließen. Übermittle das dem Grafen. Vielleicht läßt er es nicht darauf ankommen und schickt dich wieder nach Hause.
"Und wenn nicht?"
"Dann wird ihn tatsächlich ein Unglück ereilen, das dir die Freiheit beschert", sagte ich, besaß aber keinen Schimmer, wie das funktionieren sollte. Doch mir würde schon etwas einfallen. Im Moment vertraute ich einfach auf die Dummheit des Grafen. Und ich besaß Glück. Zwar war der vornehme Herr stocksauer, aber er wollte wohl kein unkalkulierbares Risiko eingehen. Mit meinem Gold war es ihm bereits gelungen, seinen maroden Haushalt zu sanieren. Der Rest würde wohl noch für etliche rauschende Feste reichen. Also entließ er Christine schweren Herzens, befahl jedoch einem Diener, das Mädchen auf Schritt und Tritt zu beobachten. Zufällig - oder absichtlich - wählte er den gleichen Knaben, der ihm schon die Nachricht von Christines angeblichen Künsten überbracht hatte. Sie kehrte glücklich ins Vaterhaus zurück und nahm ihr gewohntes Leben wieder auf. Stroh flocht sie allerdings nicht mehr.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Rubbel-Stielchen [2.(und letzter)Teil]


Ich kehrte in meine Höhle zurück und ruhte mal wieder so richtig aus. Ab und an saß ich vor meiner Schatztruhe, um die mir verbliebene Barschaft zu überprüfe. Es war noch genug da, um selbst ein langes Zwergenleben mühelos bestreiten zu können.
‚Du warst dem Mädchen gegenüber ganz schön knickrig", gestand ich mir ein. Und während ich so nachdachte, ertappte ich mich immer wieder bei der Fiktion, wie schön es doch wäre, den restlichen Schatz gemeinsam mit Christine auszugeben. Immer wieder kreisten meine Gedanke um das Mädchen. Wie mochte es ihr gehen? Wie kam sie mit dem vom Grafen zugewiesenen Aufpasser zurecht? Dachte sie manchmal auch an mich. Die Erinnerung an die wenigen gemeinsam verbrachten Nächte ließen mich im Nachhinein auf einmal mehr erbeben, als zu der Zeit, wo ich noch abends zu ihr geschlichen war. Es war kein unbändiger Wunsch, mit ihr schlafen zu wollen, der mich immer wieder an sie denken ließ. Nein - wir Zwerge sind da nicht so anspruchsvoll. Wir sind an lange Zeiten der Abstinenz gewöhnt. Nein - es war ein völlig neues Gefühl, das mich da klammheimlich beschlich - ein Gefühl, das ich bisher noch nie erfahren hatte. Es ließ mich nur noch unruhig schlafen, blockierte systematisches Denken - machte rastlos. Sollte das Liebe sein? Nein - es war bei weitem nicht nur sexuelles Verlangen, was mich mit Macht zu ihr zog. Im Gegenteil - der Wunsch nach ihrer Nähe, ihrer Zärtlichkeit, ihrer Wärme, das war es, was die Sehnsucht nach ihr immer stärker werden ließ, bis ich es schließlich nicht mehr aushielt.

Eines Tages schlich ich zu der erbärmlichen Kate nahe der Mühle, wo Christine und ihr Vater wohnten. Aus einem sicheren Versteck heraus wartete ich auf eine günstige Gelegenheit für eine Begegnung mit ihr. Doch das erwies sich als ungemein schwierig, hatte sie doch jetzt den ganzen Tag ihre Freundinnen um sich. Und wenn mal keine von ihnen da war, trieb sich garantiert dieser Adonis in gräflichen Diensten um sie herum. Und nachts? Da wagte ich mich nicht zu ihr. Ihre Kammer besaß nicht annähernd solche dicken Wände, wie das Gemach im Schloß.
Endlich - es mochten schon an die vier Wochen seit unserer letzten Begegnung vergangen sein, da sah ich sie allein nach Hause kommen. Endlich durfte ich ihr sagen, wie es um mich stand.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, kroch aus meinem Versteck und baute mich halb freudig, halb verlegen grinsend vor ihr auf. Mein Herzschlag erinnerte mich an das Trommeln von Pferdehufen und die Hände fühlten sich klebrig feucht an. Wohin hatte sich mein schnoddriges Selbstbewußtsein verkrümelt?
"Du?" Sie sah mich entgeistert an und hatte sichtlich Mühe, ihre Überraschung zu verbergen. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. Sie hatte sich verändert. Ich vermißte den kindlich naiven Ausdruck in ihren Augen.
"Ja, ich", sagte ich ziemlich einfältig. Mein Grinsen gefror, als ich die totale Abwehr in ihrem Gesicht erkannte.
"Was willst Du noch? Ich glaubte dich längst über alle Berge."
Ich biß mir auf die Lippen. Schon fühlte ich meinen Mut schwinden, und viel zu hastig sagte ich. "Dich will ich Christine, nur dich!"
Es mißlang mir wohl gründlich, meinen Worten den beabsichtigten gefühlvollen Klang zu verleihen. Es wirkte vielmehr abgehackt und kratzig.
Sie lachte schrill auf. "Was soll das heißen: Du willst mich? Möchtest mich wohl in deine Höhle verschleppen, in dein ungemachtes Bett zerren und mir deinen angeblichen Zauberstab in den Leib rammen. Ist es das?"
Sie kam drohend auf mich zu, und ich ertappte mich dabei, den Kopf leicht einzuziehen. Was war nur in den paar Wochen mit ihr geschehen? Konnte man sich so verändern?
"Aber Christine", wagte ich einen zweiten Anlauf. "Was hast Du denn mit einem Mal Wir haben uns doch immer wunderbar verstanden. Du und ich. Denk doch nur an die unvergesslichen Nächte im Schloß."
"Erinnere mich nicht daran", zischte sie gefährlich nah an meinem Ohr. "Du hast meine Notlage und meine Naivität schamlos ausgenutzt. Meine Freundinnen haben sich halb tot gelacht, als ich ihnen von der angeblichen Zauberkraft deines Rumpelstieles erzählte. Du hast nur meine Unwissenheit für die Befriedigung deiner Begierde mißbraucht. Gut, deinem Gold verdanke ich meine Freiheit. Aber ich habe es bei dir redlich abgearbeitet. Meine Unschuld hast Du noch als Zugabe bekommen. Reicht das immer noch nicht?"
Ich sah den Haß und die Verachtung in ihren Augen und fragte mich, ob sie wirklich mich meinte.
"Aber ich liebe dich doch Christine."
"Weißt Du eigentlich, was das ist - Liebe? Denk mal darüber nach, aber laß mich damit in Ruhe. Und noch etwas. Wage es nicht noch einmal, mir irgendwo aufzulauern. Mein Liebster prügelt dir die Seele aus dem Leib. So, und nun geh mir aus dem Weg!"
Sie schritt ganz dicht an mir vorbei. Ich hätte nur die Hand nach ihr ausstrecken brauchen. Statt dessen stand ich wie angewurzelt auf dem staubigen Weg und starrte ihr nach, bis sie hinter einer Wegbiegung verschwand.
‚Mein Liebster wird dir...', diese Worten hallten noch grausam in mir nach, als ich mich bereits mit müden Schritten zu meiner Höhle schleppte. Meine Hände besaßen kaum noch Gefühl, die Stirn schien zu glühen und die Augen verdampften die Tränen, noch ehe sie fließen konnten. Zwei Wochen lang bekam ich kaum einen Bissen runter. Dann wurde ich krank. Hohes Fieber, Schüttelfrost - so schlimm hatte es mich noch nie erwischt. Und es wollte und wollte nicht besser werden. Mehrere Wochen blieb ich ans Bett gefesselt. Es dauerte fast den ganzen Sommer, bis ich mich einigermaßen erholt hatte. Als ich mich wieder bei Kräften fühlte, beschloß ich, diese Gegend zu verlassen. In einer anderen Umgebung würde die tiefe Wunde schneller heilen. Und so entschloß ich mich, an einem der letzten warmen Sommertage heimlich von ihr Abschied zu nehmen. Abschied für immer. Nur einmal noch wollte ich sie sehen, ihren Anblick in mich aufnehmen, um ihn für alle Ewigkeit in mir zu verschließen.
Ich mußte wieder lange in meinem Versteck ausharren, bis ich sie endlich aus dem Haus treten sah. Von ihrem Aufpasser keine Spur.
Sie ging mit einem vollen Wäschekorb zum Bach. Ihr Schritt wirkte irgendwie schwerfällig, und einige Male mußte sie den Korb sogar absetzen, um Luft zu schöpfen. Auch das Scheuern, Spülen und Wringen der Wäsche schien sie ungewöhnlich stark anzustrengen. Plötzlich sah ich sie taumelnd nach einem Halt suchen, doch ihre Hände griffen ins Leere, und sie fiel hintenüber ins Gras. Da hielt mich nichts mehr in meinem Versteck. Ich schoß aus dem Gebüsch, sprang in wilden Sätzen über die Wiese und kniete mich schließlich keuchend neben der Ohnmächtigen nieder. Ich tätschelte ihre blassen Wangen, küßte die blutleeren Lippen und rief sie verzweifelt beim Namen. Weil sie nur ganz flach atmete, zerrte ich beherzt an den Schnüren ihres viel zu engen Mieders, versuchte ihr Luft zu schaffen und...da fiel mein Blick zufällig auf ihren leicht gewölbten Bauch. Einem Reflex folgend, glitt meine Hand darüber hin. Aus dem besorgten Tasten wurde ein liebevolles Streicheln.
"Christine - liebe Christine. Komm zu dir. Ich bin es doch. Wach auf!"
Ich schöpfte mit der hohlen Hand etwas Wasser aus dem Bach und sprengte es vorsichtig auf ihre Stirn. Erleichtert stellte ich fest, wie die Farbe endlich wieder in ihr Gesicht zurück kehrte und ihre Lider zu zittern begannen. Ich atmete auf.
Doch nie werde ich das Entsetzen vergessen, mit dem sie plötzlich hochfuhr, als sie mich erkannte. Ja - das schmerzt heute noch. Und es tat mir damals unendlich mehr weh, als die Schläge, die nun auf mich nieder prasselten. Kaum richtig zur Besinnung gekommen, fast noch ein wenig taumelnd, schnappte sie sich ein nasses Bettuch und drosch blindwütig auf mich ein.
"Du mieser...boshafter...heimtückischer...Zwerg!"
Bei jedem Wort klatschte mir das Laken ins Gesicht., so daß mir Hören und sehen verging. Schließlich erwischte mich ein so kräftig geführter Hieb, daß ich mich mehrmals überschlug und kopfüber in den Bach kugelte. Keuchend rettete ich mich auf einen großen Stein.
"Schau - was Du mir mit deinem Rumpelstilzchen angetan hast!" schrie sie hysterisch und streckte demonstrativ den Bauch heraus. Sogar mein Liebster hat mich verlassen - nur wegen deinem...deinem verfluchten Rumpelstilzchen!"
"Rubbel-Stielchen", verbesserte ich kleinlaut, doch das machte sie nur noch wütender. Mit demütig gesenktem Kopf ließ ich ihre Schimpfkanonade über mich ergehen und hob ihn erst wieder, als sie sich schwer atmend am Ufer nieder ließ und schließlich in Tränen ausbrach. Innerlich frohlockte ich ein wenig. Ihr Liebster hatte sie verlassen, daß war Musik in meinen Ohren. Das gab neuer Hoffnung Nahrung.
"Und was soll nun werden?" wagte ich zwischen zwei herzzerreißende Schluchzer zu werfen.
Sie zuckte nur mit den Schultern.
"Ich werde zur alten Kräuterhexe gehen", preßte sie schließlich heraus.
"Du willst das Kind...mein Kind...unser Kind...?" Ich vermochte es nicht zu fassen.
"Was bleibt mir weiter übrig", heulte sie. "Verführt von einem verlogenem Zwerg, entehrt von einem lüsternen Zwerg, geschwängert von einem verantwortungslosen Zwerg. Nie wieder wird mich ein Mann haben wollen."
Ein verlogener, lüsterner und verantwortungsloser Zwerg., hatte sie gesagt. Sollte ich wirklich so ein Unhold sein? Vor allem das "verantwortungslos" wurmte mich.
"Christine, das kannst Du nicht machen. Es ist unser Kind! Ich habe da auch noch ein Wort mitzureden. Und außerdem - wenn es bekannt wird, landest Du für den Rest deines Lebens im Kerker. Dafür hat dich deine Mutter nicht geboren."
"Klug reden kann jeder. Weißt Du vielleicht einen Rat?" höhnte sie, aber ihre Stimme hatte bereits viel von ihrer Aggressivität eingebüßt."
"Ja", sagte ich daher rasch. "Komm mit mir. Ich habe dir schon einmal geholfen, da..."
"Geholfen? Du hast mich von einem Unglück ins andere gestürzt und auch noch Freude dabei empfunden", fauchte sie erneut aufgebracht.
"Das habe ich s o nicht gewollt, und ich werde versuchen, es wieder gut zu machen", beteuerte ich im Brustton tiefster Überzeugung. "Überlege es dir. Ich werde immer für dich da sein."
Ihr Gesicht bedeckte sich mit bitterem Hohn, aber sie schwieg. Ja - sie schwieg sehr sehr lange. Nach und nach entkrampften sich ihre Züge und nahmen einen nachdenklichen Ausdruck an, während sich ihre hübschen Zähne tief in die Unterlippe gruben.
"Na gut. Ich will dir glauben - ein letztes Mal."
Ich hätte vor Glück tanzen können - auch auf die Gefahr hin, von dem glitschigen Stein abzurutschen und erneut ins Wasser zu fallen. Statt dessen schaute ich sie nur dankbar an.

* * * *

Die Erinnerung schien den kleinen Mann, so aufzuregen, daß er schwer atmend eine Pause einlegte. Während er Tee nachschenkte zitterte er am ganzen Körper. Nachdenklich und beinahe ein wenig bedrückt nahm Maik einen vorsichtigen Schluck von dem heißen Getränk. Die Geschichte, die so flapsig angefangen hatte, begann ihn zu rühren. Er hätte gern gefragt, wie es denn nun weiter ging, aber das krampfhafte Zucken um die Mundwinkel des Alten hielt ihn davon ab. Es dauerte geraume Zeit, bis der niedrige Raum wieder von der kratzigen Stimme des Zwerges erfüllt wurde.
"Vier Tage später zogen wir los. Wir schlugen uns fast eine ganze Nacht lang durch das nahezu undurchdringliche Dickicht des Waldes. Während des beschwerlichen Marsches sprachen wir kaum ein Wort miteinander. Zu unterschiedlich waren wohl die Gedanken, mit denen wir uns - jeder für sich - beschäftigten.
Kurz vor dem Morgengrauen erreichten wir schließlich todmüde meine vorzüglich getarnte Erdhöhle. Christine sank völlig erschöpft auf das sorgsam von mir vorbereitete Lager. Sie schlief sofort ein und wachte erst gegen Mittag auf. Ich hatte die ganze Zeit an ihren Kopfende gesessen, hin und wieder scheu ihr Gesicht gestreichelt und mich beglückenden Träumen hingegeben. Doch die begannen bereits unmittelbar nach Christines Erwachen langsam, aber unaufhaltsam zu zerbröseln und vergingen im Laufe der folgenden Wochen im bitteren Nebel der Realität. Dabei war Christine nicht einmal unfreundlich zu mir, aber sie wahrte eine betont kühle Distanz, die ich nicht zu durchbrechen vermochte.
Wir teilten uns die wenige Hausarbeit, saßen fischend am Seeufer und wenn ich Besorgungen machte, ging sie in den Wald und suchte Beeren und Pilze. Abends schwatzten wir lange auf der Bank vor der Höhle, aber mein höchstes Glück war es, wenn ich im Bett vor dem Einschlafen ihre Hand halten durfte. Ja, meine Ansprüche waren im Laufe der Zeit auf ein bescheidenes Maß herab gesunken, aber ich versäumte nie, meiner eigenen Hoffnung wenigstens etwas dürftige Nahrung zukommen zu lassen. Ich gestehe: nicht selten packte mich der Wunsch, sie einfach in den Arm zu nehmen, sie zu streicheln und schließlich...
Kannst Du dir vorstellen, monatelang neben der von dir geliebten Frau Nacht für Nacht zu liegen und nicht mehr als ihre Hand berühren zu dürfen? Das ist nicht auszuhalten, wirst Du mir antworten. Ich habe es ausgehalten.
Und dann - der Winter hatte mit klirrender Kälte seinen Zenit erreicht - da setzten eines Tages die Wehen ein. Obwohl mich ihre Schmerzensschreie erschütterten, empfand ich eine unterschwellige Heiterkeit. Das Gefühl, ihr beistehen zu dürfen, ihr bedingungsloses Vertrauen zu genießen und mit ihr untrennbar Verbindendes zu erleben - das übertraf alles bisher Dagewesene.
Sie gebar eine Tochter, die mit einem lauten Krähen ihre Ankunft anzeigte.
"Unsere Tochter", sagte ich und erntete ein Lächeln, das wie ein gleißender Sonnenstrahl durch die Düsternis der letzten Tage und Wochen brach. "Unsere Tochter!" jubelte ich und tanzte mit dem kleinen Bündel auf dem Arm in der Stube umher.
Wir übertrafen uns regelrecht in der Sorge um unser Kind, das wir an einem nahen Bach auf den Namen Claudia getauft hatten. Und ich war Christine unendlich dankbar dafür, daß sie nie Bedenken wegen einer eventuellen Kleinwüchsigkeit des Kindes äußerte.
Der Frühling kam, und unser Kind gedieh prächtig.
"Haben wir nicht ein wunderschönes Leben?" fragte ich Christine einmal, als wir wie gewohnt Händchen haltend auf den Schlaf warteten. "Wir besitzen ein schönes Zuhause, haben ein gesundes Kind, es fehlt uns an nichts, und die Unrast der anderen Menschen darf uns völlig gleichgültig sein."
"Ja", sagte sie nur, aber es klang aufrichtig.
"Bist Du nun immer noch so zornig auf das fürwitzige Rubbel-Stielchen?" wagte ich zu scherzen. Statt einer Antwort spürte ich plötzlich zu meinem grenzenlosen Erstaunen ihre weiche Hand, die den eben Genannten sanft zu umschließen begann. Ich genoß ihre Liebkosungen mit allen Fasern meines kleinen, aber vor Glückseligkeit plötzlich ins Unendliche wachsenden Körpers. Es war, als erlebte ich die Vereinigung mit ihr zum ersten Mal richtig.
Später lagen wir dicht aneinander gekuschelt, und ich streichelte dankbar jeden Quadratzentimeter ihrer milchig duftenden Haut. Sie schnurrte wie eine Katze und erwiderte ungemein gefühlvoll meine Zärtlichkeiten. Ich hätte platzen können vor Glück.
Irgendwann - ich war wohl gerade am Einschlafen - glitt ihre Hand tastend über das Laken.
"Was suchst Du?" fragte ich schlaftrunken.
"Da fehlt noch etwas", lachte sie gurrend.
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff. Dann ging ich auf den Scherz ein. Ich stieg aus dem Bett, schlich zu meiner Truhe, betätigte den komplizierten Mechanismus des schweren Schlosses und holte ein Goldstück hervor. Vergnügt grinsend legte ich es ihr zwischen die Beine. Sie lächelte spitzbübisch und hauchte ein: "Danke, liebes Rubbel-Stielchen."
Dann lachten wir herzhaft und alberten noch eine Weile herum, bis uns schließlich der alte brave Morpheus still in seine Arme nahm.
Am nächsten Morgen erschien mir alles wie ausgewechselt. Christine schaukelte die Kleine auf den Knien, sang leise ein Lied dazu und strahlte mich förmlich an, als ich neben sie trat. Ich strich ihr über das nach Frühling schnuppernde Haar und küßte ihren schmalen Nacken.
In den nächsten Wochen war ich der glücklichste Zwerg, der je unter dieser Sonne gewandelt ist. Tagsüber waren wir meist ausgelassen, spielten mit der kleinen Claudia, fütterten sie abwechselnd und brachten sie abends gemeinsam zu Bett. Und während wir uns über die Wiege beugten, trafen mich nicht selten bereits wieder die verheißungsvolle Blicke meiner so wunderbar verwandelten Christine.
Eines Abends war dann der Zeitpunkt gekommen, wo ich ihr mein letztes Goldstück auf das Laken legte.
"Aber das macht doch nichts", sagte sie, als ich ihr dies gestand.. "Morgen packst Du alles wieder in die Truhe, und das Spiel beginnt von vorn."
Ich kicherte zustimmend. Ja - irgendwie gehörte dieses abschließende Ritual dazu.

"Aber heute bin ich doch dran, das Frühstück zu bereiten", rief ich, als ich am nächsten Morgen erwachte und das Bett neben mir leer fand. Doch mein scheinheiliger Protest hatte sich damit auch schon erschöpft. Mich wohlig räkelnd, beschloß ich noch so lange zu schlafen, bis Christine nach mir rufen würde. I
Ich erwachte, als ich die Kleine schreien hörte. Sofort spürte ich, daß ich noch einmal sehr lange geschlafen haben mußte.
"Christine?"Keine Antwort. War ihr etwas passiert? Ich fuhr aus dem Bett, sprang in die Küche und... keiner da. Ich rannte nach draußen, rief laut in den Wald hinein - nichts.
Da sprang mich urplötzlich eine noch nie erfahrene Angst an und riß mich fast zu Boden. Angst - ihr könnte etwas Schlimmes zugestoßen sein. Angst - sie könnte sogar.... ich wagte es nicht zu Ende zu denken. Als ich ratlos und schwer atmend in die Küche zurück ging, entdeckte ich auf der hellen Tischplatte die mit Holzkohle ungelenk gemalten Schriftzeichen.

Jetzt sind wir quitt, du Zwerg
Christine

Wie ein prall gefüllter Weinschlauch, den man mit einem Messer aufgeschlitzt hat, fiel ich in mich zusammen. Der Korbstuhl fing mich auf, doch das registrierte ich kaum. Ich saß, starr und schlaff zugleich - und hatte das Gefühl in einen unendlich weiten leeren Raum zu blicken. Tödliche Kälte kroch von den Beinen bis zur Brust hinauf. Ich weiß nicht, wie lange ich so gesessen, gehockt, gelegen, gekauert habe - und ich würde dort gelähmt verharrt und auf den Tod gewartet haben, wenn da nicht die kläglichen Schreie der Kleinen gewesen wären.
Irgendwann stand ich schließlich vor der Wiege, blickte verstört in das Gesicht, das noch winziger war als das meine und beschloß in grimmig aufkommender Entschlossenheit, das Sterben zu verschieben."

* * * * *

Ein feines Lächeln überzog das runzelige Gesicht des Alten. Seine Augen, in denen eben noch dunkler Schmerz gewütet hatte, hellten sich wieder auf. Er beugte sich vor und ergriff erneut das Märchenbuch.
"Du wolltest mir nur dieses Buch bringen. Nun hast Du dir eine sehr lange Geschichte anhören müssen. In den Aufzeichnungen dieser Gebrüder Grimm" - die letzten beiden Worte sprach er in fast verächtlichem Unterton - "bin ich das widerliche Scheusal, das letztlich eine gerechte Strafe ereilt, während die dumme Müllerstochter zur reichen Königin und glücklichen Mutter erhoben wird. Christine war reich, als sie von mir weg ging. Ob sie glücklich geworden ist und je wieder Mutterfreuden entgegen sehen durfte - das weiß ich nicht. Wir sind uns nie wieder begegnet.
Ich habe sie bis zur Selbstaufgabe geliebt, aber sie vermochte diese Liebe nicht erwidern. Ich habe es erzwingen wollen und mußte scheitern. Ich kann ihr nicht böse sein. Vor allem deshalb nicht, weil sie mir ein wunderbares Geschenk gemacht hat - Claudia. So fand ich mein Glück in der Liebe meines Kindes, dem meine Kleinwüchsigkeit etwas ganz normales war. Zwar wuchs sie mir bald über den Kopf, aber durch unser Leben in totaler Abgeschiedenheit fehlte ihr der Vergleich zu anderen Menschen. Manchmal gewann ich fast den Eindruck, sie wäre durch ihre Größe verunsichert.
Wir unternahmen lange Wanderungen durch die damals noch so undurchdringlichen Wälder. Ich lehrte sie, die Sprache der Tiere zu verstehen und die vielfältigen Pflanzen zu unterscheiden. Ich mied stets die Nähe von Siedlungen und ging, wenn es unbedingt notwendig war, stets allein dort hin. Irgendwann meinte ich aber zu spüren, daß ich kein Recht besäße, sie nur für mich zu behalten. Sie war schon fast ein junges Mädchen geworden und würde in absehbarer Zeit ihren Anspruch auf ein eigenes Leben anmelden. Also beschloß ich eines Tages, die Höhle, die mir so viel schmerzliche aber noch viel mehr glückliche Stunden beschert hatte, für immer zu verlassen. Die belebten Straßen und Wege stets meidend wanderten wir hinüber ins Siebengebirge. Dort wußte ich ein paar alte Gefährten, die in einem schmucken Haus wohnten und gleich nebenan ein kleines Bergwerk betrieben. Dort zog es mich nun hin. Nicht zuletzt auch deshalb, weil mein Zwergenblut endlich wieder nach harter Arbeit unter Tage verlangte.
Meine sechs Freunde staunten nicht schlecht, als ich in Begleitung eines zwar etwas blassgesichtigen aber ansonsten wunderschön anzusehenden Mädchens bei ihnen aufkreuzte. Sie nahmen sich kaum Zeit, zur üblichen zeitraubenden Zwergenbegrüßung, sondern besaßen nur Augen für meine Tochter.
"Die Haut - weiß wie Schnee, die Haare - schwarz wie Ebenholz, die Lippen - so rot wie Blut", schwärmte der schon immer besonders romantisch veranlagte Kunz, und in seine Augen trat ein verklärter Glanz. "Wißt ihr was? Wir nennen sie..."
"Schneewittchen!" platzte Maik ungewollt dazwischen.
Der Alte nickte versonnen, doch dann bekam er Augen so groß wie Bierdeckel.
"Wo...woher...woher weißt Du ....?"
"Das steht auch in dem Buch der Gebrüder Grimm."
"Was sagst Du da? Das glaube ich nicht. Zeig her!"
Während der Alte unter ständigem Kopfschütteln suchend die Seiten hin und her blätterte, stand Maik unbemerkt auf und verließ leise die Höhle. Draußen empfing ihn wieder der warme Sommertag. Er mußte sich endlich seiner Arbeit im Reservat widmen. Hatte er doch schon viel zu lange bei dem gebrechlichen Zwerg gesessen. Aber er würde wiederkommen.
 

ex-mact

Mitglied
Meine Version...

Mein Beitrag steht in der Lupe nicht mehr zur Verfügung. Auf Anfrage versende ich diesen jedoch gerne.

mact, 28.03.2002
 

ex-mact

Mitglied
Es wäre schön, wenn wir uns gegenseitig mit Kommentaren weiterhelfen könnten. Ich werde auch weiterhin regelmäßig meine Gedanken "veröffentlichen" - aber ich denke, daß die Vielfalt der Kommentare jedem etwas bringen kann.

Ich gehe einmal voran und stelle meine Notizen vor:

Rote Socke:
* am Anfang ein paar "Schönheitsfehler" wie "wer würde nach mir..." (wer wird nach mir!) oder "seine Zeit nahte dem Ende...", "war vergönnt gewesen..." sowie Zeitenfehler (Konjunktive)
* es wird sehr schön dargestellt, warum R. das Kind der Königin haben will, leider geht die einfühlsame Erzählweise auf halber Strecke verloren, das Ende ist sehr abrupt und "herzlos".
* die Sichtweise ist meist tatsächlich die von R., doch auch hier geht der Fokus am Ende verloren, als "ein Späher der Königin R.s Singsang hörte": hier verfällt der Erzähler in die "normale" Sichtweise


Renee:
* Schönheitsfehler (darauf schieße ich mich langsam ein :) ): "MittlerWeile War es Winter" (www - wurchtbar wiele Ws!), Gischt sind die weissen Wasserflocken auf dem Meer (Du meinst Gicht), "Hilferuf ereilt" ist stilistisch unschön im Zusammenhang mit den zuvor "persönlichen, einfachen Worten"
* die Erzählweise erinnert eher an einen unabhängigen Erzähler, obwohl sie in der "Ich-Form" steht ("...sagte ich leise..."), der Charakter des Erzählers wird hier weniger deutlich, als wenn in der dritten Form erzählt würde
* einige Wortwiederholungen ("kleine Waldhütte, kleine Küche...", "musste ihr helfen, musste ihr helfen", "um mich herum, um mich herum") und uneinheitlicher Sprachrhythmus (laut vorlesen!) (z.B. "kleinste Detail, welche Gestiken und Augenaufschläge...") stören den Lesefluss
* wenn R. durch ein Dimensionstor zur Königin springt und deutlich davon sagt, daß in DIESER Welt niemanden seinen Namen kennt: wie kann dann jemand seinen Singsang hören und der Königin davon erzählen?
* die Sichtweise ist zwar die von R., aber seine Reaktionen und sein Denken/Fühlen werden nicht besonders deutlich. Wie zuvor bemerkt scheint die Erzählung in "dritter Person gedacht, in erster geschrieben" zu sein. Ich-Erzählungen sollten möglichst einen Einblick in das Seelenleben des Erzählers bieten und hier fehlt IMHO dem Text die Tiefe
* der Schluss (die "Moral" oder "Lehre") ist sehr schön.


Ralph:
* sehr schöner Einstieg, am Satzbau könnte man, wenn man will, noch feilen
* "äsen" Storche? (bin mir nicht sicher, ich dachte, nur Wild würde äsen...)
* die Einleitung ist, obwohl schön erzählt, leider "überflüssig" - sie erklärt weder Rumpelstilzchen noch bringt sie für die Story wichtige Elemente
* Erzählung von R. ist sehr gelungen: die Einleitung gibt einen Überblick über die "wirklichen Umstände" und wirft gleichzeitig ein Licht auf R.s Charakter
* "das Bild begann sich zu runden"? Interessante Metapher...
* die zwischendurch eingeworfenen Kontakte mit dem Zuhörer ("lach nicht!") lockern die Erzählung wunderbar auf
* die Erzählung der "Zauberei" ist stilistisch uneinheitlich: manchmal umschreibt der Zwerg sein Tun höflich ("der kleine Schmerz, den ich ihr zufügen musste..."), an anderer Stelle ist er sehr viel "banaler" ("in der Hose war es eng geworden"). Es ist schwierig, das Geschehen "stimmig" rüber zu bringen, hier könnte aber auf jeden Fall noch gefeilt werden
* Unstimmig wird es, wenn der Zwerg erklärt, woher er sein Gold hat: Bergwerksarbeit bringt niemals "reines Gold" zu Tage. Er müsste schon eine Schmelze sein Eigen nennen und etliche Hilfskräfte beschäftigen, um aus einem Bergwerk Gold zu fördern
* einige Phrasen werden recht häufig wiederholt ("nein - es war so und so... nein, wir Zwerge...")
* die "Erkenntnis" der Dummbiene über R.s Zauberstengel ist etwas unglaubwürdig geraten (allerdings fand ich ihre Unwissenheit vorher noch unglaubwürdiger)
* Wind erreicht keinen Zenit :)
* die schwierige Wendung (der Name des Zwergs als Bedingung für sein Verschwinden) wird stimmig umgangen, der Schluss mit dem Hinweis auf "Claudias" weiteren Lebenslauf ist ebenfalls schön zu lesen
* Insgesamt kann man an diesem Text nur Kleinigkeiten verbessern, er ist zum größten Teil wirklich gelungen. Am Meisten stört mich der die fehlende (ironische) Distanz zum Sex - das dürfte aber subjektiv sein.
 
R

Rote Socke

Gast
Ja marc,

Deine Anmerkungen leuchten mir ein. Hast die Schwachstellen wieder treffsicher herausgepickt.

@ralph
Freut mich sehr etwas von Dir zu lesen. Die Länge, ich geb's zu, war gewöhnungsbedürftig, aber das trübte den Lesespass nicht. Gerade weil Deine, wie auch Reenes Version, mal eine andere Richtung einschlugen. Ich war da doch zu sehr auf die Urgeschichte fixiert.

Hat Freude gemacht.
 

axel

Mitglied
Hallo Ralph.
Also ich muss gestehen: Ich bin zutiefst beeindruckt!
Normalerweise kenne ich von dir (fast) nur Kommentare zu den Werken anderer, und obwohl diese eigentlich immer Hand und Fuß haben, kann ich mich doch nur an eine einzige Geschichte erinnern, die ich von dir mal gelesen habe.
Und dann das!
Ich finde deine Idee brilliant, und die Umsetzung ist dir ebenso gut gelungen! Hast du das alles wirklich erst in den letzten Tagen und erst auf die Anregung von mact hin geschrieben?
Dein Beitrag ist auf jeden Fall viel zu schade, um ihn nur hier, in der Mitte eines solchen „Fingerübungen“-Threads zu verstecken!
Auch das Ende, die Überleitung zu Schneewittchen, finde ich echt klasse. Da dürfen wir ja sehr gespannt sein, auch in diesem Fall zu erfahren, „wie es wirklich war“.
Ich freu mich drauf.
Schöne Grüße,
axel

Nachtrag: Habe diese Antwort (wie ich das immer tue) offline geschrieben und gerade erst gemerkt, dass inzwischen weitere Beiträge eingetroffen sind. Die werde ich jetzt noch lesen.
 

axel

Mitglied
Rumpel

„Guten Abend, Stephan Rumpel ist mein Name. Sie hatten angerufen? Sie haben ein Problem?“
„Na endlich! Kommen Sie bloß schnell rein! Ich weiß gar nicht mehr, was ich machen soll! Mein Compi spinnt, oder der Drucker, ich hab’ keine Ahnung, aber morgen früh ist der Abgabetermin.“
„Na, dann will ich mal sehen, was ich machen kann.“
Mittlerweile hasste ich meinen Job: Zu den unmöglichsten Zeiten kommt ein Anruf vom Chef, der sagt einem dann bloß eine Adresse und die Kurzform dessen, was die zumeist recht hysterischen Kunden ihm als Problem geschildert haben.
Dieses Mal war es wenigstens eine Kundin, und noch dazu eine recht ansehnliche. Augenblicklich war sie zwar reichlich zerzaust und aufgebracht, doch auch in diesem Zustand sah sie verdammt gut aus. Bei so einer hätte ich nie eine Chance.
Offiziell hat zwar niemand etwas gegen Kleinwüchsige, aber welche Frau möchte schon einen Freund, den sie auch mit flachen Schuhen noch um einiges überragt?
Wenn ich mein Studium damals abgeschlossen hätte und heute ein erfolgreicher Informatiker wäre, dann sähe die Sache vielleicht ein wenig anders aus, so aber werde ich vielleicht für immer der kleine Laufbursche im Fronteinsatz sein.
Diesmal war die zu lösende Aufgabe kein wirkliches Problem, denn die Programme auf dem PC der hübschen Studentin waren im Prinzip alle in Ordnung. Die Formatierung der Seminararbeit, die sie am nächsten Tag für ihre Zwischenprüfung einreichen wollte, war zwar das reinste Chaos, doch es war natürlich nicht schwierig, dieses zu beheben.
Normalerweise eine Sache von wenigen Minuten, aber wenn ich schon nachts aus dem Bett geklingelt werde, dann soll es sich auch lohnen. Außerdem genoss ich die Nähe dieser schönen Frau immer mehr und wollte diesen seltenen Glücksmoment gerne noch verlängern.
Rechtzeitig zum beginnenden Morgengrauen spuckte ihr Drucker dann die mit höchster Perfektion formatierten Seiten aus, außerdem hatte ich die angeblich „verlorenen“ oder „kaputten“ Menüleisten ihres Word-Programmes wieder so angeordnet, wie sie das für „richtig“ hielt.
Simone hatte mir inzwischen nicht nur ihren Vornamen verraten sondern auch das „du“ angeboten und taute nun, da ich ihre Zwischenprüfung gerettet hatte, immer weiter auf.
„So, dann bekomme ich hier bitte noch eine Unterschrift von Ihnen ..., von dir natürlich, und wenn es das nächste Mal ein Problem gibt, dann kannst du mich auch gleich direkt anrufen, dann kostet es nur die Hälfte.“
An ihrer Wohnungstür legte sie dann auf einmal ihre Arme um meinen Hals und gab mir einen Kuss. Vermutlich auf meine Stirn, denn ich war nun mal um einiges kleiner als sie, dochte ich musste mir große Mühe geben, um nicht ins Taumeln zu geraten.
Wann hatte mich das letzte Mal jemand geküsst oder überhaupt nur liebevoll berührt?
Dieser Kuss hatte nicht viel zu bedeuten, denn Simone war offensichtlich eine sehr spontane Person und außerdem ja voller Dankbarkeit für meine vermeintliche Heldentat.
Trotzdem versetzte dieser kleine Kuss alles in Aufruhr. Einerseits war es ein schönes Gefühl, mal wieder ein klein wenig Lebendigkeit in mir zu verspüren, doch andererseits vermittelte selbst dieses trügerische Glücksgefühl bereits eine Ahnung der schonungslosen Desillusionierung, die unweigerlich kommen würde. Jedes Mal, wenn ich nach so einer kleinen Erhebung meines Gefühlslebens dann wieder sehr unsanft gelandet bin wünsche ich mir beinahe, ich hätte die Nulllinie niemals verlassen.
Bei mir zu Hause angekommen schob ich gleich eine der Disketten in meinen Rechner, auf die ich in einem unbeobachteten Moment sämtliche E-Mails ihres vollkommen ungesicherten Outlook-Programmes kopiert hatte.
Natürlich hatte Simone einen festen Freund, einen gewissen Richard König, und diese Liebschaft schien auch bereits längere Zeit stabil zu sein. Simones Mitteilungen an ihn waren zumeist sehr knapp gehalten und enthielten beinahe ausschließlich Beschwerden darüber, dass sie ihn nie erreichen könne, da sein Anschluss die ganze Zeit besetzt sei. Er dagegen schien viel Zeit im Internet zu verbringen, denn er versorgte sie immer wieder mit gar lustigen Späßen, die er auf irgend welchen Seiten aufgetrieben hatte.
Zu ihren Eltern schien Simone nicht das allerbeste Verhältnis zu haben, denn diese warfen ihr immer wieder vor, dass sie in ihrem Studium nur so langsam voran käme. Mehrmals hatten die Eltern ihrer Tochter angedroht, ihr einen Teil ihres monatlichen Unterhalts zu streichen und diese Drohung dann vor einiger Zeit offensichtlich auch in die Tat umgesetzt, trotz all der flehentlichen Beteuerungen von Simone: „Was ihr da von mir verlangt, ist vollkommen unmöglich!“
Eines war mir nun auf jeden Fall klar: Falls Simone in der nächsten Zeit noch einmal meine Dienste benötigen würde, dann hätte sie wahrscheinlich ziemliche Schwierigkeiten, mich dafür zu bezahlen, denn selbst den reduzierten Betrag, den ich von meinen „Privatkunden“ verlange, würde sie nicht so ohne weiteres auftreiben können.

„Stephan? Hallo, hier ist Simone. Erinnerst du dich? Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe, aber ich habe leider wieder ein Problem. Da ist ein Virus auf meinem Computer, und jetzt funktioniert gar nichts mehr, auf dem Bildschirm verschwimmt alles und ich stehe schon wieder unter großem Zeitdruck. Kannst du bitte kommen?“
Als ich wenig später an ihrem Schreibtisch saß, war sie richtig wütend: „Mein Freund schickt mir dauernd irgend welchen Quatsch, den er im Internet gefunden hat. Er behauptet zwar nach wie vor, dass er mir in letzter Zeit überhaupt nichts geschickt hat, aber ich habe doch die Absenderadresse klar und deutlich gesehen. Ansonsten hätte ich den Anhang doch gar nicht aufgemacht. Außerdem war da derselbe Spruch, den er immer schreibt, wenn er wieder etwas furchtbar Lustiges für mich gefunden hat.“
Der Virus war von eher harmloser Natur, denn er irritiert nur die Grafikkarte, lässt die Programme aber ansonsten unbeschadet. Für den Laien sieht das Ergebnis aber in der Tat so aus, als ob alles zerstört wäre.
Den richtigen Killer hatte ich selbstverständlich dabei, doch genauso selbstverständlich würde ich etliche Stunden mit allen nur erdenklichen Anstrengungen verbringen, ehe ich das Problem endlich gelöst hätte.
Dieses Mal war ich frisch geduscht und rasiert zu ihr gekommen, doch nun raufte ich mir immer wieder die Haare und fing sogar an zu fluchen, wenn wieder einmal einer meiner Versuche nur ins Leere schlug. Simone kochte mir Kaffee und war sehr besorgt um mich, hat es vielleicht gar nicht gemerkt, dass sie sich manchmal von hinten an mich anlehnte, wenn ich wieder einmal „kurz davor“ zu sein glaubte.
„Jetzt habe ich dich. Jetzt mache ich dich platt!“, schrie ich den Bildschirm an und konzentrierte mich auf den sanften Druck ihrer Brüste an meinen Schultern. Dann tippte ich die Enter-Taste und fluchte gleich wieder: „Scheiße, das klappt auch nicht. Nun zeig’ dich doch endlich, du Scheißkerl!“
Kurz darauf brauchte ich dann erst einmal eine kleine Pause. „Darf ich vielleicht doch ausnahmsweise mal eine rauchen? Vielleicht fällt mir danach noch etwas ein?“
Sie wollte sogar selbst eine, wir beiden waren ja nun eine echte Leidensgemeinschaft, und so was schweißt doch sehr zusammen ... Voller Verzweiflung ließ ich zwischen zwei Zügen resigniert meinen Kopf nach vorne sinken, in der Hoffnung, dass sie dann vielleicht ...
Stattdessen rückte sie noch ein Stückchen weiter weg und meinte auf einmal: „Stephan, ich muss dir gestehen, dass ich noch gar nicht weiß, wie ich dich überhaupt bezahlen soll. Meine Eltern haben mir das Geld gekürzt und ich habe quasi gar nichts mehr.“
„Das tut mir total leid, und ich würde wirklich gerne auf mein Honorar verzichten, aber das kann ich leider nicht. Wenn ich schon nur die Hälfte des normalen Betrags haben will, dann kannst du dir vielleicht vorstellen, wie viel der Chef mir normalerweise abgibt. Damit komme ich dann auch mal gerade eben so über die Runden.“
Zu gerne hätte ich ihr einen ganz anderen Vorschlag für meine Bezahlung gemacht, doch ich fand keine Worte dafür und war außerdem zu feige.
Sie schlug mir schließlich vor, zunächst eine kleine Anzahlung zu leisten, um sich den Rest des Geldes von ihrem Freund zu besorgen: „Schließlich hat der mir diesen Mist ja überhaupt erst eingebrockt!“
Etwas enttäuscht willigte ich ein und hielt nun den Zeitpunkt für gekommen, den passenden Killer anzuwenden. „Ich werd’ verrückt, es funktioniert! Sieh dir das an, wir haben den Burschen, wir haben es geschafft!“
Nach diesen Worten nahm ich sie dann einfach ganz fest in meine Arme, sie wehrte sich auch nicht dagegen. Ich ermutigte sie, sich zu vergewissern, ob ihre Dateien alle noch vorhanden wären, und tatsächlich: Die beinahe fertig gestellte Hausarbeit hatte die heimtückische Virenattacke ohne erkennbare Schäden überstanden!
Dann öffnete sie outlook und meinte: „Jetzt guck dir das an! Das ist die Adresse von meinem Freund, und der blöde Kerl behauptet immer noch, dass er mir gar nichts geschickt hat!“
Den unscheinbaren kleinen Punkt, der sich zwischen die Buchstaben der ansonsten vertrauten Adresse gemogelt hatte, nahm sie auch jetzt nicht wahr, stattdessen konnte ich sie gerade noch davon abhalten, den Anhang erneut zu öffnen. Anschließend überzeugte ich sie ohne große Mühe, dass sie die Mail sofort löschen und auch den Papierkorb des Programmes leeren müsse, wenn sie in den wenigen noch verbliebenen Stunden ihre Hausarbeit fertig stellen wolle.
Zum Abschied bekam ich sogar einen richtigen Kuss und konnte sie noch einmal ganz feste an mich drücken, ehe sie dann sagte: „Ich rufe dich an, sehr bald schon, das verspreche ich dir!“
Dann war ich wieder allein, doch der Rausch der Illusion hielt diesmal viel viel länger an als nur einen kleinen flüchtigen Moment. Ich spürte ihre Berührungen und diesen Kuss noch total intensiv und brauchte nicht einmal die Augen zu schließen, um ihr Gesicht wieder so dicht an meinem zu sehen und dabei ihre Worte zu hören: „Ich ruf dich an.“
Dass es bei diesem Anruf nur um einen Termin für die Geldübergabe gehen würde, konnte ich ebenfalls ohne Schwierigkeiten verdrängen. Der Anruf kam tatsächlich nur wenige Tage später, ein Café in der Innenstadt sollte der Treffpunkt sein. Ich war noch immer wie berauscht, und dann ihre Stimme so nah an meinem Ohr und schließlich ihr Anblick im Café, wo ich sie ja zum ersten Mal ausgeruht und entspannt sehen durfte und sie natürlich gleich noch viel viel hübscher fand, da konnte ich mich dann einfach nicht mehr beherrschen und sagte ihr, dass ich das Geld doch gar nicht wollte und wie sehr ich sie begehrte und was ihre Berührungen in mir ausgelöst hatten, und wie lange ich schon nicht mehr, und wie schwer es doch war, wenn man nun einmal so klein war, und wie einsam ich mich fühlte, und ob sie denn nicht vielleicht, nur ein einziges Mal vielleicht, und selbstverständlich würde niemand etwas davon erfahren und bei ihrem nächsten Problem würde ich ihr auch ganz umsonst helfen wollen und ...
Ich weiß nicht, ob ich wirklich an die Möglichkeit eines Ja geglaubt hatte, doch natürlich kam dieses nicht. Sie wirkte reichlich verstört, blieb dabei zwar immer noch freundlich und versicherte mir, wie leid ihr meine Einsamkeit täte, doch bevor ich sie erneut anflehen konnte, legte sie das Geld auf den Tisch und verschwand.
Dieser Absturz war der extremste, den ich je erlebt hatte. Beinahe hätte ich sogar das Geld auf dem Tisch vergessen. Der Kellnerin, die mich auf dem Weg nach draußen daran erinnerte, dass unsere Getränke noch nicht bezahlt seien, habe ich sogar zunächst geantwortet: „Da liegt doch genug.“ Wie ich es heile nach Hause geschafft habe, weiß ich wirklich nicht mehr, doch danach dauerte es Ewigkeiten, ehe die Nulllinie auch nur annähernd wieder in meine Reichweite rückte. Ich war nichts anderes als ein mieser kleiner Wurm, ich würde immer nur gemieden werden und vor Allem konnte ich mir sicher sein, dass ich Simone niemals wieder sehen würde.

Monate später grassierte einer jener Furcht einflößenden Viren, die sich selbsttätig verschicken können. Wir hatten viel zu tun in unserer Firma, und ganz so einfach war die Sache diesmal wirklich nicht. Nachdem der Code dann aber einmal geknackt war, wurden die täglichen Aufträge zur Routine, zwar immer noch recht zeitaufwändig, aber eben lösbar. Wirkliches Pech konnte nur derjenige haben, der zuvor schon einige Schläferdateien auf seiner Festplatte hatte.
Ein Kollege erzählte eines Tages von einem solchen Fall bei einer hübschen Studentin, den er absolut nicht lösen konnte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Simone zunächst alles nur erdenkliche versucht hatte, und welche Überwindung es sie gekostet haben mag, es dann doch noch einmal mit unserer Firma zu versuchen. Ob sie darauf bestanden hatte, dass nicht ausgerechnet ich zu ihr geschickt werde? Interessiert hätte mich das schon, aber nachgefragt habe ich natürlich nicht, habe einfach nur noch gewartet.

Als ihr Anruf dann schließlich kam, habe ich mir keine große Mühe mit schauspielerischen Darbietungen mehr gegeben. „Ja, ich habe davon gehört, dass es dich ganz besonders schlimm erwischt hat. Es haben sich ja schon mehrere Kollegen erfolglos an deinem Rechner versucht. Mich wolltest du partout nicht mehr, und jetzt, da es keiner geschafft hat, jetzt soll ich also doch kommen.“
Sie suchte unter ganz vielem Schluchzen nach irgend welchen Entschuldigungen, aber ich machte weiter: „Wenn ich dir noch einmal helfen soll, dann weißt du ja, was ich mir dafür von dir wünsche.“ Jetzt war sie diejenige, die es mit Flehen versuchte, doch sie hatte damit keinen größeren Erfolg als ich damals in diesem Café.
„Na gut, dann komm“, klang es schließlich kaum hörbar aus der Muschel. Ich konnte es zunächst gar nicht glauben: Hatte sie das wirklich gesagt?
Ich fuhr so schnell ich konnte zu ihr hin, bevor sie es sich möglicherweise wieder anders überlegen würde. Ich war misstrauisch: Hielt sich möglicherweise jemand in ihrer Wohnung versteckt? Nein, da war niemand, Simone schien sich tatsächlich an unsere Abmachung halten zu wollen.
Ich verzichtete darauf, sie sofort Besitz ergreifend anzufassen, suchte nach einer Möglichkeit, eine kleine Spur von Freundlichkeit auf ihr Gesicht zu bringen, doch sie wandte ihren Blick immer nur von mir ab.
Ich wusste, dass ich viel Zeit für ihren Rechner brauchen würde, denn der Virus war in ihrem Fall ja viel komplexer als bei all den anderen. Außerdem konnte ich doch nicht gleich zielstrebig jenes winzig kleine Schlupfloch ansteuern, dass mir überhaupt noch einen Zugriff erlaubte.
Ich verlangte, dass sie sich immer in meiner Nähe aufhalten sollte und nahm nach jedem meiner demonstrativen Fehlversuche ihre Hand: „Du wirst sehen, ich schaffe es auch dieses Mal. Noch habe ich die Lösung zwar nicht gefunden, aber ich verspreche dir, dass dein Rechner morgen wieder einwandfrei funktioniert. Glaubst du mir das?“
Sie nickte zwar stumm, aber ihre Hand lag schlaff in meiner, zwar wehr-, aber beinahe auch leblos. Da wusste ich, dass ich keine Chance mehr haben würde, jeder weitere Versuch wäre zwecklos gewesen. Ich machte mich nun ohne weitere Umschweife an die Beseitigung der Schäden auf dem Rechner, versuchte auch gar nicht mehr vorzutäuschen, dass ich an irgend einer Stelle nach der Lösung suchen müsste.
Nachdem ich meine Arbeit beendet hatte, wandte ich mich Simone zu. Ich hatte jetzt das Recht auf meine versprochene Gegenleistung, doch noch immer wäre es mir lieber gewesen, wenn sie zumindest ein kleines bisschen Dankbarkeit gezeigt hätte.
Viel zu spät erst entdeckte ich das Handy, auf dem sie anscheinend die ganze Zeit gesessen hatte. Es ihr jetzt noch aus der Hand zu reißen wäre sinnlos gewesen, denn natürlich war sie vorbereitet und hatte nur noch auf zwei Knöpfe drücken müssen.
Sekunden später wurde die Wohnungstür aufgeschlossen und mein Chef kam in Begleitung von zwei Polizisten herein.
Dass ich derjenige gewesen war, der den Virus erschaffen hatte, habe ich gleich auf der Wache unumwunden zugegeben. Wogegen hätte ich mich jetzt noch auflehnen sollen? Wozu?

Monate nach meiner Entlassung aus dem Knast traf ich in der Stadt zufällig einen meiner ehemaligen Kollegen. Sein hämisches Grinsen war schon von Weitem deutlich zu erkennen, und ich hätte mich besser gleich abwenden sollen.
„Weißt du eigentlich, was der größte Witz an der Geschichte war? Die Kleine hatte deinen Nachnamen vergessen, als sie den Chef angerufen hat. Damals waren wir doch drei Stephans im Betrieb, und als der Chef hörte, welche Gegenleistung du verlangt hättest, da hat er zunächst den Gärtner verdächtigt, und anschließend mich. Auf dich ist er erst zu allerletzt gekommen.“
 

axel

Mitglied
Hallo Marc.
Hier noch einige Anmerkungen zu deiner Geschichte:
Gestört hat mich eigentlich nur eine einzige Sache:
Warum äußert Pedrel nicht schon gegenüber dem Seeungeheuer seinen „eigentlichen“ Wunsch? Die Begegnug mit diesem Ungeheuer leitest du mit den Worten ein:
„Ganz in Gedanken daran, wie er seinen Wunsch nach Befreiung von seiner furchtbaren Ehefrau formulieren sollte,“
da schien es mir dann ziemlich merkwürdig, dass materielle Dinge auf einmal für ihn im Vordergrund stehen sollten. Ganz abgesehen davon: bräuchte er diese Schätze denn überhaupt, angesichts seiner Fähigkeiten?
Wenn das Ungeheuer ihm seinen Wunsch erfüllte, wäre die Geschichte natürlich bereits zuende, aber es wäre doch denkbar, dass sich nach der Verwandlung heraus stellt, dass das Ungeheuer zur Erfüllung des Wunsches gar nicht in der Lage ist (vielleicht: dass ein verwandeltes Ungeheuer gar keine Wünsche mehr erfüllen kann [steht in seinem Buch auf Seite 3415]), oder aber es verschwindet einfach so, ohne sich an seinen Teil der Abmachung zu halten.
Pedrel könnte dann die Schätze stehlen, um sich zu rächen. Dass er um Erlaubnis bittet, das passt irgendwie auch nicht zu ihm.
Davon abgesehen finde ich deine Version witzig und gelungen, sehr schön geschrieben und voller amüsanter Dialoge. Gut finde ich auch, dass Pedrel der Frau nicht deswegen die Chance gewährt, weil plötzlich doch das Gute in ihm gesiegt hätte. So bleibt er bis zum Schluss boshaft, allerdings auf eine amüsante Art.
Und dann auch noch ein happy-end? Nicht schlecht.

Ralphs Geschichte finde ich immer noch total klasse, ohne jede Einschränkung. Die Einleitung könnte man sicherlich ein bisschen straffen, notwendig finde ich das aber nicht, und überflüssig ist die Rahmenhandlung auf gar keinen Fall.
Und deine Bemerkung über die Herkunft des Goldes: Bist du da nicht ein bisschen spitzfindig? Wenn einfach nur von einem Haufen Gold die Rede wäre, ohne dass dessen Herkunft auch nur irgendwie erklärt würde, das wäre doch schon voll und ganz ausreichend, oder?
Schöne Grüße,
axel
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Volkmar,

bei dem letzten Treffen der Berliner Lupianer meinte mact, der zufällig auch anwesend sein konnte, daß die "Rote Socke" in der Zeit ihres Leselupendaseins mächtige Fortschritte gemacht habe. Nachdem ich dein Rumpelstilzchen gelesen habe, vermochte ich erneut im Geiste zustimmend zu nicken.
Du hast dich sehr eng an das Original gehalten, aber den "nur bösen" Charakter des Zwerges so entschärft, daß man sowohl mit der Müller-Königin als auch mit dem Wichtel gleichzeitig Mitleid haben muß. Sein Herzinfarkt am Ende stellt einen versöhnliches Kompromiß dar. Das hat mir besonders gefallen. So, und nun kommen die paar Anmerkungen, die ich Krümelkacker zu machen habe.

"dass seine Zeit auf Erden dem Ende nahte"
klingt in meinen Augen ein wenig umständlich, vielleicht auch zu abgehoben

Wer würde (wird) nach mir in meinem Häuslein wohnen?' - siehe mact

"...um einige Handwerkzeuge zu stehlen, die er daheim gut gebrauchen konnte."
Wenn er dringend Werkzeug braucht, hat er auch viel zu tun und es kann mit der weiter oben genannten Langeweile nicht sehr weit her sein.

"und öffnete die Tür, von wo die klagende Stimme kam."
Das klingt nicht ganz glücklich. Ich hätte vielleicht geschrieben: Hinter einer der Türen hörte er eine klagende Stimme. Leise schlich er hin und drückte vorsichtig die Klinke nieder...

"...Jungfer ..." woher hat der Zwerg das Insider-Wissen? :)) Nee, iss schon in Ordnung, mußte nur schmunzeln.

"...will mich der König töten."
( lassen) Könige tun so etwas relativ selten eigenhändig.

"Sommer, Winter und Herbst ..."
hier stimmt die Reihenfolge nicht ganz (Ich weiß, daß ist fast schon Haarspalterei)

"Oh mein lieber Zwerg. Ich weiß um mein Versprechen, doch es wird mein Herz zerreißen, wenn ich dir nun mein Kind geben soll".
Der Satz läßt erkennen, daß es sich um ein recht nettes Mädchen handelt. Mact läßt in seiner Geschichte dagegen eine sehr undankbare und gewissenlose Furie auftreten. Deine ist mir sympathischer und glaubhafter?

"Du weißt, ein Versprechen darf niemand brechen.
Statt "niemand" wäre mir "man nicht" lieber gewesen.

Wie sollte die Königin seinen Namen erfahren und so würde er mit gutem Gewissen das Kind an sich nehmen können."
Hier würde ich zwei Sätze daraus machen, denn der erste Teil ist ein Fragesatz, den man auch mit einem Fragezeichen abschließen sollte.

Den Schluß hätte ich mir (mit zwei drei Sätzen mehr) ein klein wenig dramatischer gewünscht.

So, das wär's. Nur eines noch: Kann es sein, daß Du hin und wieder mit den Kommas auf Kriegsfuß stehst? Oder hast Du die fehlenden einfach nur vergessen?

Gruß Ralph
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Reneè,

zur Zeit liegen hier von fünf Autoren fünf grundverschiedene Geschichten vor. Während sich Rote Socke sehr eng an das Original hält, haben die anderen versucht, mehr oder weniger davon abzuweichen. Deine Geschichte hält sich zwar auch weitgehend ans Original, aber das Ganze spielt in unserer in unserer Zeit. Leider verweisen nur wenige Anspielungen eindeutig (Jeans, Steuerhinterziehung, "wir haben ein Geschäft laufen" - oh - ich glaub, das war es auch schon) darauf hin. Mit mehr Zeitbezug und einem Schuß Ironie hättest Du meines Erachtens eine wesentlich spritzigere Geschichte daraus machen können. Bei den dramatischsten Punkten (Rumpel erscheint auf der Bildfläche, Rumpel verlangt als Preis das Kind der "Maid", Rumpel will Kind holen, Rumpel erfährt seinen Namen) gehst Du ziemlich undramatisch zur Sache.
Dagegen widmest Du dich der beeindruckenden Schönheit des Mädchens (was bleibt eigentlich von "wunderschönen blauen Augen", wenn sie rotgeheult sind?) und ihren Gefühlen, die sie dem Bürgermeistersöhnchen ausgerechnet in der Phase ihrer tiefsten Bedrängnis entgegenzubringen bereit ist. Den Arsch voller Sorgen, hat sie nüscht weiter in der Birne, als den Sohn des Mannes anzuhimmeln, dem sie ihr Problem in erster Linie mit verdankt? Auch Rumpel scheint sich passagenweise mehr dafür, als für sein eigentliches Ziel zu interessieren. Da kam ich denn doch ein wenig ins Grübeln. Wenn da noch ein deutlicheres Augenzwinkern gewesen wäre, hätte es mir besser gefallen.
Insgesamt erscheint mir die Geschichte ein wenig übereilt geschrieben. Sie ist auch hin und wieder nicht ganz schlüssig. Da sind wir übrigens beide auf's gleiche Glatteis geraten, denn dies muß ich für meine Geschichte im Nachhinein auch( nicht zuletzt, weil mich mact mit der Nase drauf gestoßen hat) feststellen.
Der Anfang deiner Version verrät Schwung und Ideen. Der Mittelteil quält sich etwas, weil (wie schon gesagt) Wichtiges ein wenig stievmütterlich behandelt wird, während Du dir für weniger zur Handlung gehörende Dinge sehr viel Zeit läßt. Den Schluß fand ich dann wieder gut.
Na denn, auf ein Neues.

Liebe Grüße
Ralph
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ja, ja - ich weiß, da fehlen noch zwei Kommentare. Aber ich bin halt ein wenig langsam. Nur soviel vorab: Es fällt mir schwer, aus den Suppen von mact und axel irgendwelche sichtbaren Haare zu fischen. Aber auch Lob sollte begründet sein. Na denn, bis bald.
Gruß Ralph
 



 
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