Vom Rand halten (Sonett)

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James Blond

Mitglied
Wie hat der wüste Krieg die Dichter doch beflügelt!
Sie setzen Vers an Vers, die Grausamkeit zu orten
und werden dabei selbst gekapert von den Worten,
die frei von jeder Scham so listig ausgeklügelt.

Man zeigt getroffen sich und sehr bemüht zu zielen,
als läg man an der Front vor alten Menschheitsplagen
und kennt die Welt doch nur vom bunten Hörensagen,
aus Bildern, die gedacht, nach Publikum zu schielen.

Und schießen wollen sie, die reimend Strophen klagen,
doch fehlt der Schuss das Herz, es trifft nur Eitelkeit
die Gier nach Sensation: Man schwenkt Theaterblut

durch den Sonettparcours geplatzter Dichterkragen,
sprüht peinlich nett korrekt nun Kriegsbetroffenheit
und zeigt sich wieder neu und auch moralisch gut.
 

Tula

Mitglied
Ja James,
politisch sein, heißt mitunter unpolitisch, ohne es zu merken. In der Umkehrung des Zitats von Rosa.
Es gibt allerdings Momente, da fällt es wirklich schwer, nichts zu tun bzw. kundzutun.
Heute war ich im "Laden an der Ecke" und bereits an der Kasse. Eine Frau weit über 60 kommt herein und erzählt den Damen an der Kasse (die ich gut kenne), dass sie (ihre Kinder mit Freunden?) bereits eingetroffen sind. Kurz vor der Grenze, um dort als Freiwillige beim Empfang der Flüchtlinge mitzuhelfen. Die gegenseitige Begeisterung schien mir nicht gespielt. Man kennt sich seit vielen Jahren. Da sind nicht wenige unterwegs, von etlichen Spendenaktionen abgesehen. Solidarität kann ansteckend sein. Nicht alle sind nur Heuchler, auch die Dichter nicht unbedingt ;)

LG
Tula
 
Ich glaube auch nicht, dass alle Heuchler sind, die sich betroffen zeigen. Aber das Gedicht gefällt mir, weil es fein satirisch eine andere Seite beleuchtet.

LG SilberneDelfine
 
Wieder hast du so ein Schwergewicht ausgebrütet, welches dir zur Ehre gereicht, mein lieber James.
Die Kunst und der Krieg haben eine lange Geschichte.
Von ....Heraklit (der Krieg ist der Vater aller Dinge)
Platon (wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg)
bis zu Ernst Jünger (Nicht wofür wir kämpfen, ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen)
haben viele Künstler das Phänomen Krieg beschrieben aber im Verhältnis recht wenige über den Zustand "danach"...

Die aktuelle Stunde lässt uns sprachlos und mit Entsetzen zurück, weil uns unsere Hilflosigkeit bewusst ist. Doch es geht um viel mehr in deinem Text, nämlich um die Reflexion der Mächtigen und auch um die der Kunst. Wie Trittbrettfahrer die "Gunst der Stunde" benutzen, um bei dem, was zu sagen ist nicht hinterher zu hinken, drängeln sie sich eilfertig mit ihren Gesicht vor jede sich bietende Kamera, um ihren Teil der Betroffenheit anzumahnen. Deshalb ist das letzte Terzett für mich das wichtigste, weil die Stellungnahme einer Zäsur gleicht, die zurückliegende Schmach und Fehlverhalten in einer Weise egalisiert und vermeintliche Absolution erteilt. Ein Augenblick also, der von Schwatzhaftigkeit missbraucht wurde, anstelle die Augen zu senken und zu schweigen oder wörtlich "den Rand zu halten".

Gruß vom Beislhans
 

James Blond

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In der Tat. Das war kein wohlfeiler Protest, von bunten Internet(t)kanälen gefüttert, mit denen sich ein Lyrisches Ego aufzupolieren trachtet, das war am eigenen Leibe erfahrenes Grauen, nach 18 Jahren erlebter Kriegsgreuel. Und doch schließt sein berühmtes Sonett "Tränen des Vaterlandes" mit den Versen:

Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vielen abgezwungen.


Was ließe sich dem noch hinzufügen?

Grüße
JB
 

Tula

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Moin James
Nee, du vergisst, dass wir den Krieg durchaus miterleben, nicht im Kreuzfeuer, aber dennoch in Bild, Ton und vor allem durch persönliche Berichte der Betroffenen. Natürlich gibt es die gespielte Entrüstung. Dieser Krieg jedoch ist uns aus verschiedenen Gründen näher als viele andere und die Leute unter uns, die das wirklich kalt lässt, dürften realtiv wenig sein.
Wie weit die Solidarität bei steigenden Preisen und der Zahl der Flüchtlinge im Laufe der Monate wirklich geht, wird sich erst noch zeigen.
So hoffe ich ernsthaft, dass dein Gedicht keinen Versuch einer Verallgemeinerung darstellt.

LG
Tula
 

Mimi

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Zielt Dein Sonett, lieber James Blond, auf die sogenannte 'Betroffenheitslyrik' ab...?

Prinzipiell, ich setze mal voraus, dass wir da gleicher Meinung sind, ist politische Lyrik im Allgemeinen ein wichtiges Instrument, welches dem Autor erlaubt, seine politischen Ansichten und Meinungen poetisch auszudrücken.
Ich glaube, der Titel "vom Rand halten" kann vielleicht etwas falsch interpretiert werden. Das obige Beispiel von Gryphius ist da völlig korrekt und passend.
Denn "den Rand halten" müssen, sollte politische Lyrik hoffentlich niemals...


Leider beobachte ich, nicht nur aktuell, dass die dafür benötigte 'Nüchternheit' bei einigen Autoren gänzlich fehlt.

Gruß
Mimi
 
Die Lage ist sowas von ernst, darüber schreibt man keine pittoresken Sonette
Jedem ist klar, wie ernst die Lage ist. (Am Montag habe ich ernsthaft erwogen, gar nicht mehr zur Arbeit zu gehen, da es ja sein könnte ...du weißt schon.)

Jeder hat eine andere Art, damit umzugehen.

Die einen demonstrieren, die anderen beten für den Frieden. Die einen kümmern sich persönlich um Flüchtlinge, andere spenden. Jeder tut, was er kann.

Genau so schreiben die einen Gedichte über den Krieg und die anderen Gedichte darüber, dass sie Gedichte über den Krieg nicht gut finden. Paradoxerweise finde ich beides gut. (Ich bin halt ein seltsamer Mensch und kann durchaus zwei Meinungen nebeneinander akzeptieren, auch wenn diese konträr sind.)

Aber niemals würde ich sagen, dass man ein Gedicht nicht schreiben darf, weil die Zeiten so furchtbar sind oder die Lage so ernst ist. Im Gegenteil.

LG SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:

James Blond

Mitglied
Ich denke, ich habe in #9 deutlich gemacht, worauf sich dieses Sonett nicht bezieht. Das war eigentlich schon überflüssig, weil ja auch das Sonett, so man es genau liest, dies verdeutlicht. Aber wer liest schon genau, wenn es nur noch darum geht, die richtigen Schlüsselworte für den nachfolgenden Meinungsscan anzubringen?

Jedenfalls ist es kein Sonett gegen Gedichte gegen den Krieg. Es geht auch nicht gegen einen Protest. Es geht auch nicht um vorgespielte Entrüstung. Sondern um was? Findet es selbst heraus.

Grüße
JB
 

James Blond

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prakaduum schrieb:
Ich verstehe deine Intention nicht, warum mußt du unbedingt jetzt Gedichte gegen schlechte Antikriegsgedichte schreiben?
Die Ästhetisierung des Grauens hat Tradition und war stets ambivalent. Man schießt dazu grobkörnige, hart kontrastierte Schwarzweißfotos des Grauens, um sich als schonungslosen Aufrüttler zu verkaufen. Schrecklich schön.
Etwas anderes wäre ein Text, der den Beobachterposten verlässt und die eigene innere Zerstörung offenbart. Den habe ich hier zumindest noch nicht gelesen.
 

petrasmiles

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Ich möchte doch noch ein bisschen 'mitbeleidigen' - das ist ein sehr guter Text, den man tatsächlich auf sich wirken lassen muss.
Er macht irgendwie still.

@Tula
Nee, du vergisst, dass wir den Krieg durchaus miterleben, nicht im Kreuzfeuer, aber dennoch in Bild, Ton und vor allem durch persönliche Berichte der Betroffenen.
Genau das markiert den Unterschied. Nein, wir erleben nicht mit. Wir können uns nicht vorstellen, wie das ist, wenn man kein Zuhause mehr hat, wie man keinen Arzt oder keine Klinik findet, um die Verletzungen zu behandeln. Wo es keine ordentliche Toilette mehr gibt geschweige denn Toilettenpapier, wo aus dem Hahn kein Wasser mehr kommt, geschweige denn warmes Wasser. Man muss es erleben, um zu wissen, dass die zivilisatorische Schicht recht dünn ist - und dass man viel lieber schweigen möchte, wenn man überlebt hat.
Die Bilder, verzeih, sie sind für uns gemacht.

Liebe Grüße
Petra
 

James Blond

Mitglied
Ich sehe es genau wie Petra. Wir mögen uns vielleicht betroffen fühlen, aber wir sind es nicht. Wir sollten schweigen, damit die Betroffenen gehört werden können.

Apropos Betroffenheit:
Über den Rachefeldzug der Ein-Sternchen-Vergabe kann ich sogar lächeln. Wenn doch nur alle unsere Feindseligkeiten so lächerlich harmlos wären! :)

Liebe Grüße
JB
 

Tula

Mitglied
Hallo nochmal
Ich denke, satirische Ansätze ausgenommen, die Kunst der Gedichte über den Krieg (und andere 'schwere Themen) liegt gerade darin, einfühlsam und glaubwürdig ein lyrisches Ich als direkt Betroffenen sprechen zu lassen und nicht den von Betroffenheit geschüttelten 'Zuschauer', also den Außenstehenden. Gilt natürlich nicht als Allgemeinrezept. Ich las jedenfalls schon wirklich gute Antikriegsgedichte, auch zum momentan laufenden.

LG
Tula
 

James Blond

Mitglied
Ich denke, satirische Ansätze ausgenommen, die Kunst der Gedichte über den Krieg (und andere 'schwere Themen) liegt gerade darin, einfühlsam und glaubwürdig ein lyrisches Ich als direkt Betroffenen sprechen zu lassen und nicht den von Betroffenheit geschüttelten 'Zuschauer', also den Außenstehenden. Gilt natürlich nicht als Allgemeinrezept. Ich las jedenfalls schon wirklich gute Antikriegsgedichte, auch zum momentan laufenden.
Ich hätte nichts gegen eine tiefer gehende Auseinandersetzung über den Sinn und Unsinn von Antikriegsgedichten und anderen Betroffenheitspoems, gerne auch im Lupanum. Und mit links zu den wirklich guten Antikriegsgedichten ...

Grüße
JB
 



 
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