Liebe Rachel,
ich finde Bernds Beschreibung für dein Gedicht als "Tarnkappenflugzeug" sehr stimmig. Es schützt sich - in sich - vor dem Radar.
Was sich zunächst wie ein Tatsachenbericht anhört, zerbröckelt an den vorgeschobenen "Wassermassen". Ferienhotel klingt nach Entspannung und Auszeit. Nach heiler Welt, die jedoch geflutet wird. Beobachtend, wie alles einstürzt, sich verschiebt, zieht mich dein Gedicht in seinen Bann.
Aber zunächst kommt man an allem sichtlich vorbei, mit einem Umweg über den "Friedhof".
ich komme ich komme noch
an einem gewaltigen stück plattentektonik vorbei das momentan
wahnsinnig viel wassermassen abtransportiert
Das sind Gänsehautzeilen! Durch die Wiederholung des Nahezu-Entkommens wird es noch deutlicher: Nichts ist aufzuhalten. Es wird mir nachlaufen und mich erfassen, uns erfassen. Die Bedrohung ist zutiefst spürbar.
Alles wankt, nichts ist mehr sicher.
Dann spült mich diese Verszeile weiter:
eine hütte mit holzbalkon für den dritten vierten stock im herbst
Wo bin ich? Im dritten oder vierten Stock eines Herbstes, der mir keine Aussicht lassen wird, sondern nur den Winter ankündigt? Kein Panorama auf dem Balkon, keine Einladung zum Einzug des Friedens. Sondern ein Auszug, der wellenförmig jeden mitnimmt, der von seiner Gestalt, der "Flutwelle" erfasst wird. Nicht gewollt, denn
in die felle fremder gewalt hinaus
ist eine Verszeile, die etwas so deutlich in sich trägt, dass es mich erschaudern lässt.
Was den Einriss, den Mitriss in die Flutwelle verursacht, ist so extrem widersprüchlich. "In die Felle" erinnert an Geborgenheit, vielleicht auch an ein Gegenteil, an einen mit Schafpelz umhangenen Wolf. Nichtsdestotrotz steht beides, ein Unwissen, eine Sehnsucht nach Rettung, nach Halt ebenso wie Verrat und Misstrauen "fremder Gewalt" gegenüber. Wie eine Entfremdung zum Menschsein, wie eine Fremdheit, die uns befällt, wenn wir uns selbst zusehen: Im Krieg.
Was alles raus müsste, aus den Herzen der Menschen, wäre Vergeblichkeit, Gleichgültigkeit und Hass, was in ihnen wieder gedeihen müsste, trotz immenser Schäden, wäre Liebe.
Ich befinde mich natürlich nur in einer Deutung deines Gedichts, das mehr ist als ein ubertas-Orakel.
Liebe Rachel, ich bin gewiss nicht alleine, wenn ich sage, dass dieses Gedicht einzigartig ist.
Liebe Grüße, Anita.