Valy

Baxi

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Es war einer dieser wundervollen Sommertage Anfang Juni. Die Sonne strahlte von einem makellos blauen Himmel. Zufrieden betrachtete Valy ihre Hortensien, deren Knospen sich prächtig entwickelten. Nicht mehr lange und sie würden ihre vollen, pinken Blüten nach allen Seiten ausstrecken. Ein schöner Kontrast zu den gelben Husarenknöpfchen daneben. Zwischen den Pfingstrosen zu ihrer Rechten tummelte sich eine Amsel und Bienen summten durch die Luft. Valy liebte ihren Garten, in dem sie nach Möglichkeit jeden Tag mehrere Stunden verbrachte. Der Rasen war frisch gemäht und das Unkraut in den Beeten hatte sie auch zum größten Teil heraus gezupft. Sie ließ sich auf der Teakholzbank nieder, die eingerahmt von Kübeln mit Margeriten unweit der Terrasse stand. Von hieraus hatte sie die beste Aussicht über ihre Pflanzen und Blumen, konnte die Farbvielfalt der Petunien, den Weihrauch und das Männertreu genießen, die sie zum großen Kellerfenster in die Ausbuchtung des Lichtschachts gepflanzt hatte. Dann überfiel sie plötzlich wieder dieses eigenartige Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Den ganzen Tag bereitete es ihr schon Kopfzerbrechen, ohne dass sie genau sagen konnte, was es war. Nur dieser unbestimmte Argwohn ließ sie einfach nicht los. Hatte der besorgte Blick ihrer Kollegin heute Morgen wirklich ihr gegolten, als sie ihr von ihren Hortensien erzählte? Valy musterte ihren Garten genauer. Aber alles war wie immer. Keine Auffälligkeiten. Beherzt schob sie sich mit einer Handbewegung eine Strähne ihrer blonden, langen Haare aus dem Gesicht. „Du bildest dir was ein.“, ermahnte sie sich selbst. Energisch erhob sie sich und marschierte in die Küche, um sich einen Tee aufzubrühen. Das beruhigte immer. Während der Wasserkocher langsam heißer wurde, dachte sie schon wieder an ihren Garten. Sie hätte gerne einen Pavillon hinten in der Ecke zum Zaun. Schön mit Rosen und Clematis berankt, so dass man darunter im Schatten sitzen konnte, um gemütlich einen Kaffee oder Tee zu genießen. Sie langte nach ihrem Handy und suchte im Internet nach Anbietern. Auswahl gab es genug. Wenn sie den Pavillon bezahlen würde, würde sich ihr Mann Thomas bestimmt bereit erklären, das Ding für sie aufzubauen. Eigentlich machte er sich nicht viel aus dem Garten, das wusste Valy. Vielleicht lag es auch daran, dass es ihr Haus und ihr Garten war. Sie hatte alles von ihrem ersten Ehemann geerbt. Nach dessen Unfall. Thomas war dann vor drei Jahren bei ihr eingezogen.
Das Wasser kochte und mit einem lauten Klick stellte sich das Gerät ab. Sorgfältig übergoss Valy das Teeei mit den teuren Blättern aus dem Bioladen in der Stadt. Sie stellte die Eieruhr auf vier Minuten, für den perfekten Genuss. Dann zappte sie wieder durch die Internetseite auf ihrem Handy und bestellte einen bildschönen Pavillon aus Teakholz. Sie konnte sich jetzt schon vorstellen, wie Thomas mit den Augen rollte, wenn die Lieferung eintraf. Und sich dann doch für sie freute. Dabei huschte ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht. Ihr Mann war vor zwei Tagen auf eine viertägige Fortbildung gefahren. Er arbeitete in einem Versicherungsunternehmen und regelmäßige Fortbildungen gehörten einfach dazu. Jeden Abend rief er sie dann an, nach der Schulung, zwischen Essen und gemütlichen Abendrunde an der Bar. Valy blickte kurz auf ihre Armbanduhr. Erst 17 Uhr, noch zu früh für den Anruf. Letzte Woche erst hatten sie und Thomas ihren zweiten Hochzeitstag gefeiert. Nicht so groß, wie sie es sich gewünscht hatte, aber dafür sehr romantisch. Er hatte Essen nach Hause bestellt und den Tisch mit Kerzen und Blumen für sie geschmückt. Rote Rosen waren es gewesen, dreißig Stück. Und sie überraschte ihn mit einer neuen Rolex für seine Sammlung. Trotz kleiner Differenzen waren sie ein tolles Paar. Thomas schaffte es immer wieder, sie glücklich zu machen. Er war aufmerksam und zuvorkommend. Er half ihr in den Mantel oder hielt ihr die Türen auf. Er vergaß nie ihren Geburtstag und brachte auch zwischendurch einfach so Blumen für sie mit. Bei ihrem ersten Mann Dietrich war das alles anders gewesen. Da musste sie ständig darauf achten, dass ihr Gatte zufrieden war. Sie hatte dafür zu sorgen, dass sein Lieblingswhisky im Haus war, dass sein Wagen zur Inspektion kam und sie heraus geputzt an der Tür erschien, wenn sich Besuch ankündigte. Dabei hatte sie damals noch ganztags als Steuerfachangestellte gearbeitet. Obwohl er mit seiner Firma genug verdiente, dass sie auch hätte aufhören können. Selbst ihr Wunsch, sich mit ein paar Stunden die Woche ausschließlich um seine Lohnbuchhaltung zu kümmern, war ihm nicht gut genug gewesen. Dietrich, oder wie sie ihn immer nannte, Didi war ein echter Knauser gewesen. Na ja, dafür hatte er bezahlt. Sie besaß jetzt seinen Grund und Boden am Stadtrand samt Haus mit der gehobenen Ausstattung, dazu noch ein ansehnliches Bankguthaben. Sein Sparen hatte sich durchaus gelohnt – für sie.
Die Eieruhr bimmelte. Valy hob das Teeei heraus und verschwand mit ihrer Tasse wieder in ihrem geliebten Garten. Ihren Job beim Steuerberater hatte sie nach Didis Tod auf dreißig Wochenstunden gekürzt. Das reichte allemal für ihr Auskommen. Sie wollte einfach mehr Zeit für ihren Garten haben, besonders im Frühling und Sommer. Und dann hatte sie sich ein Auto gekauft. Einen Audi A3 Cabrio, mit dem sie schon lange geliebäugelt hatte. Das Leben konnte so herrlich sein. Das Einzige, was ihr jetzt noch fehlte, waren Kinder. Mit Ende Dreißig blieb ihr dafür nicht mehr viel Zeit. Didi hatte keine Kinder gewollt und sie mit ihm auch nicht. Aber mit Thomas sah das ganz anders aus. Er wäre sicher ein toller Vater, so fürsorglich wie er war. Und dann noch seine tolle Ausstrahlung mit seinen dunklen Augen. Dieses Erbgut musste weiter gegeben werden, unbedingt.
Grübelnd nippte Valy an ihrem heißen Tee. Ihre Gedanken gingen unwillkürlich zurück zu ihrer eigenen Kindheit. Sie war nicht besonders glücklich gewesen. Ihre Mutter hatte sie kaum richtig gekannt. Und als ihr Vater seine zweite Frau Silvi heiratete, war sie nicht außerordentlich begeistert gewesen. Sie waren doch die ganzen Jahre auch so gut zurecht gekommen, zu zweit. Dann brachte Silvi auch noch Marie mit in die Ehe, eine kleine, dumme Gans, die ihr ständig nach rannte und unbedingt mit ihr spielen wollte. Zwei Jahre später, als Valy Dreizehn war, lief ihr Marie wieder hinterher, bis auf die Straße. Aber Valy wollte nur in Ruhe mit ihren Freundinnen abhängen. So eine Achtjährige störte dabei einfach. Doch bevor sie sie zurück schicken konnte, wurde das Mädchen von einem Auto erfasst. Ihre Stiefmutter machte ihr danach jeden Tag Vorwürfe, wochenlang. Sie hätte besser aufpassen müssen, jammerte Silvi immer wieder. Dabei hatte sie doch aufgepasst, hatte Marie laut und deutlich gesagt, sie solle bleiben, wo sie war, nämlich zu Hause. Aber diese Göre hörte wieder mal nicht auf sie, was sie mit ihrem Leben bezahlte. Valys Mitleid hielt sich in Grenzen. Doch dieser Unfall machte das Zusammenleben noch schwieriger. Jeden Tag kamen neue Schuldzuweisungen von ihrer Steifmutter. Sie ließ sie einfach nicht in Ruhe. Und ihr Vater schwieg dazu. In ihrem Frust hatte sie dann an Silvis Fahrrad rumgespielt, ein paar Schrauben nur etwas gelöst, an Bremsen und Vorderrad. Sie hatte schon nicht mehr daran gedacht, bis ihre Stiefmutter ungebremst unter einen Laster fuhr. Der alberne Helm, den Silvi immer trug, wenn sie auf dem Rad unterwegs war, konnte sie auch nicht mehr retten. Diesmal machte ihr keiner Vorwürfe. Es gab kein Gejammer, keine Schuldzuweisungen mehr. Valy hatte sich regelrecht befreit gefühlt. Und ihr wurde klar, wie einfach es war.
Doch dieses Gefühl hielt nicht lange an. Zu Hause war es zwar geruhsamer geworden, aber in der Schule nervten jetzt die Lehrer und meinten, sie müsse ihre Hausaufgaben regelmäßiger machen und auch mehr lernen, wenn sie das Schuljahr schaffen wollte. Besonders ihr Mathe- und Physiklehrer Herr Orlowski war hartnäckig. Er war ein fieser, griesgrämiger Zeitgenosse, dem die meisten Schüler lieber aus dem Weg gingen. Aber wofür brauchte sie Physik? Ihre Interessen lagen immer schon bei den Sprachen Englisch und Spanisch. Ihr Vater vereinbarte schließlich Nachhilfeunterricht mit dem Mann, ohne sie zu fragen. Im Gegenzug durfte sie seinen Rasen mähen. Sie ging nur widerwillig hin. Herr Orlowski erlitt zwei Wochen später einen tragischen Stromschlag in seiner Garage, als er den Rasenmäher in Betrieb nehmen wollte. Er hatte die fehlende Isolierung am Kabel nicht bemerkt. Das war jetzt über zwanzig Jahre her. Aber Valy erinnerte sich noch gut, dass sie danach besser aufpasste in Physik, und auch in Chemie. Sie schaffte schließlich die mittlere Reife mit Bravur und begann die Ausbildung zur Steuerfachangestellten. Der Verdienst war nicht sonderlich gut, aber man bekam Einblick in die Geschäftsunterlagen von dem einen oder anderen Unternehmen. Bis Valy allerdings den richtigen Unternehmer für sich gefunden hatte, musste sie sich mit einem aufdringlichen, jungen Kollegen herumschlagen. Dieser Timo machte ständig anzügliche Bemerkungen, auch gegenüber den anderen Mitarbeiterinnen. Er beleidigte Valy wegen ihrer blonden Haare, erklärte sie für dumm und erzählte Blondinenwitze in ihre Gegenwart. Und meinte dann auch noch, sie hätte Lust, mit ihm auszugehen. Dabei fand er sich so cool. Unglaublich. Nachdem er sie im Kopierraum grob betatschte und bedrängte, konnte Valy nicht anders, als ihm eine Lektion zu erteilen. In einem unbemerkten Moment mischte sie ihm Quecksilberpulver in sein mitgebrachtes Mittagessen. Die Wirkung war zwar nicht tödlich, aber der Mann fiel länger aus und kündigte schließlich. Unter den weiblichen Kollegen wurde das mit allgemeiner Erleichterung quittiert.
Valy ließ ihren Blick seelenruhig über ihre Blumenpracht schweifen. Es gab für sie kaum etwas Schöneres, als hier auf ihre Holzbank in ihrem Garten zu sitzen. Eine Amsel hatte jetzt im Futterhaus die Haferflocken entdeckt, die sie heute Morgen dort deponiert hatte. Wie putzig sie die Flocken gegen einen Buchfink verteidigte, einfach zu niedlich. Nach diesem Timo hatte es noch mehrere in ihrer Umgebung gegeben, die von bedeutenden Unfällen heimgesucht wurden. Doch immer ereigneten sie sich in einem persönlichen Bereich, der sie leichtsinnig und unachtsam werden ließ. Darauf achtete Valy sehr sorgsam. Sie wurde auch geschickter mit der Zeit. Ihr Meisterstück war schließlich der Unfall ihres Ehemannes Didi. Er liebte Extremsportarten wie Paragleiten und Klettern. Was für eine tolle Gelegenheit für sie. Dabei hatte ihre Ehe zunächst ganz vielversprechend begonnen. Sie zogen in dieses schöne Haus mit dem prächtigen Garten, den sie ganz nach ihren Vorstellungen gestalten konnte. Doch dann musste sie feststellen, wie geizig ihr Didi sein konnte, besonders bei ihren Wünschen. Einen Paragleitkurs gönnte er sich. Aber bei der Beleuchtung des Gartens entschied er sich für das Billigste, genau wie bei den Terrassenfliesen, die er im Baumarkt als Angeboten ausguckte, anstatt auf ihren Wunsch zum Fachhändler zu rennen. Immer öfter erklärte er ihr, sie solle ihre Rechnungen gefälligst selbst bezahlen. Und das, obwohl er locker das Doppelte verdiente und sie den ganzen Haushalt schmiss. Damit platzte ihr Traum von der wohlhabenden Gattin. Leider hatte Didi auf einen Ehevertrag bestanden. Das hieß, dass sie bei einer Scheidung leer ausgehen würde. Doch Valy wollte nicht mehr auf ihren schönen Garten verzichten, in den sie so viel Arbeit und Zeit investiert hatte. Da gab es nur eine Lösung für sie: Didi musste weg. Zunächst bearbeitete sie sein Kletterseil mit einer Feile. Doch er bemerkte den Schaden und kaufte sich ein Neues. Beim zweiten Versuch war sie schlauer und behandelte das Seil mit Chlorreiniger, der es spröde machte. Von außen sah man ihm das nicht an. Aber im Fall, dass es Didi mit seinen durchtrainierten 90 kg auffangen musste, riss es garantiert. Valy hatte dann ganze drei Wochen warten müssen, bis ihr Mann mit seinen Freunden wieder zum Klettern fuhr. Von diesem Ausflug kehrte er nicht lebend zurück. Die Polizei untersuchte den Unfall ausgiebig. Allerdings waren die Beamten ihr gegenüber sehr zu vorkommend gewesen, hatten nur nachgefragt, ob Didi eventuell an Depressionen litt. Doch das konnte sie ausschließen. Manchmal war dieses Vorurteil von Blond und Blöd einfach praktisch. Aber vielleicht lag es auch daran, dass die Kletterkollegen bezeugen konnten, dass sie Didi noch von dem Ausflug abhalten wollte. Was natürlich völlig zwecklos gewesen war. Wenn sich ihr Mann etwas vorgenommen hatte, dann zog er das auch durch. Gnadenlos. Valy erbte nur ein recht kleines Vermögen, da seine Firma leider zum größten Teil an seinen Bruder fiel. Was zur Folge hatte, dass die Polizei ihn stärker unter die Lupe nahm, jedoch auch ohne Resultate. Man stellte dann Materialfehler als Unfallursache fest. Valy nahm sich danach vor, nie wieder einen Unfall heraufzubeschwören. Damit musste Schluss sein, ein für alle Mal. Sie wollte nicht, dass jemand anderer unter falschen Verdacht geriet oder schlimmer noch, für Schuldig gehalten würde. Außerdem hatte sie nun alles, was sie wollte: einen Garten, in dem sie nach Herzenslust wühlen und gestalten konnte, wie sie wollte. Und ein Bankkonto, das ihre Möglichkeiten unglaublich erweiterte.
Im Garten nebenan erschien die Nachbarin Frau Schlotmann mit einer Gießkanne in der Hand. Valy grüßte sie über die Hecke mit einem kurzen Winken. Dann stellte sie ihre Teetasse zur Seite. Auch für sie wurde es Zeit, jetzt, wo die Sonne schon tiefer stand, ihre Blumen zu wässern. Sie ging zur Terrasse, rollte den Gartenschlauch ein gutes Stück von der Halterung und stellte das Wasser an. Ein feiner Strahl rieselte auf die Kübel mit ihren weißen Mageriten nieder. Während sie lässig zu den zartrosa Pfingstrosen wechselte, schleppte sich Frau Schlotmann mit der zweiten Gießkanne ab. Dann erhaschte Valy einen Blick auf den mitleidigen Gesichtsausdruck der Frau, der eindeutig ihr galt. Das konnte keine Einbildung sein. Irritiert goss sie ihre Hortensien und Husarenknöpfchen. Als sie wieder aufschaute, war die Nachbarin schon verschwunden. Was war hier los? Ihr Garten war völlig in Ordnung. Das hatte sie heute doch schon mehrmals gründlich geprüft. Es war wie mit der Arbeitskollegin am Morgen. Diese plötzliche innere Unruhe war wieder da. Wussten sie etwas, von dem sie keine Ahnung hatte? Dann kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Hatte es vielleicht mit Thomas zu tun? Kam es nicht sogar oft vor, dass alle im Umfeld über die Verfehlungen eines Partners Bescheid wussten? Alle, außer dem Menschen, den es am meisten anging, dem Partner? Angestrengt überlegte Valy, ob es irgendwelche Anzeichen dafür gab, dass Thomas sie betrügen würde. Na gut, er war auf Fortbildung in Essen, 100 km entfernt. Und wenn das nur vorgeschoben war? Aber er rief sie doch jeden Abend an. Und er hatte ihr auch eine Notfallnummer vom Hotel gegeben, wenn er während der Schulung nicht erreichbar war. Sie hatte allerdings noch nie dort angerufen. Zweifel überfielen Valy. Das konnte nicht sein. Thomas war nach wie vor sehr aufmerksam ihr gegenüber. Und fremden Lippenstift hatte sie auch nicht an seinem Hemdkragen gefunden. Aber Thomas war nicht dumm. Er war sicher geschickt darin, etwas vor ihr zu verbergen. Der schöne Sonnentag hatte seinen Glanz verloren. Valy hatte keinen Blick mehr für die vielen, prächtigen Blüten, auf denen die Wassertropfen im Licht nun wie Edelsteine funkelten. Thomas war nicht nur nicht dumm, sondern auch ausgesprochen gutaussehend und charmant. Wenn er wollte, könnte er sie problemlos jeder Zeit gegen eine hübschere und jüngere Frau austauschen. Aber sie würde sich nicht zum Gespött der Leute machen lassen. Sie nicht! Sie könnte seinen Kumpel von der Arbeit anrufen. Und ganz unverfänglich nachfragen, um was für eine Fortbildung es sich handeln würde. Aber was, wenn der eingeweiht war? Valy schaute zur Uhr. In circa einer Stunde erwartete sie den Anruf von Thomas. Sollte sie ihn zur Rede stellen? Am Telefon? Ohne Beweise? Ihr Handy hatte sie schon griffbereit. Dann suchte sie kurzentschlossen die Nummer des Hotels raus und drückte auf Wählen. Der nette Angestellte, der sich kurz darauf meldete, versicherte ihr, ein Herr Thomas Medding wäre gerade mit seiner Gruppe zu Tisch. Er würde ihn ausrufen, wenn sie es wünsche. Aber Valy lehnte dankend ab. Diese Aussage reichte ihr schon. Thomas war also in diesem Hotel und auch die Schulung gab es wirklich. Dann wuchs ihr Misstrauen wieder. Was, wenn seine Geliebte Teilnehmerin der gleichen Fortbildung war? Oder einfach zur gleichen Zeit im gleichen Hotel abstieg?
Valy drehte energisch das Wasser ab, ließ den Gartenschlauch auf dem Rasen liegen, wo sie stand und eilte ins Haus. Sie stürmte die Treppe hinauf bis in ihr Schlafzimmer. Zuerst durchwühlte sie seinen Nachttisch. Als sie dort nichts Belastendes finden konnte, machte sie sich über seinen Teil des Kleiderschranks her. Sie kramte in seinen Sakkotaschen und in der Schublade mit den Socken. Alles ohne Erfolg. Sie suchte sogar unter ihrem Bett. Las man nicht immer wieder in Romanen von den verlorenen Ohrringen einer Geliebten? Aber da war wieder nichts. Dann fiel ihr seine Rolex-Sammlung in die Hände, die er in der obersten Schublade der Kommode verstaute. Sorgsam verpackt in einem großen Etui lagen fünf prachtvolle Uhren vor ihr. Die Erste hatte er sich selbst gekauft, das wusste sie. Die Zweite schenkte sie ihm zur Hochzeit, die Dritte und Vierte zu den letzten beiden Hochzeitstagen. Aber wo kam die Fünfte her? Niemand machte so einfach so teure Geschenke. Und wenn er sie selbst gekauft hatte? Dann hätte er ihr doch sicher davon erzählt. Bei ihrem Hochzeitstag vor einer Woche war die Uhr noch nicht dagewesen. In ihren Gedanken ging sie die letzten Tage noch mal durch. Aber sie konnte sich an kein Gespräch erinnern, das sich um eine Rolex gedreht hätte. Mitten in ihren Überlegungen klingelte ihr Handy. ‚Thomas‘ las sie auf ihrem Display.
„Hi, wie geht es dir?“, fragte er nett wie immer, als sie abnahm. „Gut.“ Ob er ihren spitzen Unterton bemerkte? „Gut?“, hakte er sofort nach. „Du hörst dich nicht so an. Hattest du Ärger?“ – „Nein, alles Bestens.“ – „Sicher?“ – „Ja, sicher. Und du? Amüsierst du dich?“, bemühte sie sich um eine lockere Unterhaltung. „Es ist ganz nett hier. Aber anstrengend, Arbeit halt. – Und was hast du heute so gemacht?“ Wollte er von sich ablenken? dachte sie. Dabei brannte ihr ein ganz bestimmte Frage unter den Nägeln. „Sag mal“, versuchte sie es beiläufig klingen zu lassen. „Seit wann hast du eigentlich fünf Rolex?“ Sie spürte ihn durchs Telefon stutzen. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“, fragte er schließlich überrascht, um sofort darauf dann doch ihre Neugier zu befriedigen. „Die habe ich mir von der Erfolgsprämie gekauft, die ich letzte Woche von meinem Chef bekommen habe. Das habe ich dir aber alles schon mal erzählt.“ Verwirrt ließ sich Valy auf ihr großes Bett sinken. Wieso konnte sie sich nicht daran erinnern? Weder an die Prämie, noch an die Uhr? Gut, gelegentlich kam es vor, dass sie mit ihren Gedanken weit weg war, wenn er mit ihr sprach. Aber so etwas hätte sie doch sicher behalten. „Valentina? Bist du noch dran?“, fragte Thomas. Sie hasste es, wenn er sie so nannte. Ihren Namen hatte sie noch nie gemocht. „Valy?“ – „Ich bin noch hier.“ – „Was ist los?“ Er klang besorgt. „Liebst du mich noch?“, fragte sie. „Ja, sicher.“ Dann schien ihm eine Idee zu kommen. „Du hast doch nicht gedacht, ich hätte die Rolex von einer Geliebten bekommen? Oder? – Valy, ich liebe nur dich. Es gibt keine andere Frau für mich.“ Das war Balsam für ihre Seele – wenn es die Wahrheit war. „Ich liebe dich auch.“, versicherte sie ihm. „Morgen Abend bin ich zurück. Dann reden wir, okay? - Ach, und trink nicht so viel. Das tut dir nicht gut.“ – „Ich trinke nicht.“ – „Du trinkst jeden Donnerstag schon aufs Wochenende. Und heute ist Donnerstag.“ So ganz Unrecht hatte er damit nicht. Sie liebte es, das Wochenende mit einem guten Glas Wein einzuläuten, auch schon am Donnerstag. „Also, bis morgen. Ja?“, ergänzte er noch. „Bis morgen“, antwortete sie und hörte noch, wie er einen Kuss ins Telefon hauchte. Dann war sie mit ihren Gedanken wieder alleine.
Die Sonne hing wie ein oranger Feuerball tief am Himmel. Im Garten lagen lange Schatten auf den Blumen und Pflanzen. Valy grübelte. Ihre Arbeitskollegin, die sie besorgt angesehen hatte, ihre Nachbarin mit dem mitleidigen Blick, das waren keine Einbildungen gewesen. Auch das Gespräch über die Rolex hatte es nicht gegeben, dessen war sie sich ziemlich sicher. Und wieso wusste Thomas so genau, was sie vermutete? Tief in Gedanken versunken stieg sie die Treppe hinunter und schlenderte in ihre Küche. Auf dem Tresen stand noch eine angefangene Flasche von diesem leckeren Rotwein. Eigentlich sollte sie erst etwas essen, aber danach war ihr nicht. Sie nahm sich ein Glas aus dem Schrank, die Flasche dazu und verzog sich ins Wohnzimmer auf ihre Couch. Thomas machte sich nicht viel aus dem Wein. Er genoss lieber einen guten Whisky. Aber wie konnte er sich nur darüber beschweren, dass sie zu viel trank? Wo sie sich doch nie mehr, als zwei Gläser gönnte. Egal. Sollte er ruhig meckern. Sie goss sich das Glas bis zum Rand voll und leerte die Hälfte in einem Zug. Vielleicht hätte sie sich besser einen Hund angeschafft, als einen Mann, überlegte sie. Die waren wenigstens treu. Andererseits buddelten die auch im Garten und pinkelten an ihre wertvollen Blumen. Thomas war dieses Jahr schon auf der vierten Fortbildung, die immer über mehrere Tage – und auch Nächte gingen. Und dann die zahlreichen Überstunden, die er so oft machte. Lag es da nicht nahe, dass er etwas mit einer Arbeitskollegin hatte? Warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen? Hatte er jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn er Blumen für sie mitbrachte? Der Alkohol betäubte ihren Unmut nicht. Im Gegenteil, er stachelte sie immer mehr auf. Das Leben war so ungerecht. Sie hatte doch tatsächlich geglaubt, mit Thomas den Mann fürs Leben gefunden zu haben und wollte sogar Kinder mit ihm. Schlecht gelaunt kippte sie den Rest des Weins runter und füllte ihr Glas aufs Neue. Draußen versank die Sonne jetzt ganz hinterm Horizont. Automatisch gingen die niedrigen Gartenleuchten an, die sie so verteilt hatte, dass man ihre Blumenpracht auch am Abend gut sehen konnte. Sie würde nicht still abwarten, bis ihre Ehe den Bach runter ging, nahm sie sich vor. Sie würde Vorkehrungen treffen, ganz sicher. Am besten, sie machte das sofort, solange er noch außer Haus war. Sie hatte da auch schon eine Idee. Schwankend erhob sie sich und stolperte in die Garage.
Eine halbe Stunde später saß Valy wieder auf ihrer Couch, das Weinglas in der Hand. Aber Zufriedenheit wollte sich einfach nicht einstellen. Schwer enttäuscht trank sie aus. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich eine bleierne Müdigkeit über ihre Gedanken legte. Der Alkohol verrichtete endlich seinen Dienst. Und das nach nur drei Gläsern. Sie vertrug heute nicht viel, dachte sie erschöpft. In der Flasche war nur noch ein kleiner Rest. Mit zittriger Hand schenkte sie sich ein letztes Mal ein. Sie lehnte sich benebelt und müde zurück in die großen Kissen. Ganz verschwommen nahm sie durch das große Terrassenfenster ihren Garten war, sah die Lichter zwischen den Pflanzen, wie sie ihre Schatten warfen. Jetzt, im Juni war er am schönsten, leuchtete in allen Farben und in sattem Grün. Sie war schon fast eingeschlafen, als sie vom Klingeln ihres Handys hochschreckte. Thomas rief sie an. Schon wieder? Sie überlegte einen Moment, ob sie ran gehen sollte und entschied sich dann doch dafür. „Hi. Ich bin’s“, sagte er. Müde nuschelte sie ein „Hallo“. – „Hast du schon geschlafen? Oh, das tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken.“ Er wartete eine Sekunde, bevor er weiter sprach: „Du hast dich vorhin so schlecht angehört. Ich wollte nur wissen, ob es dir jetzt besser geht?“ Das war wiedermal so fürsorglich von ihm. In Valy regte sich ein schlechtes Gewissen. Wie konnte sie nur jemals denken, dass er sie betrügen würde? „Alles in Ordnung“, murmelte sie schließlich und ließ sich entspannt zurück in die Kissen sinken. „Ich hatte heute einfach einen fürchterlichen Tag.“ – „Okay. Willst du mir davon erzählen?“ – „Das hat Zeit bis Morgen.“ - „Auch gut. Was macht dein Garten?“ fragte er nach. Thomas war so lieb, dachte sie. Sie wusste, dass sie ihn schon so manches Mal mit ihren begeisterten Berichten über ihren Garten grenzenlos gelangweilt hatte. Trotzdem fragte er jetzt danach, anstatt sie darauf anzusprechen, dass sie zu viel getrunken hatte. Was er ganz gewiss schon herausgehört hatte. Morgen, nahm sie sich vor, morgen musste sie dringend etwas erledigen, bevor er nach Hause kam. „Ich habe heute den Rasen gemäht“, erklärte sie und hatte Mühe, ihre Gedanken zusammenzuhalten. „Und dann habe ich Unkraut gezupft. In den Pflanzsteinen am Lichtschacht. Damit das Männertreu besser wachsen kann.“ Sie rieb sich mit der freien Hand ihre Augen. Aber ihr Blick wollte einfach nicht klarer werden. Sie hätte doch vor dem Wein etwas essen sollen, ärgerte sie sich. „Und die Hortensie hat ganz viel Blüten“, nuschelte sie, das Handy dicht ans Ohr gepresst. Wenn sie nur nicht so müde wäre. Sie konnte sich kaum konzentrieren. „Und die Pfingstrose…die Pfingstrose ist jetzt auch…auch voll aufgeblüht.“ Thomas verstand sie hoffentlich noch, dachte sie, ehe sie eingeschlafen war.
Eine Hand rüttelte sanft an ihrer Schulter. Langsam kam Valy zu sich. Sie saß halb liegend noch immer auf ihrer Couch in Wohnzimmer. Thomas stand neben ihr und bückte sich zu ihr runter. Sie hatte weder ihn noch sein Auto kommen hören. „Valy“, sagte er. „Du solltest ins Bett gehen.“ Verwirrt blickte sie sich um. Alles war dunkel. Nur aus dem Flur fiel ein wenig Licht ins Zimmer. „Wie spät ist es?“ Sie konnte nicht klar gucken, alles wirkte seltsam verschwommen um sie herum. „Gleich 23 Uhr.“ – „Was machst du hier?“, murmelte sie leicht überrascht. Ihr Mund fühlte sich fürchterlich ausgetrocknet an. „Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Thomas half ihr auf die Beine und führte sie in den Flur zur Treppe. „Aber deine Fortbildung?“ nuschelte sie und suchte im Halbdunkel seinen Blick. Er lächelte sie an: „Ich fahre morgen ganz früh zurück. Kein Problem. Das hier ist wichtiger.“ Schwankend griff Valy nach dem Handlauf, um nicht umzufallen. Was für ein Glück sie doch mit Thomas hatte, dachte sie. „Ich helfe dir“, bot er sich an und fasste stützend unter ihren rechten Arm. Im Schlafzimmer meinte er dann: „Die Luft ist herrlich heute Nacht. Wir sollten bei offenem Fenster schlafen.“ Valy versuchte vergeblich das Fenster zu öffnen. Ihr fehlte einfach die Kraft dazu. Auch hierbei half ihr schließlich Thomas, um ihr dann noch ein Glas Wasser aus dem Bad zu holen. Angenehme Kühle strömte herein. Tief durchatmend blieb Valy am weit geöffneten Fenster stehen. Sie fühlte sich schwindelig und benebelt. Aber vielleicht machte die frische Luft ihren Kopf etwas klarer. Morgens stand sie manchmal länger hier, weil man bei Tag einen wunderschönen Blick über ihren Garten hatte, der jetzt ruhig und dunkel vor ihr lag. Thomas trat hinter sie, legte ihr einen Arm um die Taille. Benommen lehnte sie sich an ihn. Er nahm mit dem anderen Arm ihre Beine und hob sie hoch. Doch er dachte gar nicht daran, sie ins Bett zu tragen. Er hatte ganz andere Pläne. Bevor Valy kapierte, wie ihr geschah, hielt er sie schon aus dem Fenster und ließ sie fallen. Sie stürzte lautlos sechs Meter in die Tiefe. Mit einem dumpfen Aufprall landete sie hart auf den Pflanzsteinen vor dem Kellerfenster. Zwischen Weihrauch und Männertreu blieb sie regungslos liegen.
Auf diesen Moment hatte Thomas lange gewartet. Eigentlich seit drei Jahren schon, als er die Lebendversicherung für Valy abgeschlossen hatte. Bei Selbstmord zahlte die leider nicht früher. Alles verlief genau nach Plan. Als er vor etwa zehn Minuten das Haus betreten hatte, war sein Blick zuerst auf ihr Handy gefallen. Die Verbindung zu seinem, das im 100 km entfernten Essen in seinem Hotelzimmer lag, stand noch. Gut so. Das würde sein Alibi bekräftigen. Er hatte für sie aufgelegt. Dann nahm er die leere Weinflasche vom Couchtisch, um sie durch eine andere aus dem Altglas zu ersetzen. Spuren von dem Beruhigungsmittel befanden sich jetzt nur noch in ihrem Glas. Schließlich legte er die leere Schachtel der Pillen dazu, nachdem er zuerst vorsichtig von der schlafenden Valy Fingerabdrücke darauf platziert hatte. Es würde so aussehen, als wenn sie sie selbst genommen hätte. Auf einen Abschiedsbrief verzichtete er lieber. So etwas zu Fälschen konnte schnell ins Auge gehen. Dafür hatte er bereits vor Tagen in der Nachbarschaft und im Bekanntenkreis das Gerücht gestreut, dass Valy immer depressiver würde. Man musste sich nur ganz beiläufig an die richtige Tratschtante wenden und ruck zuck machte es die Runde. Hinter vorgehaltener Hand hatte er behauptet, Valy leide an Schuldgefühlen, seit ihre kleine Stiefschwester damals bei dem Unfall starb. Der Absturz von ihrem Mann Didi machte es nicht einfacher für sie. Sie sei davon überzeugt, meinte er, eine schlechte Aura zu haben. Es traf sich ganz gut, dass sie sowieso wenige soziale Kontakte hatte, auch keine enge Freundin. Mit der leeren Weinflasche in der Hand zog Thomas leise die Haustür hinter sich ins Schloss, nicht ohne vorher noch ihren Schlüssel von innen einzustecken. Die Flasche würde er im nächsten Altglascontainer versenken. Dann eilte er durch die Gärten abseits der gut beleuchteten Straße zurück in die Nachbarstraße. Er hatte sich den Mercedes eines Kollegen der Fortbildung ausgeliehen, ohne dessen Wissen. Abends traf man sich immer noch an der Bar und genehmigte sich zusammen einen Schlummertrunk. Meistens endete es jedoch im Besäufnis. Das war ihm ganz recht, denn so konnte er sich unbemerkt Autoschlüssel aus einer fremden Jackentasche fischen. Und es fiel nicht auf, wenn er sich für einige Zeit aus dem Staub machte. Sein eigener Audi war erst letzten Freitag zur Inspektion gewesen, wobei man auch den Kilometerstand notiert hatte. Schnell wäre klar gewesen, dass er mehr Strecke zurückgelegt hätte, als nur nach Essen zur Schulung. Wie gut, dass er fast den ganzen Weg über Autobahn fahren konnte. Das sparte eine Menge Zeit. Laut Navi brauchte er gut eine Stunde. Aber er raste am Limit und war nach nur fünfzig Minuten wieder im Hotel. Sorgsam stellte er den geliehenen Wagen zurück auf den Parkplatz, genau so, wie er ihn vorgefunden hatte. Morgen, nahm er sich vor, würde er um eine Probefahrt mit diesem imposanten Mercedes bitten. Das würde dann seine DNA-Spuren erklären, falls es je soweit kommen sollte. Er eilte zurück an die Bar, wo die Kollegen immer noch fleißig becherten. Seine fast zweistündige Abwesenheit schien nicht aufgefallen zu sein.
Damals, vor drei Jahren hatte Thomas nach einer Geldquelle gesucht. Er wollte sich nicht für den Rest seines Lebens in dem Großraumbüro des Versicherungsunternehmens abmühen. Er hatte andere Pläne, wollte lieber Reisen und das Leben in vollen Zügen genießen. Auf Valy wurde er aufmerksam, als sie eine hohe Unfallversicherung bei seiner Gesellschaft abschloss. Sie war genau das, was er suchte: wohlhabend und alleine. Dass sie auch noch jung und hübsch war, machte die Sache für ihn einfacher. Leider stellte sie sich dann doch nicht als allzu reich heraus. Zügig schloss er die Lebensversicherung für sie ab, ohne sie zu informieren. Das würde sein Erbe deutlich erhöhen. Aber Valy schien Angst vor Unfällen zu haben, überprüfte ständig alle elektrischen Geräte auf Sicherheit. Auch ihr Audi A3 wurde regelmäßig von einem Mechatroniker gecheckt. Erst hatte er gedacht, sie hätte einen Verdacht gegen ihn. Doch es stellte sich als echter Spleen heraus. Es war so gut wie unmöglich, sie zu leichtsinnigen Handlungen zubewegen. Alles musste bei ihr immer doppelt und dreifach abgesichert und kontrolliert sein. Das war Pech für Thomas. Ein Unfall wäre ihm sehr gelegen gekommen. Dann hätte er die Summen beider Versicherungen kassiert. So musste er in den sauren Apfel beißen und drei lange Jahre warten. Das Leben mit Valy gestaltete sich schwierig. Die Frau war anspruchsvoll und egoistisch. Als er ihr Geld investieren wollte, weigerte sie sich. Zu blöd. Er hätte echt was draus machen können, mit der richtigen Anlage. Dort auf der Bank, wo sie es hatte, brachte es nur wenig. Und dann quasselte sie ständig von ihrem Garten. Stundenlang konnte sie das, morgens, mittags und abends, zu jeder Jahreszeit. Es gab kaum ein anderes Thema für sie. Er kannte schon alle Blumen und Sträucher, bevor sie gepflanzt waren oder er sie gesehen hatte. Wenn sie ihm nur halb so viel zuhören würde, dachte er manchmal genervt. Sie erinnerte sich kaum an seine Termine, wenn er sie nicht für sie aufschrieb. Nach der Hochzeit flüchtete er sich dann oft in Überstunden oder Fortbildungen, um etwas Ruhe vor ihr zu haben. Was ihm nebenbei gute Aufstiegschancen in seiner Firma bescherte.
Die Ermittlungen der Polizei dauerten drei Wochen. Unzählige Male sprachen sie mit Thomas, überprüften alle seine Angaben genau. Doch damit hatte er gerechnet. Warum seine Frau aus gerade dem Fenster gesprungen sei, wollten sie wissen. Sie hätte bei der geringe Höhe auch schwere, dauerhafte Verletzungen davon tragen können, statt zu sterben. Und warum sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Er blieb gelassen und gab den trauernden Ehemann. Viel mehr beschäftigte ihn dann die Frage der Beamten, warum sie so kurz vor ihrem Freitod noch einen Pavillon für ihren Garten bestellt hatte. Aber er erklärte ihnen, dass Valy sehr sprunghaft gewesen sei. Hätte er beim ihrem letzten Telefonat nur geahnt, was sie vorgehabt hatte, wäre er sofort nach Hause gefahren. Schließlich schlossen die Polizisten die Akte mit dem Ergebnis der Selbsttötung. Die Lebensversicherung musste zahlen. Zufrieden bestellte Thomas einen Makler, um auch das Haus zu verkaufen. Der schöne Garten war schon etwas verwildert. Valys Margeriten hingen trostlos und vertrocknet auf braunen Stengeln. Zwischen den Hortensien und Pfingstrosen wucherte das Unkraut. Thomas hatte kein Händchen dafür und auch keine Lust. Doch dann nahm er sich vor, wenigstens den Rasen zu mähen. Das würde auch auf den Fotos vom Makler besser aussehen. Als er den Stecker des Rasenmähers in der Garage in die Dose steckte, traf ihn ein tödlicher Stromschlag.
 

jon

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Teammitglied
Hallo Baxi, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Und auch gleich noch was zum Text: Füge mal bitte noch etliche Absätze ein, damit das Ganze lesbarer wird!


Viele Grüße von jon

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Baxi

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Es war einer dieser wundervollen Sommertage Anfang Juni. Die Sonne strahlte von einem makellos blauen Himmel. Zufrieden betrachtete Valy ihre Hortensien, deren Knospen sich prächtig entwickelten. Nicht mehr lange und sie würden ihre vollen, pinken Blüten nach allen Seiten ausstrecken. Ein schöner Kontrast zu den gelben Husarenknöpfchen daneben. Zwischen den Pfingstrosen zu ihrer Rechten tummelte sich eine Amsel und Bienen summten durch die Luft. Valy liebte ihren Garten, in dem sie nach Möglichkeit jeden Tag mehrere Stunden verbrachte. Der Rasen war frisch gemäht und das Unkraut in den Beeten hatte sie auch zum größten Teil heraus gezupft. Sie ließ sich auf der Teakholzbank nieder, die eingerahmt von Kübeln mit Margeriten unweit der Terrasse stand. Von hieraus hatte sie die beste Aussicht über ihre Pflanzen und Blumen, konnte die Farbvielfalt der Petunien, den Weihrauch und das Männertreu genießen, die sie zum großen Kellerfenster in die Ausbuchtung des Lichtschachts gepflanzt hatte.
Dann überfiel sie plötzlich wieder dieses eigenartige Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Den ganzen Tag bereitete es ihr schon Kopfzerbrechen, ohne dass sie genau sagen konnte, was es war. Nur dieser unbestimmte Argwohn ließ sie einfach nicht los. Hatte der besorgte Blick ihrer Kollegin heute Morgen wirklich ihr gegolten, als sie ihr von ihren Hortensien erzählte? Valy musterte ihren Garten genauer. Aber alles war wie immer. Keine Auffälligkeiten. Beherzt schob sie sich mit einer Handbewegung eine Strähne ihrer blonden, langen Haare aus dem Gesicht. „Du bildest dir was ein.“, ermahnte sie sich selbst. Energisch erhob sie sich und marschierte in die Küche, um sich einen Tee aufzubrühen. Das beruhigte immer.
Während der Wasserkocher langsam heißer wurde, dachte sie schon wieder an ihren Garten. Sie hätte gerne einen Pavillon hinten in der Ecke zum Zaun. Schön mit Rosen und Clematis berankt, so dass man darunter im Schatten sitzen konnte, um gemütlich einen Kaffee oder Tee zu genießen. Sie langte nach ihrem Handy und suchte im Internet nach Anbietern. Auswahl gab es genug. Wenn sie den Pavillon bezahlen würde, würde sich ihr Mann Thomas bestimmt bereit erklären, das Ding für sie aufzubauen. Eigentlich machte er sich nicht viel aus dem Garten, das wusste Valy. Vielleicht lag es auch daran, dass es ihr Haus und ihr Garten war. Sie hatte alles von ihrem ersten Ehemann geerbt. Nach dessen Unfall. Thomas war dann vor drei Jahren bei ihr eingezogen.

Das Wasser kochte und mit einem lauten Klick stellte sich das Gerät ab. Sorgfältig übergoss Valy das Teeei mit den teuren Blättern aus dem Bioladen in der Stadt. Sie stellte die Eieruhr auf vier Minuten, für den perfekten Genuss. Dann zappte sie wieder durch die Internetseite auf ihrem Handy und bestellte einen bildschönen Pavillon aus Teakholz. Sie konnte sich jetzt schon vorstellen, wie Thomas mit den Augen rollte, wenn die Lieferung eintraf. Und sich dann doch für sie freute. Dabei huschte ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht. Ihr Mann war vor zwei Tagen auf eine viertägige Fortbildung gefahren. Er arbeitete in einem Versicherungsunternehmen und regelmäßige Fortbildungen gehörten einfach dazu. Jeden Abend rief er sie dann an, nach der Schulung, zwischen Essen und gemütlichen Abendrunde an der Bar. Valy blickte kurz auf ihre Armbanduhr. Erst 17 Uhr, noch zu früh für den Anruf. Letzte Woche erst hatten sie und Thomas ihren zweiten Hochzeitstag gefeiert. Nicht so groß, wie sie es sich gewünscht hatte, aber dafür sehr romantisch. Er hatte Essen nach Hause bestellt und den Tisch mit Kerzen und Blumen für sie geschmückt. Rote Rosen waren es gewesen, dreißig Stück. Und sie überraschte ihn mit einer neuen Rolex für seine Sammlung. Trotz kleiner Differenzen waren sie ein tolles Paar. Thomas schaffte es immer wieder, sie glücklich zu machen. Er war aufmerksam und zuvorkommend. Er half ihr in den Mantel oder hielt ihr die Türen auf. Er vergaß nie ihren Geburtstag und brachte auch zwischendurch einfach so Blumen für sie mit.
Bei ihrem ersten Mann Dietrich war das alles anders gewesen. Da musste sie ständig darauf achten, dass ihr Gatte zufrieden war. Sie hatte dafür zu sorgen, dass sein Lieblingswhisky im Haus war, dass sein Wagen zur Inspektion kam und sie heraus geputzt an der Tür erschien, wenn sich Besuch ankündigte. Dabei hatte sie damals noch ganztags als Steuerfachangestellte gearbeitet. Obwohl er mit seiner Firma genug verdiente, dass sie auch hätte aufhören können. Selbst ihr Wunsch, sich mit ein paar Stunden die Woche ausschließlich um seine Lohnbuchhaltung zu kümmern, war ihm nicht gut genug gewesen. Dietrich, oder wie sie ihn immer nannte, Didi war ein echter Knauser gewesen. Na ja, dafür hatte er bezahlt. Sie besaß jetzt seinen Grund und Boden am Stadtrand samt Haus mit der gehobenen Ausstattung, dazu noch ein ansehnliches Bankguthaben. Sein Sparen hatte sich durchaus gelohnt – für sie.

Die Eieruhr bimmelte. Valy hob das Teeei heraus und verschwand mit ihrer Tasse wieder in ihrem geliebten Garten. Ihren Job beim Steuerberater hatte sie nach Didis Tod auf dreißig Wochenstunden gekürzt. Das reichte allemal für ihr Auskommen. Sie wollte einfach mehr Zeit für ihren Garten haben, besonders im Frühling und Sommer. Und dann hatte sie sich ein Auto gekauft. Einen Audi A3 Cabrio, mit dem sie schon lange geliebäugelt hatte. Das Leben konnte so herrlich sein. Das Einzige, was ihr jetzt noch fehlte, waren Kinder. Mit Ende Dreißig blieb ihr dafür nicht mehr viel Zeit. Didi hatte keine Kinder gewollt und sie mit ihm auch nicht. Aber mit Thomas sah das ganz anders aus. Er wäre sicher ein toller Vater, so fürsorglich wie er war. Und dann noch seine tolle Ausstrahlung mit seinen dunklen Augen. Dieses Erbgut musste weiter gegeben werden, unbedingt.

Grübelnd nippte Valy an ihrem heißen Tee. Ihre Gedanken gingen unwillkürlich zurück zu ihrer eigenen Kindheit. Sie war nicht besonders glücklich gewesen. Ihre Mutter hatte sie kaum richtig gekannt. Und als ihr Vater seine zweite Frau Silvi heiratete, war sie nicht außerordentlich begeistert gewesen. Sie waren doch die ganzen Jahre auch so gut zurecht gekommen, zu zweit. Dann brachte Silvi auch noch Marie mit in die Ehe, eine kleine, dumme Gans, die ihr ständig nach rannte und unbedingt mit ihr spielen wollte. Zwei Jahre später, als Valy Dreizehn war, lief ihr Marie wieder hinterher, bis auf die Straße. Aber Valy wollte nur in Ruhe mit ihren Freundinnen abhängen. So eine Achtjährige störte dabei einfach. Doch bevor sie sie zurück schicken konnte, wurde das Mädchen von einem Auto erfasst. Ihre Stiefmutter machte ihr danach jeden Tag Vorwürfe, wochenlang. Sie hätte besser aufpassen müssen, jammerte Silvi immer wieder. Dabei hatte sie doch aufgepasst, hatte Marie laut und deutlich gesagt, sie solle bleiben, wo sie war, nämlich zu Hause. Aber diese Göre hörte wieder mal nicht auf sie, was sie mit ihrem Leben bezahlte.
Valys Mitleid hielt sich in Grenzen. Doch dieser Unfall machte das Zusammenleben noch schwieriger. Jeden Tag kamen neue Schuldzuweisungen von ihrer Steifmutter. Sie ließ sie einfach nicht in Ruhe. Und ihr Vater schwieg dazu. In ihrem Frust hatte sie dann an Silvis Fahrrad rumgespielt, ein paar Schrauben nur etwas gelöst, an Bremsen und Vorderrad. Sie hatte schon nicht mehr daran gedacht, bis ihre Stiefmutter ungebremst unter einen Laster fuhr. Der alberne Helm, den Silvi immer trug, wenn sie auf dem Rad unterwegs war, konnte sie auch nicht mehr retten. Diesmal machte ihr keiner Vorwürfe. Es gab kein Gejammer, keine Schuldzuweisungen mehr. Valy hatte sich regelrecht befreit gefühlt. Und ihr wurde klar, wie einfach es war.

Doch dieses Gefühl hielt nicht lange an. Zu Hause war es zwar geruhsamer geworden, aber in der Schule nervten jetzt die Lehrer und meinten, sie müsse ihre Hausaufgaben regelmäßiger machen und auch mehr lernen, wenn sie das Schuljahr schaffen wollte. Besonders ihr Mathe- und Physiklehrer Herr Orlowski war hartnäckig. Er war ein fieser, griesgrämiger Zeitgenosse, dem die meisten Schüler lieber aus dem Weg gingen. Aber wofür brauchte sie Physik? Ihre Interessen lagen immer schon bei den Sprachen Englisch und Spanisch. Ihr Vater vereinbarte schließlich Nachhilfeunterricht mit dem Mann, ohne sie zu fragen. Im Gegenzug durfte sie seinen Rasen mähen. Sie ging nur widerwillig hin. Herr Orlowski erlitt zwei Wochen später einen tragischen Stromschlag in seiner Garage, als er den Rasenmäher in Betrieb nehmen wollte. Er hatte die fehlende Isolierung am Kabel nicht bemerkt.
Das war jetzt über zwanzig Jahre her. Aber Valy erinnerte sich noch gut, dass sie danach besser aufpasste in Physik, und auch in Chemie. Sie schaffte schließlich die mittlere Reife mit Bravur und begann die Ausbildung zur Steuerfachangestellten. Der Verdienst war nicht sonderlich gut, aber man bekam Einblick in die Geschäftsunterlagen von dem einen oder anderen Unternehmen. Bis Valy allerdings den richtigen Unternehmer für sich gefunden hatte, musste sie sich mit einem aufdringlichen, jungen Kollegen herumschlagen. Dieser Timo machte ständig anzügliche Bemerkungen, auch gegenüber den anderen Mitarbeiterinnen. Er beleidigte Valy wegen ihrer blonden Haare, erklärte sie für dumm und erzählte Blondinenwitze in ihre Gegenwart. Und meinte dann auch noch, sie hätte Lust, mit ihm auszugehen. Dabei fand er sich so cool. Unglaublich. Nachdem er sie im Kopierraum grob betatschte und bedrängte, konnte Valy nicht anders, als ihm eine Lektion zu erteilen. In einem unbemerkten Moment mischte sie ihm quecksilberhaltiges Pulver in sein mitgebrachtes Mittagessen. Die Wirkung war zwar nicht tödlich, aber der Mann fiel länger aus und kündigte schließlich. Unter den weiblichen Kollegen wurde das mit allgemeiner Erleichterung quittiert.

Valy ließ ihren Blick seelenruhig über ihre Blumenpracht schweifen. Es gab für sie kaum etwas Schöneres, als hier auf ihre Holzbank in ihrem Garten zu sitzen. Eine Amsel hatte jetzt im Futterhaus die Haferflocken entdeckt, die sie heute Morgen dort deponiert hatte. Wie putzig sie die Flocken gegen einen Buchfink verteidigte, einfach zu niedlich. Nach diesem Timo hatte es noch mehrere in ihrer Umgebung gegeben, die von bedeutenden Unfällen heimgesucht wurden. Doch immer ereigneten sie sich in einem persönlichen Bereich, der sie leichtsinnig und unachtsam werden ließ. Darauf achtete Valy sehr sorgsam. Sie wurde auch geschickter mit der Zeit.
Ihr Meisterstück war schließlich der Unfall ihres Ehemannes Didi. Er liebte Extremsportarten wie Paragleiten und Klettern. Was für eine tolle Gelegenheit für sie. Dabei hatte ihre Ehe zunächst ganz vielversprechend begonnen. Sie zogen in dieses schöne Haus mit dem prächtigen Garten, den sie ganz nach ihren Vorstellungen gestalten konnte. Doch dann musste sie feststellen, wie geizig ihr Didi sein konnte, besonders bei ihren Wünschen. Einen Paragleitkurs gönnte er sich. Aber bei der Beleuchtung des Gartens entschied er sich für das Billigste, genau wie bei den Terrassenfliesen, die er im Baumarkt als Angeboten ausguckte, anstatt auf ihren Wunsch zum Fachhändler zu rennen. Immer öfter erklärte er ihr, sie solle ihre Rechnungen gefälligst selbst bezahlen. Und das, obwohl er locker das Doppelte verdiente und sie den ganzen Haushalt schmiss. Damit platzte ihr Traum von der wohlhabenden Gattin.
Leider hatte Didi auf einen Ehevertrag bestanden. Das hieß, dass sie bei einer Scheidung leer ausgehen würde. Doch Valy wollte nicht mehr auf ihren schönen Garten verzichten, in den sie so viel Arbeit und Zeit investiert hatte. Da gab es nur eine Lösung für sie: Didi musste weg. Zunächst bearbeitete sie sein Kletterseil mit einer Feile. Doch er bemerkte den Schaden und kaufte sich ein Neues. Beim zweiten Versuch war sie schlauer und behandelte das Seil mit Chlorreiniger, der es spröde machte. Von außen sah man ihm das nicht an. Aber im Fall, dass es Didi mit seinen durchtrainierten 90 kg auffangen musste, riss es garantiert. Valy hatte dann ganze drei Wochen warten müssen, bis ihr Mann mit seinen Freunden wieder zum Klettern fuhr. Von diesem Ausflug kehrte er nicht lebend zurück.
Die Polizei untersuchte den Unfall ausgiebig. Allerdings waren die Beamten ihr gegenüber sehr zu vorkommend gewesen, hatten nur nachgefragt, ob Didi eventuell an Depressionen litt. Doch das konnte sie ausschließen. Manchmal war dieses Vorurteil von Blond und Blöd einfach praktisch. Aber vielleicht lag es auch daran, dass die Kletterkollegen bezeugen konnten, dass sie Didi noch von dem Ausflug abhalten wollte. Was natürlich völlig zwecklos gewesen war. Wenn sich ihr Mann etwas vorgenommen hatte, dann zog er das auch durch. Gnadenlos. Valy erbte nur ein recht kleines Vermögen, da seine Firma leider zum größten Teil an seinen Bruder fiel. Was zur Folge hatte, dass die Polizei ihn stärker unter die Lupe nahm, jedoch auch ohne Resultate. Man stellte dann Materialfehler als Unfallursache fest. Valy nahm sich danach vor, nie wieder einen Unfall heraufzubeschwören. Damit musste Schluss sein, ein für alle Mal. Sie wollte nicht, dass jemand anderer unter falschen Verdacht geriet oder schlimmer noch, für Schuldig gehalten würde. Außerdem hatte sie nun alles, was sie wollte: einen Garten, in dem sie nach Herzenslust wühlen und gestalten konnte, wie sie wollte. Und ein Bankkonto, das ihre Möglichkeiten unglaublich erweiterte.

Im Garten nebenan erschien die Nachbarin Frau Schlotmann mit einer Gießkanne in der Hand. Valy grüßte sie über die Hecke mit einem kurzen Winken. Dann stellte sie ihre Teetasse zur Seite. Auch für sie wurde es Zeit, jetzt, wo die Sonne schon tiefer stand, ihre Blumen zu wässern. Sie ging zur Terrasse, rollte den Gartenschlauch ein gutes Stück von der Halterung und stellte das Wasser an. Ein feiner Strahl rieselte auf die Kübel mit ihren weißen Mageriten nieder. Während sie lässig zu den zartrosa Pfingstrosen wechselte, schleppte sich Frau Schlotmann mit der zweiten Gießkanne ab. Dann erhaschte Valy einen Blick auf den mitleidigen Gesichtsausdruck der Frau, der eindeutig ihr galt. Das konnte keine Einbildung sein. Irritiert goss sie ihre Hortensien und Husarenknöpfchen. Als sie wieder aufschaute, war die Nachbarin schon verschwunden. Was war hier los? Ihr Garten war völlig in Ordnung. Das hatte sie heute doch schon mehrmals gründlich geprüft. Es war wie mit der Arbeitskollegin am Morgen. Diese plötzliche innere Unruhe war wieder da. Wussten sie etwas, von dem sie keine Ahnung hatte? Dann kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Hatte es vielleicht mit Thomas zu tun? Kam es nicht sogar oft vor, dass alle im Umfeld über die Verfehlungen eines Partners Bescheid wussten? Alle, außer dem Menschen, den es am meisten anging, dem Partner? Angestrengt überlegte Valy, ob es irgendwelche Anzeichen dafür gab, dass Thomas sie betrügen würde. Na gut, er war auf Fortbildung in Essen, 100 km entfernt. Und wenn das nur vorgeschoben war? Aber er rief sie doch jeden Abend an. Und er hatte ihr auch eine Notfallnummer vom Hotel gegeben, wenn er während der Schulung nicht erreichbar war. Sie hatte allerdings noch nie dort angerufen. Zweifel überfielen Valy. Das konnte nicht sein. Thomas war nach wie vor sehr aufmerksam ihr gegenüber. Und fremden Lippenstift hatte sie auch nicht an seinem Hemdkragen gefunden. Aber Thomas war nicht dumm. Er war sicher geschickt darin, etwas vor ihr zu verbergen.
Der schöne Sonnentag hatte seinen Glanz verloren. Valy hatte keinen Blick mehr für die vielen, prächtigen Blüten, auf denen die Wassertropfen im Licht nun wie Edelsteine funkelten. Thomas war nicht nur nicht dumm, sondern auch ausgesprochen gutaussehend und charmant. Wenn er wollte, könnte er sie problemlos jeder Zeit gegen eine hübschere und jüngere Frau austauschen. Aber sie würde sich nicht zum Gespött der Leute machen lassen. Sie nicht! Sie könnte seinen Kumpel von der Arbeit anrufen. Und ganz unverfänglich nachfragen, um was für eine Fortbildung es sich handeln würde. Aber was, wenn der eingeweiht war? Valy schaute zur Uhr. In circa einer Stunde erwartete sie den Anruf von Thomas. Sollte sie ihn zur Rede stellen? Am Telefon? Ohne Beweise? Ihr Handy hatte sie schon griffbereit. Dann suchte sie kurzentschlossen die Nummer des Hotels raus und drückte auf Wählen. Der nette Angestellte, der sich kurz darauf meldete, versicherte ihr, ein Herr Thomas Medding wäre gerade mit seiner Gruppe zu Tisch. Er würde ihn ausrufen, wenn sie es wünsche. Aber Valy lehnte dankend ab. Diese Aussage reichte ihr schon. Thomas war also in diesem Hotel und auch die Schulung gab es wirklich. Dann wuchs ihr Misstrauen wieder. Was, wenn seine Geliebte Teilnehmerin der gleichen Fortbildung war? Oder einfach zur gleichen Zeit im gleichen Hotel abstieg?

Valy drehte energisch das Wasser ab, ließ den Gartenschlauch auf dem Rasen liegen, wo sie stand und eilte ins Haus. Sie stürmte die Treppe hinauf bis in ihr Schlafzimmer. Zuerst durchwühlte sie seinen Nachttisch. Als sie dort nichts Belastendes finden konnte, machte sie sich über seinen Teil des Kleiderschranks her. Sie kramte in seinen Sakkotaschen und in der Schublade mit den Socken. Alles ohne Erfolg. Sie suchte sogar unter ihrem Bett. Las man nicht immer wieder in Romanen von den verlorenen Ohrringen einer Geliebten? Aber da war wieder nichts. Dann fiel ihr seine Rolex-Sammlung in die Hände, die er in der obersten Schublade der Kommode verstaute. Sorgsam verpackt in einem großen Etui lagen fünf prachtvolle Uhren vor ihr. Die Erste hatte er sich selbst gekauft, das wusste sie. Die Zweite schenkte sie ihm zur Hochzeit, die Dritte und Vierte zu den letzten beiden Hochzeitstagen. Aber wo kam die Fünfte her? Niemand machte so einfach so teure Geschenke. Und wenn er sie selbst gekauft hatte? Dann hätte er ihr doch sicher davon erzählt. Bei ihrem Hochzeitstag vor einer Woche war die Uhr noch nicht dagewesen. In ihren Gedanken ging sie die letzten Tage noch mal durch. Aber sie konnte sich an kein Gespräch erinnern, das sich um eine Rolex gedreht hätte. Mitten in ihren Überlegungen klingelte ihr Handy. ‚Thomas‘ las sie auf ihrem Display.

„Hi, wie geht es dir?“, fragte er nett wie immer, als sie abnahm.
„Gut.“ Ob er ihren spitzen Unterton bemerkte?
„Gut?“, hakte er sofort nach. „Du hörst dich nicht so an. Hattest du Ärger?“
„Nein, alles Bestens.“
„Sicher?“
„Ja, sicher. Und du? Amüsierst du dich?“, bemühte sie sich um eine lockere Unterhaltung.
„Es ist ganz nett hier. Aber anstrengend, Arbeit halt. – Und was hast du heute so gemacht?“
Wollte er von sich ablenken? dachte sie. Dabei brannte ihr ein ganz bestimmte Frage unter den Nägeln.
„Sag mal“, versuchte sie es beiläufig klingen zu lassen. „Seit wann hast du eigentlich fünf Rolex?“ Sie spürte ihn durchs Telefon stutzen.
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“, fragte er schließlich überrascht, um sofort darauf dann doch ihre Neugier zu befriedigen. „Die habe ich mir von der Erfolgsprämie gekauft, die ich letzte Woche von meinem Chef bekommen habe. Das habe ich dir aber alles schon mal erzählt.“
Verwirrt ließ sich Valy auf ihr großes Bett sinken. Wieso konnte sie sich nicht daran erinnern? Weder an die Prämie, noch an die Uhr? Gut, gelegentlich kam es vor, dass sie mit ihren Gedanken weit weg war, wenn er mit ihr sprach. Aber so etwas hätte sie doch sicher behalten.
„Valentina? Bist du noch dran?“, fragte Thomas.
Sie hasste es, wenn er sie so nannte. Ihren Namen hatte sie noch nie gemocht.
„Valy?“
„Ich bin noch hier.“
„Was ist los?“ Er klang besorgt.
„Liebst du mich noch?“, fragte sie.
„Ja, sicher.“ Dann schien ihm eine Idee zu kommen. „Du hast doch nicht gedacht, ich hätte die Rolex von einer Geliebten bekommen? Oder? – Valy, ich liebe nur dich. Es gibt keine andere Frau für mich.“
Das war Balsam für ihre Seele – wenn es die Wahrheit war. „Ich liebe dich auch.“, versicherte sie ihm.
„Morgen Abend bin ich zurück. Dann reden wir, okay? - Ach, und trink nicht so viel. Das tut dir nicht gut.“
„Ich trinke nicht.“
„Du trinkst jeden Donnerstag schon aufs Wochenende. Und heute ist Donnerstag.“
So ganz Unrecht hatte er damit nicht. Sie liebte es, das Wochenende mit einem guten Glas Wein einzuläuten, auch schon am Donnerstag.
„Also, bis morgen. Ja?“, ergänzte er noch.
„Bis morgen“, antwortete sie und hörte noch, wie er einen Kuss ins Telefon hauchte. Dann war sie mit ihren Gedanken wieder alleine.

Die Sonne hing wie ein oranger Feuerball tief am Himmel. Im Garten lagen lange Schatten auf den Blumen und Pflanzen. Valy grübelte. Ihre Arbeitskollegin, die sie besorgt angesehen hatte, ihre Nachbarin mit dem mitleidigen Blick, das waren keine Einbildungen gewesen. Auch das Gespräch über die Rolex hatte es nicht gegeben, dessen war sie sich ziemlich sicher. Und wieso wusste Thomas so genau, was sie vermutete?
Tief in Gedanken versunken stieg sie die Treppe hinunter und schlenderte in ihre Küche. Auf dem Tresen stand noch eine angefangene Flasche von diesem leckeren Rotwein. Eigentlich sollte sie erst etwas essen, aber danach war ihr nicht. Sie nahm sich ein Glas aus dem Schrank, die Flasche dazu und verzog sich ins Wohnzimmer auf ihre Couch. Thomas machte sich nicht viel aus dem Wein. Er genoss lieber einen guten Whisky. Aber wie konnte er sich nur darüber beschweren, dass sie zu viel trank? Wo sie sich doch nie mehr, als zwei Gläser gönnte. Egal. Sollte er ruhig meckern. Sie goss sich das Glas bis zum Rand voll und leerte die Hälfte in einem Zug. Vielleicht hätte sie sich besser einen Hund angeschafft, als einen Mann, überlegte sie. Die waren wenigstens treu. Andererseits buddelten die auch im Garten und pinkelten an ihre wertvollen Blumen. Thomas war dieses Jahr schon auf der vierten Fortbildung, die immer über mehrere Tage – und auch Nächte gingen. Und dann die zahlreichen Überstunden, die er so oft machte. Lag es da nicht nahe, dass er etwas mit einer Arbeitskollegin hatte? Warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen? Hatte er jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn er Blumen für sie mitbrachte? Der Alkohol betäubte ihren Unmut nicht. Im Gegenteil, er stachelte sie immer mehr auf. Das Leben war so ungerecht. Sie hatte doch tatsächlich geglaubt, mit Thomas den Mann fürs Leben gefunden zu haben und wollte sogar Kinder mit ihm. Schlecht gelaunt kippte sie den Rest des Weins runter und füllte ihr Glas aufs Neue.
Draußen versank die Sonne jetzt ganz hinterm Horizont. Automatisch gingen die niedrigen Gartenleuchten an, die sie so verteilt hatte, dass man ihre Blumenpracht auch am Abend gut sehen konnte. Sie würde nicht still abwarten, bis ihre Ehe den Bach runter ging, nahm sie sich vor. Sie würde Vorkehrungen treffen, ganz sicher. Am besten, sie machte das sofort, solange er noch außer Haus war. Sie hatte da auch schon eine Idee. Schwankend erhob sie sich und stolperte in die Garage.

Eine halbe Stunde später saß Valy wieder auf ihrer Couch, das Weinglas in der Hand. Aber Zufriedenheit wollte sich einfach nicht einstellen. Schwer enttäuscht trank sie aus. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich eine bleierne Müdigkeit über ihre Gedanken legte. Der Alkohol verrichtete endlich seinen Dienst. Und das nach nur drei Gläsern. Sie vertrug heute nicht viel, dachte sie erschöpft. In der Flasche war nur noch ein kleiner Rest. Mit zittriger Hand schenkte sie sich ein letztes Mal ein. Sie lehnte sich benebelt und müde zurück in die großen Kissen. Ganz verschwommen nahm sie durch das große Terrassenfenster ihren Garten war, sah die Lichter zwischen den Pflanzen, wie sie ihre Schatten warfen. Jetzt, im Juni war er am schönsten, leuchtete in allen Farben und in sattem Grün. Sie war schon fast eingeschlafen, als sie vom Klingeln ihres Handys hochschreckte. Thomas rief sie an. Schon wieder? Sie überlegte einen Moment, ob sie ran gehen sollte und entschied sich dann doch dafür.
„Hi. Ich bin’s“, sagte er.
Müde nuschelte sie ein „Hallo“.
„Hast du schon geschlafen? Oh, das tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken.“ Er wartete eine Sekunde, bevor er weiter sprach: „Du hast dich vorhin so schlecht angehört. Ich wollte nur wissen, ob es dir jetzt besser geht?“
Das war wiedermal so fürsorglich von ihm. In Valy regte sich ein schlechtes Gewissen. Wie konnte sie nur jemals denken, dass er sie betrügen würde?
„Alles in Ordnung“, murmelte sie schließlich und ließ sich entspannt zurück in die Kissen sinken. „Ich hatte heute einfach einen fürchterlichen Tag.“
„Okay. Willst du mir davon erzählen?“
„Das hat Zeit bis Morgen.“
„Auch gut. Was macht dein Garten?“ fragte er nach.
Thomas war so lieb, dachte sie. Sie wusste, dass sie ihn schon so manches Mal mit ihren begeisterten Berichten über ihren Garten grenzenlos gelangweilt hatte. Trotzdem fragte er jetzt danach, anstatt sie darauf anzusprechen, dass sie zu viel getrunken hatte. Was er ganz gewiss schon herausgehört hatte. Morgen, nahm sie sich vor, morgen musste sie dringend etwas erledigen, bevor er nach Hause kam.
„Ich habe heute den Rasen gemäht“, erklärte sie und hatte Mühe, ihre Gedanken zusammenzuhalten. „Und dann habe ich Unkraut gezupft. In den Pflanzsteinen am Lichtschacht. Damit das Männertreu besser wachsen kann.“
Sie rieb sich mit der freien Hand ihre Augen. Aber ihr Blick wollte einfach nicht klarer werden. Sie hätte doch vor dem Wein etwas essen sollen, ärgerte sie sich.
„Und die Hortensie hat ganz viel Blüten“, nuschelte sie, das Handy dicht ans Ohr gepresst. Wenn sie nur nicht so müde wäre. Sie konnte sich kaum konzentrieren.
„Und die Pfingstrose…die Pfingstrose ist jetzt auch…auch voll aufgeblüht.“ Thomas verstand sie hoffentlich noch, dachte sie, ehe sie eingeschlafen war.

Eine Hand rüttelte sanft an ihrer Schulter. Langsam kam Valy zu sich. Sie saß halb liegend noch immer auf ihrer Couch in Wohnzimmer. Thomas stand neben ihr und bückte sich zu ihr runter. Sie hatte weder ihn noch sein Auto kommen hören.
„Valy“, sagte er. „Du solltest ins Bett gehen.“
Verwirrt blickte sie sich um. Alles war dunkel. Nur aus dem Flur fiel ein wenig Licht ins Zimmer.
„Wie spät ist es?“ Sie konnte nicht klar gucken, alles wirkte seltsam verschwommen um sie herum.
„Gleich 23 Uhr.“
„Was machst du hier?“, murmelte sie leicht überrascht. Ihr Mund fühlte sich fürchterlich ausgetrocknet an.
„Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Thomas half ihr auf die Beine und führte sie in den Flur zur Treppe.
„Aber deine Fortbildung?“ nuschelte sie und suchte im Halbdunkel seinen Blick.
Er lächelte sie an: „Ich fahre morgen ganz früh zurück. Kein Problem. Das hier ist wichtiger.“
Schwankend griff Valy nach dem Handlauf, um nicht umzufallen. Was für ein Glück sie doch mit Thomas hatte, dachte sie.
„Ich helfe dir“, bot er sich an und fasste stützend unter ihren rechten Arm. Im Schlafzimmer meinte er dann: „Die Luft ist herrlich heute Nacht. Wir sollten bei offenem Fenster schlafen.“
Valy versuchte vergeblich das Fenster zu öffnen. Ihr fehlte einfach die Kraft dazu. Auch hierbei half ihr schließlich Thomas, um ihr dann noch ein Glas Wasser aus dem Bad zu holen. Angenehme Kühle strömte herein. Tief durchatmend blieb Valy am weit geöffneten Fenster stehen. Sie fühlte sich schwindelig und benebelt. Aber vielleicht machte die frische Luft ihren Kopf etwas klarer.
Morgens stand sie manchmal länger hier, weil man bei Tag einen wunderschönen Blick über ihren Garten hatte, der jetzt ruhig und dunkel vor ihr lag. Thomas trat hinter sie, legte ihr einen Arm um die Taille. Benommen lehnte sie sich an ihn. Er nahm mit dem anderen Arm ihre Beine und hob sie hoch.
Doch er dachte gar nicht daran, sie ins Bett zu tragen. Er hatte ganz andere Pläne. Bevor Valy kapierte, wie ihr geschah, hielt er sie schon aus dem Fenster und ließ sie fallen. Sie stürzte lautlos sechs Meter in die Tiefe. Mit einem dumpfen Aufprall landete sie hart auf den Pflanzsteinen vor dem Kellerfenster. Zwischen Weihrauch und Männertreu blieb sie regungslos liegen.

Auf diesen Moment hatte Thomas lange gewartet. Eigentlich seit drei Jahren schon, als er die Lebendversicherung für Valy abgeschlossen hatte. Bei Selbstmord zahlte die leider nicht früher. Alles verlief genau nach Plan. Als er vor etwa zehn Minuten das Haus betreten hatte, war sein Blick zuerst auf ihr Handy gefallen. Die Verbindung zu seinem, das im 100 km entfernten Essen in seinem Hotelzimmer lag, stand noch. Gut so. Das würde sein Alibi bekräftigen. Er hatte für sie aufgelegt.
Dann nahm er die leere Weinflasche vom Couchtisch, um sie durch eine andere aus dem Altglas zu ersetzen. Spuren von dem Beruhigungsmittel befanden sich jetzt nur noch in ihrem Glas. Schließlich legte er die leere Schachtel der Pillen dazu, nachdem er zuerst vorsichtig von der schlafenden Valy Fingerabdrücke darauf platziert hatte. Es würde so aussehen, als wenn sie sie selbst genommen hätte. Auf einen Abschiedsbrief verzichtete er lieber. So etwas zu Fälschen konnte schnell ins Auge gehen.
Dafür hatte er bereits vor Tagen in der Nachbarschaft und im Bekanntenkreis das Gerücht gestreut, dass Valy immer depressiver würde. Man musste sich nur ganz beiläufig an die richtige Tratschtante wenden und ruck zuck machte es die Runde. Hinter vorgehaltener Hand hatte er behauptet, Valy leide an Schuldgefühlen, seit ihre kleine Stiefschwester damals bei dem Unfall starb. Der Absturz von ihrem Mann Didi machte es nicht einfacher für sie. Sie sei davon überzeugt, meinte er, eine schlechte Aura zu haben. Es traf sich ganz gut, dass sie sowieso wenige soziale Kontakte hatte, auch keine enge Freundin.
Mit der leeren Weinflasche in der Hand zog Thomas leise die Haustür hinter sich ins Schloss, nicht ohne vorher noch ihren Schlüssel von innen einzustecken. Die Flasche würde er im nächsten Altglascontainer versenken. Dann eilte er durch die Gärten abseits der gut beleuchteten Straße zurück in die Nachbarstraße. Er hatte sich den Mercedes eines Kollegen der Fortbildung ausgeliehen, ohne dessen Wissen. Abends traf man sich immer noch an der Bar und genehmigte sich zusammen einen Schlummertrunk. Meistens endete es jedoch im Besäufnis. Das war ihm ganz recht, denn so konnte er sich unbemerkt einen Autoschlüssel aus einer fremden Jackentasche fischen. Und es fiel nicht auf, wenn er sich für einige Zeit aus dem Staub machte. Sein eigener Audi war erst letzten Freitag zur Inspektion gewesen, wobei man auch den Kilometerstand notiert hatte. Schnell wäre klar gewesen, dass er mehr Strecke zurückgelegt hätte, als nur nach Essen zur Schulung. Wie gut, dass er fast den ganzen Weg über Autobahn fahren konnte. Das sparte eine Menge Zeit. Laut Navi brauchte er gut eine Stunde. Aber er raste am Limit und war nach nur fünfzig Minuten wieder im Hotel. Sorgsam stellte er den geliehenen Wagen zurück auf den Parkplatz, genau so, wie er ihn vorgefunden hatte. Morgen, nahm er sich vor, würde er um eine Probefahrt mit diesem imposanten Mercedes bitten. Das würde dann seine DNA-Spuren erklären, falls es je soweit kommen sollte. Er eilte zurück an die Bar, wo die Kollegen immer noch fleißig becherten. Seine fast zweistündige Abwesenheit schien nicht aufgefallen zu sein.

Damals, vor drei Jahren hatte Thomas nach einer Geldquelle gesucht. Er wollte sich nicht für den Rest seines Lebens in dem Großraumbüro des Versicherungsunternehmens abmühen. Er hatte andere Pläne, wollte lieber Reisen und das Leben in vollen Zügen genießen. Auf Valy wurde er aufmerksam, als sie eine hohe Unfallversicherung bei seiner Gesellschaft abschloss. Sie war genau das, was er suchte: wohlhabend und alleine. Dass sie auch noch jung und hübsch war, machte die Sache für ihn einfacher. Leider stellte sie sich dann doch nicht als allzu reich heraus. Zügig schloss er die Lebensversicherung für sie ab, ohne sie zu informieren. Das würde sein Erbe deutlich erhöhen. Aber Valy schien Angst vor Unfällen zu haben, überprüfte ständig alle elektrischen Geräte auf Sicherheit. Auch ihr Audi A3 wurde regelmäßig von einem Mechatroniker gecheckt.
Erst hatte er gedacht, sie hätte einen Verdacht gegen ihn. Doch es stellte sich als echter Spleen heraus. Es war so gut wie unmöglich, sie zu leichtsinnigen Handlungen zubewegen. Alles musste bei ihr immer doppelt und dreifach abgesichert und kontrolliert sein. Das war Pech für Thomas. Ein Unfall wäre ihm sehr gelegen gekommen. Dann hätte er die Summen beider Versicherungen kassiert. So musste er in den sauren Apfel beißen und drei lange Jahre warten.
Das Leben mit Valy gestaltete sich schwierig. Die Frau war anspruchsvoll und egoistisch. Als er ihr Geld investieren wollte, weigerte sie sich. Zu blöd. Er hätte echt was draus machen können, mit der richtigen Anlage. Dort auf der Bank, wo sie es hatte, brachte es nur wenig. Und dann quasselte sie ständig von ihrem Garten. Stundenlang konnte sie das, morgens, mittags und abends, zu jeder Jahreszeit. Es gab kaum ein anderes Thema für sie. Er kannte schon alle Blumen und Sträucher, bevor sie gepflanzt waren oder er sie gesehen hatte.
Wenn sie ihm nur halb so viel zuhören würde, dachte er manchmal genervt. Sie erinnerte sich kaum an seine Termine, wenn er sie nicht für sie aufschrieb. Nach der Hochzeit flüchtete er sich dann oft in Überstunden oder Fortbildungen, um etwas Ruhe vor ihr zu haben. Was ihm nebenbei gute Aufstiegschancen in seiner Firma bescherte.

Die Ermittlungen der Polizei dauerten drei Wochen. Unzählige Male sprachen sie mit Thomas, überprüften alle seine Angaben genau. Doch damit hatte er gerechnet. Warum seine Frau aus gerade dem Fenster gesprungen sei, wollten sie wissen. Sie hätte bei der geringe Höhe auch schwere, dauerhafte Verletzungen davon tragen können, statt zu sterben. Und warum sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Er blieb gelassen und gab den trauernden Ehemann. Viel mehr beschäftigte ihn dann die Frage der Beamten, warum sie so kurz vor ihrem Freitod noch einen Pavillon für ihren Garten bestellt hatte. Aber er erklärte ihnen, dass Valy sehr sprunghaft gewesen sei. Hätte er beim ihrem letzten Telefonat nur geahnt, was sie vorgehabt hatte, wäre er sofort nach Hause gefahren. Schließlich schlossen die Polizisten die Akte mit dem Ergebnis der Selbsttötung. Die Lebensversicherung musste zahlen.
Zufrieden bestellte Thomas einen Makler, um auch das Haus zu verkaufen. Der schöne Garten war schon etwas verwildert. Valys Margeriten hingen trostlos und vertrocknet auf braunen Stengeln. Zwischen den Hortensien und Pfingstrosen wucherte das Unkraut. Thomas hatte kein Händchen dafür und auch keine Lust. Doch dann nahm er sich vor, wenigstens den Rasen zu mähen. Das würde auch auf den Fotos vom Makler besser aussehen.

Als er den Stecker des Rasenmähers in der Garage in die Dose steckte, traf ihn ein tödlicher Stromschlag.
 

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Valy

Es war einer dieser wundervollen Sommertage Anfang Juni. Die Sonne strahlte von einem makellos blauen Himmel. Zufrieden betrachtete Valy ihre Hortensien, deren Knospen sich prächtig entwickelten. Nicht mehr lange und sie würden ihre vollen, pinken Blüten nach allen Seiten ausstrecken. Ein schöner Kontrast zu den gelben Husarenknöpfchen daneben. Zwischen den Pfingstrosen zu ihrer Rechten tummelte sich eine Amsel und Bienen summten durch die Luft. Valy liebte ihren Garten, in dem sie nach Möglichkeit jeden Tag mehrere Stunden verbrachte. Der Rasen war frisch gemäht und das Unkraut in den Beeten hatte sie auch zum größten Teil heraus gezupft. Sie ließ sich auf der Teakholzbank nieder, die eingerahmt von Kübeln mit Margeriten unweit der Terrasse stand. Von hieraus hatte sie die beste Aussicht über ihre Pflanzen und Blumen, konnte die Farbvielfalt der Petunien, den Weihrauch und das Männertreu genießen, die sie zum großen Kellerfenster in die Ausbuchtung des Lichtschachts gepflanzt hatte.
Dann überfiel sie plötzlich wieder dieses eigenartige Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Den ganzen Tag bereitete es ihr schon Kopfzerbrechen, ohne dass sie genau sagen konnte, was es war. Nur dieser unbestimmte Argwohn ließ sie einfach nicht los. Hatte der besorgte Blick ihrer Kollegin heute Morgen wirklich ihr gegolten, als sie ihr von ihren Hortensien erzählte? Valy musterte ihren Garten genauer. Aber alles war wie immer. Keine Auffälligkeiten. Beherzt schob sie sich mit einer Handbewegung eine Strähne ihrer blonden, langen Haare aus dem Gesicht. „Du bildest dir was ein.“, ermahnte sie sich selbst. Energisch erhob sie sich und marschierte in die Küche, um sich einen Tee aufzubrühen. Das beruhigte immer.
Während der Wasserkocher langsam heißer wurde, dachte sie schon wieder an ihren Garten. Sie hätte gerne einen Pavillon hinten in der Ecke zum Zaun. Schön mit Rosen und Clematis berankt, so dass man darunter im Schatten sitzen konnte, um gemütlich einen Kaffee oder Tee zu genießen. Sie langte nach ihrem Handy und suchte im Internet nach Anbietern. Auswahl gab es genug. Wenn sie den Pavillon bezahlen würde, würde sich ihr Mann Thomas bestimmt bereit erklären, das Ding für sie aufzubauen. Eigentlich machte er sich nicht viel aus dem Garten, das wusste Valy. Vielleicht lag es auch daran, dass es ihr Haus und ihr Garten war. Sie hatte alles von ihrem ersten Ehemann geerbt. Nach dessen Unfall. Thomas war dann vor drei Jahren bei ihr eingezogen.

Das Wasser kochte und mit einem lauten Klick stellte sich das Gerät ab. Sorgfältig übergoss Valy das Teeei mit den teuren Blättern aus dem Bioladen in der Stadt. Sie stellte die Eieruhr auf vier Minuten, für den perfekten Genuss. Dann zappte sie wieder durch die Internetseite auf ihrem Handy und bestellte einen bildschönen Pavillon aus Teakholz. Sie konnte sich jetzt schon vorstellen, wie Thomas mit den Augen rollte, wenn die Lieferung eintraf. Und sich dann doch für sie freute. Dabei huschte ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht. Ihr Mann war vor zwei Tagen auf eine viertägige Fortbildung gefahren. Er arbeitete in einem Versicherungsunternehmen und regelmäßige Fortbildungen gehörten einfach dazu. Jeden Abend rief er sie dann an, nach der Schulung, zwischen Essen und gemütlichen Abendrunde an der Bar. Valy blickte kurz auf ihre Armbanduhr. Erst 17 Uhr, noch zu früh für den Anruf. Letzte Woche erst hatten sie und Thomas ihren zweiten Hochzeitstag gefeiert. Nicht so groß, wie sie es sich gewünscht hatte, aber dafür sehr romantisch. Er hatte Essen nach Hause bestellt und den Tisch mit Kerzen und Blumen für sie geschmückt. Rote Rosen waren es gewesen, dreißig Stück. Und sie überraschte ihn mit einer neuen Rolex für seine Sammlung. Trotz kleiner Differenzen waren sie ein tolles Paar. Thomas schaffte es immer wieder, sie glücklich zu machen. Er war aufmerksam und zuvorkommend. Er half ihr in den Mantel oder hielt ihr die Türen auf. Er vergaß nie ihren Geburtstag und brachte auch zwischendurch einfach so Blumen für sie mit.
Bei ihrem ersten Mann Dietrich war das alles anders gewesen. Da musste sie ständig darauf achten, dass ihr Gatte zufrieden war. Sie hatte dafür zu sorgen, dass sein Lieblingswhisky im Haus war, dass sein Wagen zur Inspektion kam und sie heraus geputzt an der Tür erschien, wenn sich Besuch ankündigte. Dabei hatte sie damals noch ganztags als Steuerfachangestellte gearbeitet. Obwohl er mit seiner Firma genug verdiente, dass sie auch hätte aufhören können. Selbst ihr Wunsch, sich mit ein paar Stunden die Woche ausschließlich um seine Lohnbuchhaltung zu kümmern, war ihm nicht gut genug gewesen. Dietrich, oder wie sie ihn immer nannte, Didi war ein echter Knauser gewesen. Na ja, dafür hatte er bezahlt. Sie besaß jetzt seinen Grund und Boden am Stadtrand samt Haus mit der gehobenen Ausstattung, dazu noch ein ansehnliches Bankguthaben. Sein Sparen hatte sich durchaus gelohnt – für sie.

Die Eieruhr bimmelte. Valy hob das Teeei heraus und verschwand mit ihrer Tasse wieder in ihrem geliebten Garten. Ihren Job beim Steuerberater hatte sie nach Didis Tod auf dreißig Wochenstunden gekürzt. Das reichte allemal für ihr Auskommen. Sie wollte einfach mehr Zeit für ihren Garten haben, besonders im Frühling und Sommer. Und dann hatte sie sich ein Auto gekauft. Einen Audi A3 Cabrio, mit dem sie schon lange geliebäugelt hatte. Das Leben konnte so herrlich sein. Das Einzige, was ihr jetzt noch fehlte, waren Kinder. Mit Ende Dreißig blieb ihr dafür nicht mehr viel Zeit. Didi hatte keine Kinder gewollt und sie mit ihm auch nicht. Aber mit Thomas sah das ganz anders aus. Er wäre sicher ein toller Vater, so fürsorglich wie er war. Und dann noch seine tolle Ausstrahlung mit seinen dunklen Augen. Dieses Erbgut musste weiter gegeben werden, unbedingt.

Grübelnd nippte Valy an ihrem heißen Tee. Ihre Gedanken gingen unwillkürlich zurück zu ihrer eigenen Kindheit. Sie war nicht besonders glücklich gewesen. Ihre Mutter hatte sie kaum richtig gekannt. Und als ihr Vater seine zweite Frau Silvi heiratete, war sie nicht außerordentlich begeistert gewesen. Sie waren doch die ganzen Jahre auch so gut zurecht gekommen, zu zweit. Dann brachte Silvi auch noch Marie mit in die Ehe, eine kleine, dumme Gans, die ihr ständig nach rannte und unbedingt mit ihr spielen wollte. Zwei Jahre später, als Valy Dreizehn war, lief ihr Marie wieder hinterher, bis auf die Straße. Aber Valy wollte nur in Ruhe mit ihren Freundinnen abhängen. So eine Achtjährige störte dabei einfach. Doch bevor sie sie zurück schicken konnte, wurde das Mädchen von einem Auto erfasst. Ihre Stiefmutter machte ihr danach jeden Tag Vorwürfe, wochenlang. Sie hätte besser aufpassen müssen, jammerte Silvi immer wieder. Dabei hatte sie doch aufgepasst, hatte Marie laut und deutlich gesagt, sie solle bleiben, wo sie war, nämlich zu Hause. Aber diese Göre hörte wieder mal nicht auf sie, was sie mit ihrem Leben bezahlte.
Valys Mitleid hielt sich in Grenzen. Doch dieser Unfall machte das Zusammenleben noch schwieriger. Jeden Tag kamen neue Schuldzuweisungen von ihrer Steifmutter. Sie ließ sie einfach nicht in Ruhe. Und ihr Vater schwieg dazu. In ihrem Frust hatte sie dann an Silvis Fahrrad rumgespielt, ein paar Schrauben nur etwas gelöst, an Bremsen und Vorderrad. Sie hatte schon nicht mehr daran gedacht, bis ihre Stiefmutter ungebremst unter einen Laster fuhr. Der alberne Helm, den Silvi immer trug, wenn sie auf dem Rad unterwegs war, konnte sie auch nicht mehr retten. Diesmal machte ihr keiner Vorwürfe. Es gab kein Gejammer, keine Schuldzuweisungen mehr. Valy hatte sich regelrecht befreit gefühlt. Und ihr wurde klar, wie einfach es war.

Doch dieses Gefühl hielt nicht lange an. Zu Hause war es zwar geruhsamer geworden, aber in der Schule nervten jetzt die Lehrer und meinten, sie müsse ihre Hausaufgaben regelmäßiger machen und auch mehr lernen, wenn sie das Schuljahr schaffen wollte. Besonders ihr Mathe- und Physiklehrer Herr Orlowski war hartnäckig. Er war ein fieser, griesgrämiger Zeitgenosse, dem die meisten Schüler lieber aus dem Weg gingen. Aber wofür brauchte sie Physik? Ihre Interessen lagen immer schon bei den Sprachen Englisch und Spanisch. Ihr Vater vereinbarte schließlich Nachhilfeunterricht mit dem Mann, ohne sie zu fragen. Im Gegenzug durfte sie seinen Rasen mähen. Sie ging nur widerwillig hin. Herr Orlowski erlitt zwei Wochen später einen tragischen Stromschlag in seiner Garage, als er den Rasenmäher in Betrieb nehmen wollte. Er hatte die fehlende Isolierung am Kabel nicht bemerkt.
Das war jetzt über zwanzig Jahre her. Aber Valy erinnerte sich noch gut, dass sie danach besser aufpasste in Physik, und auch in Chemie. Sie schaffte schließlich die mittlere Reife mit Bravur und begann die Ausbildung zur Steuerfachangestellten. Der Verdienst war nicht sonderlich gut, aber man bekam Einblick in die Geschäftsunterlagen von dem einen oder anderen Unternehmen. Bis Valy allerdings den richtigen Unternehmer für sich gefunden hatte, musste sie sich mit einem aufdringlichen, jungen Kollegen herumschlagen. Dieser Timo machte ständig anzügliche Bemerkungen, auch gegenüber den anderen Mitarbeiterinnen. Er beleidigte Valy wegen ihrer blonden Haare, erklärte sie für dumm und erzählte Blondinenwitze in ihre Gegenwart. Und meinte dann auch noch, sie hätte Lust, mit ihm auszugehen. Dabei fand er sich so cool. Unglaublich. Nachdem er sie im Kopierraum grob betatschte und bedrängte, konnte Valy nicht anders, als ihm eine Lektion zu erteilen. In einem unbemerkten Moment mischte sie ihm quecksilberhaltiges Pulver in sein mitgebrachtes Mittagessen. Die Wirkung war zwar nicht tödlich, aber der Mann fiel länger aus und kündigte schließlich. Unter den weiblichen Kollegen wurde das mit allgemeiner Erleichterung quittiert.

Valy ließ ihren Blick seelenruhig über ihre Blumenpracht schweifen. Es gab für sie kaum etwas Schöneres, als hier auf ihre Holzbank in ihrem Garten zu sitzen. Eine Amsel hatte jetzt im Futterhaus die Haferflocken entdeckt, die sie heute Morgen dort deponiert hatte. Wie putzig sie die Flocken gegen einen Buchfink verteidigte, einfach zu niedlich. Nach diesem Timo hatte es noch mehrere in ihrer Umgebung gegeben, die von bedeutenden Unfällen heimgesucht wurden. Doch immer ereigneten sie sich in einem persönlichen Bereich, der sie leichtsinnig und unachtsam werden ließ. Darauf achtete Valy sehr sorgsam. Sie wurde auch geschickter mit der Zeit.
Ihr Meisterstück war schließlich der Unfall ihres Ehemannes Didi. Er liebte Extremsportarten wie Paragleiten und Klettern. Was für eine tolle Gelegenheit für sie. Dabei hatte ihre Ehe zunächst ganz vielversprechend begonnen. Sie zogen in dieses schöne Haus mit dem prächtigen Garten, den sie ganz nach ihren Vorstellungen gestalten konnte. Doch dann musste sie feststellen, wie geizig ihr Didi sein konnte, besonders bei ihren Wünschen. Einen Paragleitkurs gönnte er sich. Aber bei der Beleuchtung des Gartens entschied er sich für das Billigste, genau wie bei den Terrassenfliesen, die er im Baumarkt als Angeboten ausguckte, anstatt auf ihren Wunsch zum Fachhändler zu rennen. Immer öfter erklärte er ihr, sie solle ihre Rechnungen gefälligst selbst bezahlen. Und das, obwohl er locker das Doppelte verdiente und sie den ganzen Haushalt schmiss. Damit platzte ihr Traum von der wohlhabenden Gattin.
Leider hatte Didi auf einen Ehevertrag bestanden. Das hieß, dass sie bei einer Scheidung leer ausgehen würde. Doch Valy wollte nicht mehr auf ihren schönen Garten verzichten, in den sie so viel Arbeit und Zeit investiert hatte. Da gab es nur eine Lösung für sie: Didi musste weg. Zunächst bearbeitete sie sein Kletterseil mit einer Feile. Doch er bemerkte den Schaden und kaufte sich ein Neues. Beim zweiten Versuch war sie schlauer und behandelte das Seil mit Chlorreiniger, der es spröde machte. Von außen sah man ihm das nicht an. Aber im Fall, dass es Didi mit seinen durchtrainierten 90 kg auffangen musste, riss es garantiert. Valy hatte dann ganze drei Wochen warten müssen, bis ihr Mann mit seinen Freunden wieder zum Klettern fuhr. Von diesem Ausflug kehrte er nicht lebend zurück.
Die Polizei untersuchte den Unfall ausgiebig. Allerdings waren die Beamten ihr gegenüber sehr zu vorkommend gewesen, hatten nur nachgefragt, ob Didi eventuell an Depressionen litt. Doch das konnte sie ausschließen. Manchmal war dieses Vorurteil von Blond und Blöd einfach praktisch. Aber vielleicht lag es auch daran, dass die Kletterkollegen bezeugen konnten, dass sie Didi noch von dem Ausflug abhalten wollte. Was natürlich völlig zwecklos gewesen war. Wenn sich ihr Mann etwas vorgenommen hatte, dann zog er das auch durch. Gnadenlos. Valy erbte nur ein recht kleines Vermögen, da seine Firma leider zum größten Teil an seinen Bruder fiel. Was zur Folge hatte, dass die Polizei ihn stärker unter die Lupe nahm, jedoch auch ohne Resultate. Man stellte dann Materialfehler als Unfallursache fest. Valy nahm sich danach vor, nie wieder einen Unfall heraufzubeschwören. Damit musste Schluss sein, ein für alle Mal. Sie wollte nicht, dass jemand anderer unter falschen Verdacht geriet oder schlimmer noch, für Schuldig gehalten würde. Außerdem hatte sie nun alles, was sie wollte: einen Garten, in dem sie nach Herzenslust wühlen und gestalten konnte, wie sie wollte. Und ein Bankkonto, das ihre Möglichkeiten unglaublich erweiterte.

Im Garten nebenan erschien die Nachbarin Frau Schlotmann mit einer Gießkanne in der Hand. Valy grüßte sie über die Hecke mit einem kurzen Winken. Dann stellte sie ihre Teetasse zur Seite. Auch für sie wurde es Zeit, jetzt, wo die Sonne schon tiefer stand, ihre Blumen zu wässern. Sie ging zur Terrasse, rollte den Gartenschlauch ein gutes Stück von der Halterung und stellte das Wasser an. Ein feiner Strahl rieselte auf die Kübel mit ihren weißen Mageriten nieder. Während sie lässig zu den zartrosa Pfingstrosen wechselte, schleppte sich Frau Schlotmann mit der zweiten Gießkanne ab. Dann erhaschte Valy einen Blick auf den mitleidigen Gesichtsausdruck der Frau, der eindeutig ihr galt. Das konnte keine Einbildung sein. Irritiert goss sie ihre Hortensien und Husarenknöpfchen. Als sie wieder aufschaute, war die Nachbarin schon verschwunden. Was war hier los? Ihr Garten war völlig in Ordnung. Das hatte sie heute doch schon mehrmals gründlich geprüft. Es war wie mit der Arbeitskollegin am Morgen. Diese plötzliche innere Unruhe war wieder da. Wussten sie etwas, von dem sie keine Ahnung hatte? Dann kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Hatte es vielleicht mit Thomas zu tun? Kam es nicht sogar oft vor, dass alle im Umfeld über die Verfehlungen eines Partners Bescheid wussten? Alle, außer dem Menschen, den es am meisten anging, dem Partner? Angestrengt überlegte Valy, ob es irgendwelche Anzeichen dafür gab, dass Thomas sie betrügen würde. Na gut, er war auf Fortbildung in Essen, 100 km entfernt. Und wenn das nur vorgeschoben war? Aber er rief sie doch jeden Abend an. Und er hatte ihr auch eine Notfallnummer vom Hotel gegeben, wenn er während der Schulung nicht erreichbar war. Sie hatte allerdings noch nie dort angerufen. Zweifel überfielen Valy. Das konnte nicht sein. Thomas war nach wie vor sehr aufmerksam ihr gegenüber. Und fremden Lippenstift hatte sie auch nicht an seinem Hemdkragen gefunden. Aber Thomas war nicht dumm. Er war sicher geschickt darin, etwas vor ihr zu verbergen.
Der schöne Sonnentag hatte seinen Glanz verloren. Valy hatte keinen Blick mehr für die vielen, prächtigen Blüten, auf denen die Wassertropfen im Licht nun wie Edelsteine funkelten. Thomas war nicht nur nicht dumm, sondern auch ausgesprochen gutaussehend und charmant. Wenn er wollte, könnte er sie problemlos jeder Zeit gegen eine hübschere und jüngere Frau austauschen. Aber sie würde sich nicht zum Gespött der Leute machen lassen. Sie nicht! Sie könnte seinen Kumpel von der Arbeit anrufen. Und ganz unverfänglich nachfragen, um was für eine Fortbildung es sich handeln würde. Aber was, wenn der eingeweiht war? Valy schaute zur Uhr. In circa einer Stunde erwartete sie den Anruf von Thomas. Sollte sie ihn zur Rede stellen? Am Telefon? Ohne Beweise? Ihr Handy hatte sie schon griffbereit. Dann suchte sie kurzentschlossen die Nummer des Hotels raus und drückte auf Wählen. Der nette Angestellte, der sich kurz darauf meldete, versicherte ihr, ein Herr Thomas Medding wäre gerade mit seiner Gruppe zu Tisch. Er würde ihn ausrufen, wenn sie es wünsche. Aber Valy lehnte dankend ab. Diese Aussage reichte ihr schon. Thomas war also in diesem Hotel und auch die Schulung gab es wirklich. Dann wuchs ihr Misstrauen wieder. Was, wenn seine Geliebte Teilnehmerin der gleichen Fortbildung war? Oder einfach zur gleichen Zeit im gleichen Hotel abstieg?

Valy drehte energisch das Wasser ab, ließ den Gartenschlauch auf dem Rasen liegen, wo sie stand und eilte ins Haus. Sie stürmte die Treppe hinauf bis in ihr Schlafzimmer. Zuerst durchwühlte sie seinen Nachttisch. Als sie dort nichts Belastendes finden konnte, machte sie sich über seinen Teil des Kleiderschranks her. Sie kramte in seinen Sakkotaschen und in der Schublade mit den Socken. Alles ohne Erfolg. Sie suchte sogar unter ihrem Bett. Las man nicht immer wieder in Romanen von den verlorenen Ohrringen einer Geliebten? Aber da war wieder nichts. Dann fiel ihr seine Rolex-Sammlung in die Hände, die er in der obersten Schublade der Kommode verstaute. Sorgsam verpackt in einem großen Etui lagen fünf prachtvolle Uhren vor ihr. Die Erste hatte er sich selbst gekauft, das wusste sie. Die Zweite schenkte sie ihm zur Hochzeit, die Dritte und Vierte zu den letzten beiden Hochzeitstagen. Aber wo kam die Fünfte her? Niemand machte so einfach so teure Geschenke. Und wenn er sie selbst gekauft hatte? Dann hätte er ihr doch sicher davon erzählt. Bei ihrem Hochzeitstag vor einer Woche war die Uhr noch nicht dagewesen. In ihren Gedanken ging sie die letzten Tage noch mal durch. Aber sie konnte sich an kein Gespräch erinnern, das sich um eine Rolex gedreht hätte. Mitten in ihren Überlegungen klingelte ihr Handy. ‚Thomas‘ las sie auf ihrem Display.

„Hi, wie geht es dir?“, fragte er nett wie immer, als sie abnahm.
„Gut.“ Ob er ihren spitzen Unterton bemerkte?
„Gut?“, hakte er sofort nach. „Du hörst dich nicht so an. Hattest du Ärger?“
„Nein, alles Bestens.“
„Sicher?“
„Ja, sicher. Und du? Amüsierst du dich?“, bemühte sie sich um eine lockere Unterhaltung.
„Es ist ganz nett hier. Aber anstrengend, Arbeit halt. – Und was hast du heute so gemacht?“
Wollte er von sich ablenken? dachte sie. Dabei brannte ihr ein ganz bestimmte Frage unter den Nägeln.
„Sag mal“, versuchte sie es beiläufig klingen zu lassen. „Seit wann hast du eigentlich fünf Rolex?“ Sie spürte ihn durchs Telefon stutzen.
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“, fragte er schließlich überrascht, um sofort darauf dann doch ihre Neugier zu befriedigen. „Die habe ich mir von der Erfolgsprämie gekauft, die ich letzte Woche von meinem Chef bekommen habe. Das habe ich dir aber alles schon mal erzählt.“
Verwirrt ließ sich Valy auf ihr großes Bett sinken. Wieso konnte sie sich nicht daran erinnern? Weder an die Prämie, noch an die Uhr? Gut, gelegentlich kam es vor, dass sie mit ihren Gedanken weit weg war, wenn er mit ihr sprach. Aber so etwas hätte sie doch sicher behalten.
„Valentina? Bist du noch dran?“, fragte Thomas.
Sie hasste es, wenn er sie so nannte. Ihren Namen hatte sie noch nie gemocht.
„Valy?“
„Ich bin noch hier.“
„Was ist los?“ Er klang besorgt.
„Liebst du mich noch?“, fragte sie.
„Ja, sicher.“ Dann schien ihm eine Idee zu kommen. „Du hast doch nicht gedacht, ich hätte die Rolex von einer Geliebten bekommen? Oder? – Valy, ich liebe nur dich. Es gibt keine andere Frau für mich.“
Das war Balsam für ihre Seele – wenn es die Wahrheit war. „Ich liebe dich auch.“, versicherte sie ihm.
„Morgen Abend bin ich zurück. Dann reden wir, okay? - Ach, und trink nicht so viel. Das tut dir nicht gut.“
„Ich trinke nicht.“
„Du trinkst jeden Donnerstag schon aufs Wochenende. Und heute ist Donnerstag.“
So ganz Unrecht hatte er damit nicht. Sie liebte es, das Wochenende mit einem guten Glas Wein einzuläuten, auch schon am Donnerstag.
„Also, bis morgen. Ja?“, ergänzte er noch.
„Bis morgen“, antwortete sie und hörte noch, wie er einen Kuss ins Telefon hauchte. Dann war sie mit ihren Gedanken wieder alleine.

Die Sonne hing wie ein oranger Feuerball tief am Himmel. Im Garten lagen lange Schatten auf den Blumen und Pflanzen. Valy grübelte. Ihre Arbeitskollegin, die sie besorgt angesehen hatte, ihre Nachbarin mit dem mitleidigen Blick, das waren keine Einbildungen gewesen. Auch das Gespräch über die Rolex hatte es nicht gegeben, dessen war sie sich ziemlich sicher. Und wieso wusste Thomas so genau, was sie vermutete?
Tief in Gedanken versunken stieg sie die Treppe hinunter und schlenderte in ihre Küche. Auf dem Tresen stand noch eine angefangene Flasche von diesem leckeren Rotwein. Eigentlich sollte sie erst etwas essen, aber danach war ihr nicht. Sie nahm sich ein Glas aus dem Schrank, die Flasche dazu und verzog sich ins Wohnzimmer auf ihre Couch. Thomas machte sich nicht viel aus dem Wein. Er genoss lieber einen guten Whisky. Aber wie konnte er sich nur darüber beschweren, dass sie zu viel trank? Wo sie sich doch nie mehr, als zwei Gläser gönnte. Egal. Sollte er ruhig meckern. Sie goss sich das Glas bis zum Rand voll und leerte die Hälfte in einem Zug. Vielleicht hätte sie sich besser einen Hund angeschafft, als einen Mann, überlegte sie. Die waren wenigstens treu. Andererseits buddelten die auch im Garten und pinkelten an ihre wertvollen Blumen. Thomas war dieses Jahr schon auf der vierten Fortbildung, die immer über mehrere Tage – und auch Nächte gingen. Und dann die zahlreichen Überstunden, die er so oft machte. Lag es da nicht nahe, dass er etwas mit einer Arbeitskollegin hatte? Warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen? Hatte er jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn er Blumen für sie mitbrachte? Der Alkohol betäubte ihren Unmut nicht. Im Gegenteil, er stachelte sie immer mehr auf. Das Leben war so ungerecht. Sie hatte doch tatsächlich geglaubt, mit Thomas den Mann fürs Leben gefunden zu haben und wollte sogar Kinder mit ihm. Schlecht gelaunt kippte sie den Rest des Weins runter und füllte ihr Glas aufs Neue.
Draußen versank die Sonne jetzt ganz hinterm Horizont. Automatisch gingen die niedrigen Gartenleuchten an, die sie so verteilt hatte, dass man ihre Blumenpracht auch am Abend gut sehen konnte. Sie würde nicht still abwarten, bis ihre Ehe den Bach runter ging, nahm sie sich vor. Sie würde Vorkehrungen treffen, ganz sicher. Am besten, sie machte das sofort, solange er noch außer Haus war. Sie hatte da auch schon eine Idee. Schwankend erhob sie sich und stolperte in die Garage.

Eine halbe Stunde später saß Valy wieder auf ihrer Couch, das Weinglas in der Hand. Aber Zufriedenheit wollte sich einfach nicht einstellen. Schwer enttäuscht trank sie aus. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich eine bleierne Müdigkeit über ihre Gedanken legte. Der Alkohol verrichtete endlich seinen Dienst. Und das nach nur drei Gläsern. Sie vertrug heute nicht viel, dachte sie erschöpft. In der Flasche war nur noch ein kleiner Rest. Mit zittriger Hand schenkte sie sich ein letztes Mal ein. Sie lehnte sich benebelt und müde zurück in die großen Kissen. Ganz verschwommen nahm sie durch das große Terrassenfenster ihren Garten war, sah die Lichter zwischen den Pflanzen, wie sie ihre Schatten warfen. Jetzt, im Juni war er am schönsten, leuchtete in allen Farben und in sattem Grün. Sie war schon fast eingeschlafen, als sie vom Klingeln ihres Handys hochschreckte. Thomas rief sie an. Schon wieder? Sie überlegte einen Moment, ob sie ran gehen sollte und entschied sich dann doch dafür.
„Hi. Ich bin’s“, sagte er.
Müde nuschelte sie ein „Hallo“.
„Hast du schon geschlafen? Oh, das tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken.“ Er wartete eine Sekunde, bevor er weiter sprach: „Du hast dich vorhin so schlecht angehört. Ich wollte nur wissen, ob es dir jetzt besser geht?“
Das war wiedermal so fürsorglich von ihm. In Valy regte sich ein schlechtes Gewissen. Wie konnte sie nur jemals denken, dass er sie betrügen würde?
„Alles in Ordnung“, murmelte sie schließlich und ließ sich entspannt zurück in die Kissen sinken. „Ich hatte heute einfach einen fürchterlichen Tag.“
„Okay. Willst du mir davon erzählen?“
„Das hat Zeit bis Morgen.“
„Auch gut. Was macht dein Garten?“ fragte er nach.
Thomas war so lieb, dachte sie. Sie wusste, dass sie ihn schon so manches Mal mit ihren begeisterten Berichten über ihren Garten grenzenlos gelangweilt hatte. Trotzdem fragte er jetzt danach, anstatt sie darauf anzusprechen, dass sie zu viel getrunken hatte. Was er ganz gewiss schon herausgehört hatte. Morgen, nahm sie sich vor, morgen musste sie dringend etwas erledigen, bevor er nach Hause kam.
„Ich habe heute den Rasen gemäht“, erklärte sie und hatte Mühe, ihre Gedanken zusammenzuhalten. „Und dann habe ich Unkraut gezupft. In den Pflanzsteinen am Lichtschacht. Damit das Männertreu besser wachsen kann.“
Sie rieb sich mit der freien Hand ihre Augen. Aber ihr Blick wollte einfach nicht klarer werden. Sie hätte doch vor dem Wein etwas essen sollen, ärgerte sie sich.
„Und die Hortensie hat ganz viel Blüten“, nuschelte sie, das Handy dicht ans Ohr gepresst. Wenn sie nur nicht so müde wäre. Sie konnte sich kaum konzentrieren.
„Und die Pfingstrose…die Pfingstrose ist jetzt auch…auch voll aufgeblüht.“ Thomas verstand sie hoffentlich noch, dachte sie, ehe sie eingeschlafen war.

Eine Hand rüttelte sanft an ihrer Schulter. Langsam kam Valy zu sich. Sie saß halb liegend noch immer auf ihrer Couch in Wohnzimmer. Thomas stand neben ihr und bückte sich zu ihr runter. Sie hatte weder ihn noch sein Auto kommen hören.
„Valy“, sagte er. „Du solltest ins Bett gehen.“
Verwirrt blickte sie sich um. Alles war dunkel. Nur aus dem Flur fiel ein wenig Licht ins Zimmer.
„Wie spät ist es?“ Sie konnte nicht klar gucken, alles wirkte seltsam verschwommen um sie herum.
„Gleich 23 Uhr.“
„Was machst du hier?“, murmelte sie leicht überrascht. Ihr Mund fühlte sich fürchterlich ausgetrocknet an.
„Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Thomas half ihr auf die Beine und führte sie in den Flur zur Treppe.
„Aber deine Fortbildung?“ nuschelte sie und suchte im Halbdunkel seinen Blick.
Er lächelte sie an: „Ich fahre morgen ganz früh zurück. Kein Problem. Das hier ist wichtiger.“
Schwankend griff Valy nach dem Handlauf, um nicht umzufallen. Was für ein Glück sie doch mit Thomas hatte, dachte sie.
„Ich helfe dir“, bot er sich an und fasste stützend unter ihren rechten Arm. Im Schlafzimmer meinte er dann: „Die Luft ist herrlich heute Nacht. Wir sollten bei offenem Fenster schlafen.“
Valy versuchte vergeblich das Fenster zu öffnen. Ihr fehlte einfach die Kraft dazu. Auch hierbei half ihr schließlich Thomas, um ihr dann noch ein Glas Wasser aus dem Bad zu holen. Angenehme Kühle strömte herein. Tief durchatmend blieb Valy am weit geöffneten Fenster stehen. Sie fühlte sich schwindelig und benebelt. Aber vielleicht machte die frische Luft ihren Kopf etwas klarer.
Morgens stand sie manchmal länger hier, weil man bei Tag einen wunderschönen Blick über ihren Garten hatte, der jetzt ruhig und dunkel vor ihr lag. Thomas trat hinter sie, legte ihr einen Arm um die Taille. Benommen lehnte sie sich an ihn. Er nahm mit dem anderen Arm ihre Beine und hob sie hoch.
Doch er dachte gar nicht daran, sie ins Bett zu tragen. Er hatte ganz andere Pläne. Bevor Valy kapierte, wie ihr geschah, hielt er sie schon aus dem Fenster und ließ sie fallen. Sie stürzte lautlos sechs Meter in die Tiefe. Mit einem dumpfen Aufprall landete sie hart auf den Pflanzsteinen vor dem Kellerfenster. Zwischen Weihrauch und Männertreu blieb sie regungslos liegen.

Auf diesen Moment hatte Thomas lange gewartet. Eigentlich seit drei Jahren schon, als er die Lebendversicherung für Valy abgeschlossen hatte. Bei Selbstmord zahlte die leider nicht früher. Alles verlief genau nach Plan. Als er vor etwa zehn Minuten das Haus betreten hatte, war sein Blick zuerst auf ihr Handy gefallen. Die Verbindung zu seinem, das im 100 km entfernten Essen in seinem Hotelzimmer lag, stand noch. Gut so. Das würde sein Alibi bekräftigen. Er hatte für sie aufgelegt.
Dann nahm er die leere Weinflasche vom Couchtisch, um sie durch eine andere aus dem Altglas zu ersetzen. Spuren von dem Beruhigungsmittel befanden sich jetzt nur noch in ihrem Glas. Schließlich legte er die leere Schachtel der Pillen dazu, nachdem er zuerst vorsichtig von der schlafenden Valy Fingerabdrücke darauf platziert hatte. Es würde so aussehen, als wenn sie sie selbst genommen hätte. Auf einen Abschiedsbrief verzichtete er lieber. So etwas zu Fälschen konnte schnell ins Auge gehen.
Dafür hatte er bereits vor Tagen in der Nachbarschaft und im Bekanntenkreis das Gerücht gestreut, dass Valy immer depressiver würde. Man musste sich nur ganz beiläufig an die richtige Tratschtante wenden und ruck zuck machte es die Runde. Hinter vorgehaltener Hand hatte er behauptet, Valy leide an Schuldgefühlen, seit ihre kleine Stiefschwester damals bei dem Unfall starb. Der Absturz von ihrem Mann Didi machte es nicht einfacher für sie. Sie sei davon überzeugt, meinte er, eine schlechte Aura zu haben. Es traf sich ganz gut, dass sie sowieso wenige soziale Kontakte hatte, auch keine enge Freundin.
Mit der leeren Weinflasche in der Hand zog Thomas leise die Haustür hinter sich ins Schloss, nicht ohne vorher noch ihren Schlüssel von innen einzustecken. Die Flasche würde er im nächsten Altglascontainer versenken. Dann eilte er durch die Gärten abseits der gut beleuchteten Straße zurück in die Nachbarstraße. Er hatte sich den Mercedes eines Kollegen der Fortbildung ausgeliehen, ohne dessen Wissen. Abends traf man sich immer noch an der Bar und genehmigte sich zusammen einen Schlummertrunk. Meistens endete es jedoch im Besäufnis. Das war ihm ganz recht, denn so konnte er sich unbemerkt einen Autoschlüssel aus einer fremden Jackentasche fischen. Und es fiel nicht auf, wenn er sich für einige Zeit aus dem Staub machte. Sein eigener Audi war erst letzten Freitag zur Inspektion gewesen, wobei man auch den Kilometerstand notiert hatte. Schnell wäre klar gewesen, dass er mehr Strecke zurückgelegt hätte, als nur nach Essen zur Schulung. Wie gut, dass er fast den ganzen Weg über Autobahn fahren konnte. Das sparte eine Menge Zeit. Laut Navi brauchte er gut eine Stunde. Aber er raste am Limit und war nach nur fünfzig Minuten wieder im Hotel. Sorgsam stellte er den geliehenen Wagen zurück auf den Parkplatz, genau so, wie er ihn vorgefunden hatte. Morgen, nahm er sich vor, würde er um eine Probefahrt mit diesem imposanten Mercedes bitten. Das würde dann seine DNA-Spuren erklären, falls es je soweit kommen sollte. Er eilte zurück an die Bar, wo die Kollegen immer noch fleißig becherten. Seine fast zweistündige Abwesenheit schien nicht aufgefallen zu sein.

Damals, vor drei Jahren hatte Thomas nach einer Geldquelle gesucht. Er wollte sich nicht für den Rest seines Lebens in dem Großraumbüro des Versicherungsunternehmens abmühen. Er hatte andere Pläne, wollte lieber Reisen und das Leben in vollen Zügen genießen. Auf Valy wurde er aufmerksam, als sie eine hohe Unfallversicherung bei seiner Gesellschaft abschloss. Sie war genau das, was er suchte: wohlhabend und alleine. Dass sie auch noch jung und hübsch war, machte die Sache für ihn einfacher. Leider stellte sie sich dann doch nicht als allzu reich heraus. Zügig schloss er die Lebensversicherung für sie ab, ohne sie zu informieren. Das würde sein Erbe deutlich erhöhen. Aber Valy schien Angst vor Unfällen zu haben, überprüfte ständig alle elektrischen Geräte auf Sicherheit. Auch ihr Audi A3 wurde regelmäßig von einem Mechatroniker gecheckt.
Erst hatte er gedacht, sie hätte einen Verdacht gegen ihn. Doch es stellte sich als echter Spleen heraus. Es war so gut wie unmöglich, sie zu leichtsinnigen Handlungen zubewegen. Alles musste bei ihr immer doppelt und dreifach abgesichert und kontrolliert sein. Das war Pech für Thomas. Ein Unfall wäre ihm sehr gelegen gekommen. Dann hätte er die Summen beider Versicherungen kassiert. So musste er in den sauren Apfel beißen und drei lange Jahre warten.
Das Leben mit Valy gestaltete sich schwierig. Die Frau war anspruchsvoll und egoistisch. Als er ihr Geld investieren wollte, weigerte sie sich. Zu blöd. Er hätte echt was draus machen können, mit der richtigen Anlage. Dort auf der Bank, wo sie es hatte, brachte es nur wenig. Und dann quasselte sie ständig von ihrem Garten. Stundenlang konnte sie das, morgens, mittags und abends, zu jeder Jahreszeit. Es gab kaum ein anderes Thema für sie. Er kannte schon alle Blumen und Sträucher, bevor sie gepflanzt waren oder er sie gesehen hatte.
Wenn sie ihm nur halb so viel zuhören würde, dachte er manchmal genervt. Sie erinnerte sich kaum an seine Termine, wenn er sie nicht für sie aufschrieb. Nach der Hochzeit flüchtete er sich dann oft in Überstunden oder Fortbildungen, um etwas Ruhe vor ihr zu haben. Was ihm nebenbei gute Aufstiegschancen in seiner Firma bescherte.

Die Ermittlungen der Polizei dauerten drei Wochen. Unzählige Male sprachen sie mit Thomas, überprüften alle seine Angaben genau. Doch damit hatte er gerechnet. Warum seine Frau aus gerade dem Fenster gesprungen sei, wollten sie wissen. Sie hätte bei der geringe Höhe auch schwere, dauerhafte Verletzungen davon tragen können, statt zu sterben. Und warum sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Er blieb gelassen und gab den trauernden Ehemann. Viel mehr beschäftigte ihn dann die Frage der Beamten, warum sie so kurz vor ihrem Freitod noch einen Pavillon für ihren Garten bestellt hatte. Aber er erklärte ihnen, dass Valy sehr sprunghaft gewesen sei. Hätte er beim ihrem letzten Telefonat nur geahnt, was sie vorgehabt hatte, wäre er sofort nach Hause gefahren. Schließlich schlossen die Polizisten die Akte mit dem Ergebnis der Selbsttötung. Die Lebensversicherung musste zahlen.
Zufrieden bestellte Thomas einen Makler, um auch das Haus zu verkaufen. Der schöne Garten war schon etwas verwildert. Valys Margeriten hingen trostlos und vertrocknet auf braunen Stengeln. Zwischen den Hortensien und Pfingstrosen wucherte das Unkraut. Thomas hatte kein Händchen dafür und auch keine Lust. Doch dann nahm er sich vor, wenigstens den Rasen zu mähen. Das würde auch auf den Fotos vom Makler besser aussehen.

Als er den Stecker des Rasenmähers in der Garage in die Dose steckte, traf ihn ein tödlicher Stromschlag.
 



 
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