weil in der nähe

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Rachel

Mitglied
weil in der nähe

und direkt am fuß
in der ferne ein ferienhotel
geflutet wird müssen wir einen umweg

über den friedhof machen ich komme ich komme noch
an einem gewaltigen stück plattentektonik vorbei das momentan
wahnsinnig viel wassermassen abtransportiert

die grundmauern weichen die türen schieben uns weg und wir bekommen
eine hütte mit holzbalkon für den dritten vierten stock im herbst
im herbst sollen wir eingezogen sein und jetzt

reißt es uns in der gestalt einer flutwelle
in die felle fremder gewalt hinaus
krieg - alles muss raus?
 
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Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das Gedicht sieht aus, wie ein Tarnkappenflugzeug. Das passt gut zum Thema.
Ob es beabsichtigt ist, weiß ich nicht.
 

Ubertas

Mitglied
Liebe Rachel,
ich finde Bernds Beschreibung für dein Gedicht als "Tarnkappenflugzeug" sehr stimmig. Es schützt sich - in sich - vor dem Radar.
Was sich zunächst wie ein Tatsachenbericht anhört, zerbröckelt an den vorgeschobenen "Wassermassen". Ferienhotel klingt nach Entspannung und Auszeit. Nach heiler Welt, die jedoch geflutet wird. Beobachtend, wie alles einstürzt, sich verschiebt, zieht mich dein Gedicht in seinen Bann.
Aber zunächst kommt man an allem sichtlich vorbei, mit einem Umweg über den "Friedhof".
ich komme ich komme noch
an einem gewaltigen stück plattentektonik vorbei das momentan
wahnsinnig viel wassermassen abtransportiert
Das sind Gänsehautzeilen! Durch die Wiederholung des Nahezu-Entkommens wird es noch deutlicher: Nichts ist aufzuhalten. Es wird mir nachlaufen und mich erfassen, uns erfassen. Die Bedrohung ist zutiefst spürbar.
Alles wankt, nichts ist mehr sicher.
Dann spült mich diese Verszeile weiter:
eine hütte mit holzbalkon für den dritten vierten stock im herbst
Wo bin ich? Im dritten oder vierten Stock eines Herbstes, der mir keine Aussicht lassen wird, sondern nur den Winter ankündigt? Kein Panorama auf dem Balkon, keine Einladung zum Einzug des Friedens. Sondern ein Auszug, der wellenförmig jeden mitnimmt, der von seiner Gestalt, der "Flutwelle" erfasst wird. Nicht gewollt, denn
in die felle fremder gewalt hinaus
ist eine Verszeile, die etwas so deutlich in sich trägt, dass es mich erschaudern lässt.
Was den Einriss, den Mitriss in die Flutwelle verursacht, ist so extrem widersprüchlich. "In die Felle" erinnert an Geborgenheit, vielleicht auch an ein Gegenteil, an einen mit Schafpelz umhangenen Wolf. Nichtsdestotrotz steht beides, ein Unwissen, eine Sehnsucht nach Rettung, nach Halt ebenso wie Verrat und Misstrauen "fremder Gewalt" gegenüber. Wie eine Entfremdung zum Menschsein, wie eine Fremdheit, die uns befällt, wenn wir uns selbst zusehen: Im Krieg.
Was alles raus müsste, aus den Herzen der Menschen, wäre Vergeblichkeit, Gleichgültigkeit und Hass, was in ihnen wieder gedeihen müsste, trotz immenser Schäden, wäre Liebe.
Ich befinde mich natürlich nur in einer Deutung deines Gedichts, das mehr ist als ein ubertas-Orakel.
Liebe Rachel, ich bin gewiss nicht alleine, wenn ich sage, dass dieses Gedicht einzigartig ist.
Liebe Grüße, Anita.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich meinte damit die Draufsicht auf den Text. Das Bild wird durch die Konturen erzeugt. Und es wirkt gut mit dem Text zusammen.
Viele Grüße von Bernd
 

Rachel

Mitglied
Ganz lieben Dank, Bernd und Ubertas! :) Gefällt mir sehr - Tarnkappenflugzeug. :cool: Super!

Obs beabsichtigt war, weiß ich auch nicht. Ereignisse gingen voran, die äußere Form ergab sich nebenher, nicht bewusst.

Das Gedicht ist über Jahre entstanden. Die Hütte mit Holzbalkon war ein Traum mitten in einem herrlichen uralten Baum, ganz real in Thailand, aber allesalles wurde vier Jahre später weggeschwemmt (Tsunami 2004). Nachts kam das Meerwasser bis auf wenige Meter unter den Balkon - die Hölle! Abartig laut. Morgens, Meer weg, paradiesische Ruhe.

Ein paar Meter von hier wurde eine schöne alte Mühle abgerissen und stattdessen ein Seniorenheim klotzig errichtet. Jedes Immobilienzentimeterchen ausgekostet. Seit Monaten ist der Weg gesperrt, also Umweg durch den Friedhof, über die Erinnerungen in die täglichen Nachrichten.

Mensch Meier, Ubertas, du hast mit deinem trefflichen Gespür verstanden mir noch andere Aspekte aufzuzeigen. Sei herzlich bedankt für deine Zeilen und die Zeit, die du dir genommen hast. :)

LG, Rachel
 

sufnus

Mitglied
Hey!
Mir ist der Krieg in der letzten Zeile ein Mü zu unsubtil - wenn er in weiteren ost- und mitteleuropäischen Ländern in nächster kommen sollte, wie vielfach prognostiziert, oder gar in noch größerem Maßstab in Erscheinung tritt, wie allenthalben zu befürchten leider nicht hinreichend auszuschließen ist, dann ist das Gedicht ja schon wieder fast zu zahm. Und wenn er doch nicht noch weiter eskaliert (ich wäre gerne optimistischer als ich es bin), dann könnte man (blöd wie man ist) das als Argument die restlichen Aspekte des Gedichts benutzen.
Aber ich schreib da mal wieder ein dummes Zeugs daher. Es wird mit mir immer schlimmer, denk ich manchmal (in guten Momenten).
Und falls es bis hierhin aus meinem Geschreibsel noch nicht ganz klar ersichtlich wurde: Ich finde dieses Gedicht richtig genial! Ich lese es wieder und wieder und es nutzt sich auch beim x-ten Lesen nicht ab. :)
LG!
S.
 
Zuletzt bearbeitet:

Rachel

Mitglied
Mir ist der Krieg in der letzten Zeile ein Mü zu unsubtil - wenn er in weiteren ost- und mitteleuropäischen Ländern in nächster kommen sollte, wie vielfach prognostiziert, oder gar in noch größerem Maßstab in Erscheinung tritt, wie allenthalben zu befürchten leider nicht hinreichend auszuschließen ist, dann ist das Gedicht ja schon wieder fast zu zahm. Und wenn er doch nicht noch weiter eskaliert (ich wäre gerne optimistischer als ich es bin), dann könnte man (blöd wie man ist) das als Argument die restlichen Aspekte des Gedichts benutzen.
Da ist was dran. Mein Gefühl ist, zahm und subtil war gestern. Subtil klang noch: "Du bist Familie". Wann fing das an? Bis es stereotyp genug war, um auf der Rückseite eine Mauer gegen jede "Nichtfamilie" hochziehen zu können. Kriegsvorbereitungen aller Art, Nationalismen wohin ich sehe, und ich sehe eben leider keinen Hochzeitskorso mehr ohne ne Menge Flaggen am Auto. Das Verrückte ist, der letzte Satz gehört eigentlich nicht zum Gedicht. Der kam so plötzlich und ungeplant, dass ich mich wunder und doch nicht wunder.

ABER SCHÖN, lieber Sufnus, so schön, dass dir das Gedicht gefällt. Das ist voll Dank gesungen!

Du sagst: Aber ich schreib da mal wieder ein dummes Zeugs daher. Ich weiß das zu schätzen und sag: Ja bitte. Dann trau ich mich auch. :)

Grüße!
 
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fee_reloaded

Mitglied
krieg - alles muss raus?
Das Verrückte ist, der letzte Satz gehört eigentlich nicht zum Gedicht. Der kam so plötzlich und ungeplant, dass ich mich wunder und doch nicht wunder.
Gar nicht so verrückt, liebe Rachel,

fasst der letzte Satz doch das Grundgefühl des Gedichts perfekt zusammen. Alles ist Kampf und von allen Seiten wirkt Gewalt ein, vernichtet, verdrängt, beengt Lebensraum, entreißt und hinterlässt neben Unsicherheit auch das Gefühl, dass sich alles und alle gegeneinander richten. Natur gegen Mensch (oder war es immer schon umgekehrt?), Mensch gegen Mensch, Natur gegen Natur (und wir Menschen mittendrin).

Das "alles muss raus", als Frage formuliert, macht es auch nochmal interessant. Da wird etwas - nein: Alles! - entrissen und sogleich dessen Wert in Frage gestellt.
Warum geschieht (mir) das?
Und plötzlich gibt es kein schützendes "Drinnen" oder "innen" mehr. Was macht das mit einem?
Vielleicht auch das: tabula rasa - eine Chance auf Neuanfang, ganz ohne Altlasten.

Das Annehmen eines Unglücks, eines Verlustes steckt da auch mit drin.
Wenn auch noch zögerlich. Aber gerade das macht es sehr spannend für mich!

Sehr gerne gelesen!
Liebe Grüße,
fee
 

Rachel

Mitglied
Ein herzliches Danke für die Empfehlung, lieber Otto. :) Da freue ich mich sehr.

Liebe Fee!

fasst der letzte Satz doch das Grundgefühl des Gedichts perfekt zusammen.
Danke für das Lob! Es gibt mir Vertrauen in Spontanität. Was lass ich vom Stapel? Was nicht? Also warum nicht spontan was Zeitnahes ans Gedicht, weil es Jahr und Tag so vor sich hin dümpelte.

Das Grundgefühl ist diffuse Angst und Bedrohung, und - das wirst du auch spüren - Faszination; innen/außen abschätzen, das hausgemachte, das überflüssige, das aufoktroyierte rasende Ablaufen der Zeit (um den ganzen Scheiß) am Ende möglichst positiv anzugehen.

Vielleicht auch das: tabula rasa - eine Chance auf Neuanfang, ganz ohne Altlasten.
Bestimmt, aber ganz ohne Altlasten, ist das möglich? Beim Schreiben sind Altlasten Stoff. Könnte Tabula rasa vielleicht meinen: "alles muss raus" - ist kein Schlussverkauf - "alles bleibt drin"? :)

Liebe Grüße, Rachel.
 



 
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