Mistralgitter
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Sie war mir völlig unbekannt bis zu dem Zeitpunkt, als ich sie auf Anweisung meiner Mutter einmal am Bodensee besuchte - ein bisschen deswegen, weil ich ihren Nach-Namen interessant fand, doch viel mehr deswegen, weil ich eine gehorsame Tochter war. Man solle Familienbande pflegen, so die Devise meiner Mutter. Also meldete ich mich eines Tages vor über 40 Jahren an und wurde zum Mittagessen eingeladen.
Diese schon sehr alte Tante Erna T. – sie muss fast 90 Jahre alt gewesen sein - wohnte allein in einem kleinen Häuschen mitten in einem verwunschenen Garten. Die Haustür stand offen, von drinnen rief sie mir mit dunkler, resoluter Stimme entgegen, ich solle ruhig hereinkommen. Sie hatte mich wohl kommen sehen. Ich fand sie in der Küche, eine große aufrechte Frau in schwarzem Kleid und weißem Spitzenkragen. Sie hatte eine grau-grüne Schürze umgebunden und stand vor dem Herd. Aus einer geöffneten Konserven-Dose ließ sie eine Pilzmischung in einen Topf hinausschlüpfen.
„Du magst doch Pilze? Das Haltbarkeitsdatum ist zwar abgelaufen, aber ich esse solche Sachen trotzdem immer. Man darf nichts umkommen lassen.“
Tante Erna und ich hatten uns bis dahin noch nie gesehen oder gesprochen, wir wussten also nicht recht, wer wir waren, ob wir Pilze essen oder nicht. Wir wussten nur, dass zwischen uns irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen bestanden. Pilze mochte ich, aber diese so schleimig aussehenden Pilze? In meinen Augen war mit ziemlicher Sicherheit der Tod im Topf. *
„Ja“, antwortete ich trotzdem höflich und tapfer, war mir aber nicht sicher, ob ich diese Dosenpilze unbeschadet essen könnte. Ich fürchtete mich jedenfalls davor und beobachtete mich auf meiner Heimfahrt sorgfältig, ob sich neben einer unbestimmten Übelkeit nicht auch noch andere Vergiftungserscheinungen zeigten. Immerhin wusste ich durch mein Studium um die Gefahr, die z.B. von Bombagen in Konservendosen ausging – hier handelte es sich um eine alte Dose, die sicher deswegen schon mit Gift durchzogen war. Und obendrein handelte es sich um Pilze, die darin ebenso alt geworden waren! In meiner Phantasie sah ich mich schon mit lebensbedrohlichen Symptomen im Krankenhaus liegen oder am Steuer auf der Heimfahrt zusammenbrechen!
Zu meiner Erleichterung geschah nichts dergleichen: ich blieb gesund.
Tante Erna öffnete einen Küchenschrank, nahm zwei Teller heraus und gab sie mir.
„Das sind Ella und Marlies.“ Sie genoss offenbar meine Verwunderung und steigerte sie dadurch, dass sie auf ihre Kaffeekanne zeigte.
„Und die hier heißt Sophie, wie meine Mutter. Und dort unten stehen noch Margarethe und Friedrich und Karl, die Schüsseln.“
Sie lächelte, als sie meinen erstaunten Blick sah.
„Du musst wissen“, erklärte sie. „Ich lebe hier völlig vereinsamt und rede deshalb mit meinen Tassen und Kannen und Tellern. Verrückt, nicht wahr? Aber bevor ich völlig verstumme oder verblöde…“
Heute verstehe ich sie, damals sagte ich nur die Worte „ich verstehe“. Tante Erna T. hatte sich offensichtlich in einer anderen Welt eingerichtet.
Ich deckte den Tisch nebenan im Esszimmer, das sich an die Küche anschloss.
„In der Tischschublade liegt übrigens das Besteck“, rief Tante Erna mir aus der Küche zu.
Es fanden sich für das heutige Empfinden ungewöhnlich große Silbergabeln, -löffel und -messer darin. Solches Besteck kannte ich auch von meinen Großeltern. Ich mochte es.
Tante Erna trug das Essen auf und wir setzten uns. Was es zu den Pilzen dazu gab, hab ich vergessen. Blumenkohl? Kartoffeln? Streich-Mettwurst? Diese Generation von alten Mecklenburgern liebte herzhafte Speisen.
„Schön hast du es hier“, sagte ich anerkennend. „Mitten im Garten zu leben, das gefällt mir. Und jetzt darf ich mit dir tafeln, dein Silberbesteck benutzen, dazu die weiße Tischdecke, die Kerzenleuchter mit Kerze, dem Strauß Gartenblumen - alles sehr stilvoll.“
„Machst du das nie?“, wollte sie wissen. „Ich decke mir jeden Tag den Tisch mit frischen Blumen, einer Kerze und weißer Tischdecke. Das gehört sich so.“
Ich überlegte. „Für mich allein mache ich es nicht, aber wenn Besuch kommt, dann schon“, antwortete ich
Plötzlich flatterten ein Spatz und noch einer und eine Amsel durchs offene Fenster herein. Sie wollten sich frech auf den Tisch setzen. Tante Erna verjagte sie mit ihrer Stoffserviette.
„Heute gibt’s hier nichts“, schalt sie die Vögel. „Heute habe ich schon Besuch. Ihr könnt morgen wiederkommen.“ Sie schloss das Fenster.
Jetzt sah ich auch, dass die Stühle, der Boden und andere Möbelstücke mit Vogelhinterlassenschaften bekleckert waren.
„Sie sind meine Hausgenossen und Freunde. Das waren Fritz, August und Wilhelm. Die leisten mir immer Gesellschaft.“ Eine sonderbare Gesellschaft. Mir wurde leicht übel.
Der Vogeldreck und die schleimigen Pilze – ich wusste, dass ich kaum etwas essen würde, obwohl ich von der langen Anfahrt Hunger hatte.
Wie sie von Mecklenburg hierher an den Bodensee gekommen war und ob ihr Mann mit dem berühmten Goethe-Maler verwandt sei, wollte ich wissen.
„Weitläufig“, antwortete sie, ging aber nicht näher darauf ein. Stattdessen erzählte sie etwas anderes.
„Stell dir vor, eines Tages begegnete ich Adolf Hitler. Und er gab mir einen Handkuss.“
Diese Eröffnung war mir unangenehm – welche Richtung nahm jetzt das Gespräch? Ich schwieg. Keinesfalls wollte ich etwas Verletzendes oder Kritisches sagen – das stand mir bei einem ersten Besuch nicht zu, fand ich. Ich war auch noch so erzogen worden, dass man den Alten nicht widersprechen durfte.
„Ich habe mir dann eine Woche lang die Hand nicht gewaschen.“ Sie lächelte leicht selbstironisch.
„Ich dachte ja damals, dass er etwas für Deutschland tun könnte, und war stolz. Aber das änderte sich zusehends. Was man nicht alles so erlebt in einem langen Dasein…“
„Das mit dem Handkuss stimmt doch gar nicht“, protestierte meine Tochter, der ich gestern von meinem Vorhaben, etwas über Tante Erna zu schreiben, erzählte.
„Das war doch unsere Bekannte, Frau F.H. aus K., die von Hitler den Handkuss bekam.“
Ich bin inzwischen in dem Alter, wo man durchaus etwas verwechseln kann. Auch wäre es natürlich ein entlastender Gedanke, wenn Hitler meiner Tante Erna k e i n e n Handkuss gegeben hätte. Und außerdem: Etwas Kompromittierendes über die eigene Familie schreibt man nicht! Ich lass es trotzdem stehen. Ohne Kommentar.
Ich habe ihre Spur verloren und weiß daher immer noch nicht, wer Erna T. war, noch nicht einmal, wie wir zu einander verwandt sind. In den mir bekannten Stammbäumen fehlt sie. Mir bleiben ein paar dürftige Daten, die ich in den letzten Tagen im Internet fand, und die Frage, warum ich mich ausgerechnet an diese merkwürdigen Begegnungsfetzen erinnere. Und nach wie vor lebe ich mit der Ungewissheit über Dinge, die während der Nazizeit in unserer Familie wichtig oder unwichtig waren. Die noch lebenden „Alten“ erzählen zwar Erlebnisse, aber haben gelernt, über ihre Einstellung zu dem Ganzen zu schweigen.
„Es war eine andere Zeit“, sagte meine Mutter immer.
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* Zitat aus 2.Koenige 4:40
Diese schon sehr alte Tante Erna T. – sie muss fast 90 Jahre alt gewesen sein - wohnte allein in einem kleinen Häuschen mitten in einem verwunschenen Garten. Die Haustür stand offen, von drinnen rief sie mir mit dunkler, resoluter Stimme entgegen, ich solle ruhig hereinkommen. Sie hatte mich wohl kommen sehen. Ich fand sie in der Küche, eine große aufrechte Frau in schwarzem Kleid und weißem Spitzenkragen. Sie hatte eine grau-grüne Schürze umgebunden und stand vor dem Herd. Aus einer geöffneten Konserven-Dose ließ sie eine Pilzmischung in einen Topf hinausschlüpfen.
„Du magst doch Pilze? Das Haltbarkeitsdatum ist zwar abgelaufen, aber ich esse solche Sachen trotzdem immer. Man darf nichts umkommen lassen.“
Tante Erna und ich hatten uns bis dahin noch nie gesehen oder gesprochen, wir wussten also nicht recht, wer wir waren, ob wir Pilze essen oder nicht. Wir wussten nur, dass zwischen uns irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen bestanden. Pilze mochte ich, aber diese so schleimig aussehenden Pilze? In meinen Augen war mit ziemlicher Sicherheit der Tod im Topf. *
„Ja“, antwortete ich trotzdem höflich und tapfer, war mir aber nicht sicher, ob ich diese Dosenpilze unbeschadet essen könnte. Ich fürchtete mich jedenfalls davor und beobachtete mich auf meiner Heimfahrt sorgfältig, ob sich neben einer unbestimmten Übelkeit nicht auch noch andere Vergiftungserscheinungen zeigten. Immerhin wusste ich durch mein Studium um die Gefahr, die z.B. von Bombagen in Konservendosen ausging – hier handelte es sich um eine alte Dose, die sicher deswegen schon mit Gift durchzogen war. Und obendrein handelte es sich um Pilze, die darin ebenso alt geworden waren! In meiner Phantasie sah ich mich schon mit lebensbedrohlichen Symptomen im Krankenhaus liegen oder am Steuer auf der Heimfahrt zusammenbrechen!
Zu meiner Erleichterung geschah nichts dergleichen: ich blieb gesund.
Tante Erna öffnete einen Küchenschrank, nahm zwei Teller heraus und gab sie mir.
„Das sind Ella und Marlies.“ Sie genoss offenbar meine Verwunderung und steigerte sie dadurch, dass sie auf ihre Kaffeekanne zeigte.
„Und die hier heißt Sophie, wie meine Mutter. Und dort unten stehen noch Margarethe und Friedrich und Karl, die Schüsseln.“
Sie lächelte, als sie meinen erstaunten Blick sah.
„Du musst wissen“, erklärte sie. „Ich lebe hier völlig vereinsamt und rede deshalb mit meinen Tassen und Kannen und Tellern. Verrückt, nicht wahr? Aber bevor ich völlig verstumme oder verblöde…“
Heute verstehe ich sie, damals sagte ich nur die Worte „ich verstehe“. Tante Erna T. hatte sich offensichtlich in einer anderen Welt eingerichtet.
Ich deckte den Tisch nebenan im Esszimmer, das sich an die Küche anschloss.
„In der Tischschublade liegt übrigens das Besteck“, rief Tante Erna mir aus der Küche zu.
Es fanden sich für das heutige Empfinden ungewöhnlich große Silbergabeln, -löffel und -messer darin. Solches Besteck kannte ich auch von meinen Großeltern. Ich mochte es.
Tante Erna trug das Essen auf und wir setzten uns. Was es zu den Pilzen dazu gab, hab ich vergessen. Blumenkohl? Kartoffeln? Streich-Mettwurst? Diese Generation von alten Mecklenburgern liebte herzhafte Speisen.
„Schön hast du es hier“, sagte ich anerkennend. „Mitten im Garten zu leben, das gefällt mir. Und jetzt darf ich mit dir tafeln, dein Silberbesteck benutzen, dazu die weiße Tischdecke, die Kerzenleuchter mit Kerze, dem Strauß Gartenblumen - alles sehr stilvoll.“
„Machst du das nie?“, wollte sie wissen. „Ich decke mir jeden Tag den Tisch mit frischen Blumen, einer Kerze und weißer Tischdecke. Das gehört sich so.“
Ich überlegte. „Für mich allein mache ich es nicht, aber wenn Besuch kommt, dann schon“, antwortete ich
Plötzlich flatterten ein Spatz und noch einer und eine Amsel durchs offene Fenster herein. Sie wollten sich frech auf den Tisch setzen. Tante Erna verjagte sie mit ihrer Stoffserviette.
„Heute gibt’s hier nichts“, schalt sie die Vögel. „Heute habe ich schon Besuch. Ihr könnt morgen wiederkommen.“ Sie schloss das Fenster.
Jetzt sah ich auch, dass die Stühle, der Boden und andere Möbelstücke mit Vogelhinterlassenschaften bekleckert waren.
„Sie sind meine Hausgenossen und Freunde. Das waren Fritz, August und Wilhelm. Die leisten mir immer Gesellschaft.“ Eine sonderbare Gesellschaft. Mir wurde leicht übel.
Der Vogeldreck und die schleimigen Pilze – ich wusste, dass ich kaum etwas essen würde, obwohl ich von der langen Anfahrt Hunger hatte.
Wie sie von Mecklenburg hierher an den Bodensee gekommen war und ob ihr Mann mit dem berühmten Goethe-Maler verwandt sei, wollte ich wissen.
„Weitläufig“, antwortete sie, ging aber nicht näher darauf ein. Stattdessen erzählte sie etwas anderes.
„Stell dir vor, eines Tages begegnete ich Adolf Hitler. Und er gab mir einen Handkuss.“
Diese Eröffnung war mir unangenehm – welche Richtung nahm jetzt das Gespräch? Ich schwieg. Keinesfalls wollte ich etwas Verletzendes oder Kritisches sagen – das stand mir bei einem ersten Besuch nicht zu, fand ich. Ich war auch noch so erzogen worden, dass man den Alten nicht widersprechen durfte.
„Ich habe mir dann eine Woche lang die Hand nicht gewaschen.“ Sie lächelte leicht selbstironisch.
„Ich dachte ja damals, dass er etwas für Deutschland tun könnte, und war stolz. Aber das änderte sich zusehends. Was man nicht alles so erlebt in einem langen Dasein…“
„Das mit dem Handkuss stimmt doch gar nicht“, protestierte meine Tochter, der ich gestern von meinem Vorhaben, etwas über Tante Erna zu schreiben, erzählte.
„Das war doch unsere Bekannte, Frau F.H. aus K., die von Hitler den Handkuss bekam.“
Ich bin inzwischen in dem Alter, wo man durchaus etwas verwechseln kann. Auch wäre es natürlich ein entlastender Gedanke, wenn Hitler meiner Tante Erna k e i n e n Handkuss gegeben hätte. Und außerdem: Etwas Kompromittierendes über die eigene Familie schreibt man nicht! Ich lass es trotzdem stehen. Ohne Kommentar.
Ich habe ihre Spur verloren und weiß daher immer noch nicht, wer Erna T. war, noch nicht einmal, wie wir zu einander verwandt sind. In den mir bekannten Stammbäumen fehlt sie. Mir bleiben ein paar dürftige Daten, die ich in den letzten Tagen im Internet fand, und die Frage, warum ich mich ausgerechnet an diese merkwürdigen Begegnungsfetzen erinnere. Und nach wie vor lebe ich mit der Ungewissheit über Dinge, die während der Nazizeit in unserer Familie wichtig oder unwichtig waren. Die noch lebenden „Alten“ erzählen zwar Erlebnisse, aber haben gelernt, über ihre Einstellung zu dem Ganzen zu schweigen.
„Es war eine andere Zeit“, sagte meine Mutter immer.
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* Zitat aus 2.Koenige 4:40