Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand

Willibald

Mitglied
Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand (Anekdote)

Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand.
Anekdote

Als es einmal Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit fertigen solle, erblickte er dort eine „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini.

D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit einiger Aufmerksamkeit über einen gewissen Reinhold Schneider einen Abschnitt, der sich etwa so exzerpieren und verkürzen lässt:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wustsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten. Stefan war weder von dieser Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Zweierlei Frucht trug diese Bibliotheksbegegnung für unseren suchenden Kollegiaten. Zum einen ging ihm eine Zeile nicht aus dem Kopf (“You´re talking to me?“), die er nach einiger Gedächtnisanstrengung in dem Film „Taxidriver“ von Scorsese einzuordnen wusste. Zum anderen waren ihm nun Themenschwerpunkt und Gattung (Filmanalyse) seiner Facharbeit klargeworden, nämlich das Frustrationsmotiv - eben in Scorseses Film „Taxidriver“. Den konnte er eigentlich nur in seinem LK Deutsch behandeln oder im LK Englisch. Da er aber den Leistungskurs Englisch nicht besuchte, war es müßig, in diese Richtung Schritte zu unternehmen.

Nicht lang danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. (1) mächtig Punkte ab, potz Blitz (2), Erdstoß und alle Wetter!

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinem Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem mag er - das mag ein wenig abseitig erscheinen - die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:

"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten: 'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.' 'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!' 'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!' 'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"

Ist das was oder ist das was?

Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 
A

aligaga

Gast
Jaja, die Aneck-Toten!

Dass Pädagogen, die auch nach langen, langen Jahren des zermürbenden Schuldienstes immer noch bibliophiler Luft bedürften, um ihre Butterbrezeln verdauen zu können, scheint kaum glaublich.

Ebensowenig hält‘s @ali, böhs wie er ist, für möglich, dass ein unentschloss’ner Oberstüfler ebensolchen Ambientes bedürfte, um zu seinem Facharbeiter-Thema zu finden. Und er hält es für ausgeschlossen, dass Knaben in ihrer Freizeit den Aufsatz Herrn Professor Martinis „mit einiger Aufmerksamkeit“ hätte verfolgen können, wo dieser einem Schneider (nicht dem Helge, sondern einem anderen) „tiefe und schwermüthige Blicke in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde“ zuschrob – während im Rücken des Schölers die Lehrkörper geräuschvoll an den zu so später Stund‘ längst welk gewordenen Stullenresten mümmelten und, hanebüchene Aufsätze korrigierend, dazu Heißgetränke schlürften.

@Ali glaubt zwar auch an Epiphanien, hat nichts gegen Scorseses „Taxi Driver“ einzuwenden und findet de Niros schauspielerische Leistung groß-artig, aber was Frustrationsmotive sind, lernen die Kleinen doch schon viel früher: an der Mutterbrust, im Kindergottesdienst bei Kain und Abel, oder wenn sie sich beim Kindergeburztag für benachteiligt hielten und deshalb der armen, alten Nachbarskatz‘ einen Knallfrosch an den Schwanz binden mussten.

@Ali erkennt hier einen Spätberuf’nen und sagt: besser später als nie! Allerdings ist er bei systematischen Benotungen chronisch misstrauisch, lernte er doch, dass jene, die den tausendjährigen Muff aus den Talaren schreiben wollten, denkbar schlecht benotet wurden. Das galt aber nicht nur für die Schöler, sondern für die Pädagogen ebengleich. Letzteren saßen und sitzen immer noch die Leerpläne, die Schulräthe und die Elternbeiräthe im G’nack. Hol‘ sie allsamt der Teufel!

Heiter wieder weiter

aligaga
 
A

aligaga

Gast
Jaja, die Aneck-Toten!

Dass Pädagogen[strike][red], die[/red][/strike] auch nach langen, langen Jahren des zermürbenden Schuldienstes immer noch bibliophiler Luft bedürften, um ihre Butterbrezeln verdauen zu können, scheint kaum glaublich.

Ebensowenig hält‘s @ali, böhs wie er ist, für möglich, dass ein unentschloss’ner Oberstüfler ebensolchen Ambientes bedürfte, um zu seinem Facharbeiter-Thema zu finden. Und er hält es für ausgeschlossen, dass Knaben in ihrer Freizeit den Aufsatz Herrn Professor Martinis „mit einiger Aufmerksamkeit“ hätte[red]n[/red] verfolgen können, wo dieser einem Schneider (nicht dem Helge, sondern einem anderen) „tiefe und schwermüthige Blicke in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde“ zuschrob – während im Rücken des Schölers die Lehrkörper geräuschvoll an den zu so später Stund‘ längst welk gewordenen Stullenresten mümmelten und, hanebüchene Aufsätze korrigierend, dazu Heißgetränke schlürften.

@Ali glaubt zwar auch an Epiphanien, hat nichts gegen Scorseses „Taxi Driver“ einzuwenden und findet de Niros schauspielerische Leistung groß-artig, aber was Frustrationsmotive sind, lernen die Kleinen doch schon viel früher: an der Mutterbrust, im Kindergottesdienst bei Kain und Abel, oder wenn sie sich beim Kindergeburztag für benachteiligt hielten und deshalb der armen, alten Nachbarskatz‘ einen Knallfrosch an den Schwanz binden mussten.

@Ali erkennt hier [red]den[/red] Spätberuf’nen und sagt: besser später als nie! Allerdings ist er bei systematischen Benotungen chronisch misstrauisch, lernte er doch, dass jene, die den tausendjährigen Muff aus den Talaren [red]kratzen[/red] wollten, denkbar schlecht benotet wurden. Das galt aber nicht nur für die Schöler, sondern für die Pädagogen ebengleich. Letzteren saßen und sitzen immer noch die Leerpläne, die Schul[red]-[/red] und Elternbeiräthe im G’nack. Hol‘ sie allsamt der Teufel!

Heiter wieder weiter

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand.
Anekdote

Als es einmal Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit fertigen solle, erblickte er dort eine „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini.

D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit einiger Aufmerksamkeit über einen gewissen Reinhold Schneider einen Abschnitt, der sich etwa so exzerpieren und verkürzen lässt:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wustsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten. Stefan war weder von dieser Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Zweierlei Frucht trug diese Bibliotheksbegegnung für unseren suchenden Kollegiaten. Zum einen ging ihm eine Zeile nicht aus dem Kopf (“You´re talking to me?“), die er nach einiger Gedächtnisanstrengung in dem Film „Taxidriver“ von Scorsese einzuordnen wusste. Zum anderen waren ihm nun Themenschwerpunkt und Gattung (Filmanalyse) seiner Facharbeit klargeworden, nämlich das Frustrationsmotiv - eben in Scorseses Film „Taxidriver“. Den konnte er eigentlich nur in seinem LK Deutsch behandeln oder im LK Englisch. Da er aber den Leistungskurs Englisch nicht besuchte, war es müßig, in diese Richtung Schritte zu unternehmen.

Nicht lang danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab, potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinem Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem mag er - das mag ein wenig abseitig erscheinen - die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:

"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten: 'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.' 'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!' 'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!' 'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"

Ist das was oder ist das was?

(3) Fern vom Scherzmodus der vorigen Anmerkung: Aus Maya Angelous Biografie Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt eine bittere Passage mit dem Thema Unstatthafter Gebrauch des Namens "Gott".

Momma und Bailey warteten im Laden auf mich. Er fragte: »Was hat sie dir gegeben, My?« Er hatte die Bücher gesehen, aber die Papiertüte mit den Waffeln hielt ich unter dem Arm versteckt. Momma sagte: »Schwester, ich weiß, dass du dich wie eine kleine Dame betragen hast. Es tut mir im Herzen wohl, dass angesehene Leute sich mit dir beschäftigen. Ich tue weiß Gott, was ich kann, aber heutzutage.« Ihre Stimme wurde laut: »Geh und zieh dich um!« Im Schlafzimmer freute ich mich schon darauf, Bailey die Waffeln zu geben.

Ich sagte: »Übrigens, by the way, Bailey, Mrs Flowers lässt dir ein paar Teeplätzchen schicken.« Momma schrie sofort: »Was hast du da gesagt, Schwester? Du, Schwester, was hast du gesagt?« Wütend stand sie in der Tür. Bailey sagte: »Momma!« Mit seiner beschwichtigenden Stimme: »Momma, sie ...« »Du bist still, Junior. Ich spreche mit deiner Schwester.« Ich wusste nicht, welche heilige Kuh ich geschlachtet hatte, aber besser, ich fände es heraus, statt wie an einem Strick über offenem Feuer zu hängen. Ich wiederholte: »Ich sagte, Bailey, übrigens, by the way, Mrs Flowers lässt ...« »Das glaubte ich auch gehört zu haben. Geh und zieh dein Kleid aus. Ich hole die Rute.« Erst dachte ich, sie mache Spaß. Einen bösen Scherz, der damit enden musste, dass sie sagte: »Und du bist sicher, dass sie mir nichts schicken lässt?« Aber innerhalb einer Minute kam sie mit einer langen klebrigen Pfirsichgerte ins Zimmer zurück, die noch nach bitterem Saft roch, weil sie eben erst abgerissen worden war.

Sie sagte: »Knie dich hin. Bailey junior, du auch!« Wir knieten alle drei nieder, und sie begann: »Vater unser, du kennst die Drangsal deiner demütigen Dienerin. Mit deiner Hilfe habe ich zwei erwachsene Jungen aufgezogen. Oft dachte ich, es geht nicht weiter, aber du gabst mir die Kraft, meinen Weg klar zu erkennen. Jetzt, Herr, sieh herab auf mein schwermütiges Herz. Ich versuche, die Kinder meines Sohnes auf den rechten Weg zu führen, aber o Herr, der Teufel fällt mir in die Hand. Nie habe ich geglaubt, dass ich im Leben unter meinem Dach Flüche hören müsste, denn ich halte es rein, zur Ehre Gottes. Und nun Flüche aus dem Mund unmündiger Kinder! Es ist, wie du gesagt hast über die letzten Tage: Bruder wird gegen Bruder aufstehn, die Kinder gegen die Eltern. Und da wird sein Heulen und Zähneklappern. Vater, vergib diesem Kind, auf Knien bitte ich dich!« Ich weinte jetzt laut.

Mommas Stimme hatte schreiend den Höhepunkt erreicht, was immer ich Schlechtes getan hatte, es musste sehr ernst sein. Sie hatte sogar den Laden unbeaufsichtigt gelassen, um meine Sache mit Gott ins Reine zu bringen. Als sie verstummte, weinten wir alle. Sie zerrte mich mit der Hand zu sich und schlug mich nur wenige Male mit der Gerte. Der Schock über meine Sünde und seine Entladung im Gebet hatten sie erschöpft. Momma sprach nicht mit uns. Erst am Abend fand ich heraus, dass mein Verbrechen in der Wendung by the way lag. Momma erklärte: »Jesus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Jemand, der sagt »by the way«, sagte damit in Wirklichkeit »bei Jesus« oder »bei Gott«, und Gottes Name durfte in Mommas Haus nicht grundlos ausgesprochen werden. Bailey versuchte ihr die Worte zu erklären: »Die Weißen sagen by the way und meinen: übrigens, weil wir gerade beim Thema sind.« Momma machte uns darauf aufmerksam, dass Weiße ganz allgemein ein loses Maul haben und dass ihre Worte dem Herrn ein Gräuel sind.

Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. Frankfurt: Suhrkamp 2018
Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 

Willibald

Mitglied
Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand.
Anekdote

Als es einmal Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit fertigen solle, erblickte er dort eine „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini.

D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit einiger Aufmerksamkeit über einen gewissen Reinhold Schneider einen Abschnitt, der sich etwa so exzerpieren und verkürzen lässt:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wustsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten. Stefan war weder von dieser Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Zweierlei Frucht trug diese Bibliotheksbegegnung für unseren suchenden Kollegiaten. Zum einen ging ihm eine Zeile nicht aus dem Kopf (“You´re talking to me?“), die er nach einiger Gedächtnisanstrengung in dem Film „Taxidriver“ von Scorsese einzuordnen wusste. Zum anderen waren ihm nun Themenschwerpunkt und Gattung (Filmanalyse) seiner Facharbeit klargeworden, nämlich das Frustrationsmotiv - eben in Scorseses Film „Taxidriver“. Den konnte er eigentlich nur in seinem LK Deutsch behandeln oder im LK Englisch. Da er aber den Leistungskurs Englisch nicht besuchte, war es müßig, in diese Richtung Schritte zu unternehmen.

Nicht lang danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab, potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinem Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem mag er - das mag ein wenig abseitig erscheinen - die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:

"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten: 'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.' 'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!' 'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!' 'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"

Ist das was oder ist das was?

(3) Fern vom Scherzmodus der vorigen Anmerkung: Aus Maya Angelous Biografie Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt eine bittere Passage mit dem Thema Unstatthafter Gebrauch des Namens "Gott".

Momma und Bailey warteten im Laden auf mich. Er fragte: »Was hat sie dir gegeben, My?« Er hatte die Bücher gesehen, aber die Papiertüte mit den Waffeln hielt ich unter dem Arm versteckt. Momma sagte: »Schwester, ich weiß, dass du dich wie eine kleine Dame betragen hast. Es tut mir im Herzen wohl, dass angesehene Leute sich mit dir beschäftigen. Ich tue weiß Gott, was ich kann, aber heutzutage.« Ihre Stimme wurde laut: »Geh und zieh dich um!« Im Schlafzimmer freute ich mich schon darauf, Bailey die Waffeln zu geben.

Ich sagte: »Übrigens, by the way, Bailey, Mrs Flowers lässt dir ein paar Teeplätzchen schicken.« Momma schrie sofort: »Was hast du da gesagt, Schwester? Du, Schwester, was hast du gesagt?« Wütend stand sie in der Tür. Bailey sagte: »Momma!« Mit seiner beschwichtigenden Stimme: »Momma, sie ...« »Du bist still, Junior. Ich spreche mit deiner Schwester.« Ich wusste nicht, welche heilige Kuh ich geschlachtet hatte, aber besser, ich fände es heraus, statt wie an einem Strick über offenem Feuer zu hängen. Ich wiederholte: »Ich sagte, Bailey, übrigens, by the way, Mrs Flowers lässt ...« »Das glaubte ich auch gehört zu haben. Geh und zieh dein Kleid aus. Ich hole die Rute.« Erst dachte ich, sie mache Spaß. Einen bösen Scherz, der damit enden musste, dass sie sagte: »Und du bist sicher, dass sie mir nichts schicken lässt?« Aber innerhalb einer Minute kam sie mit einer langen klebrigen Pfirsichgerte ins Zimmer zurück, die noch nach bitterem Saft roch, weil sie eben erst abgerissen worden war.

Sie sagte: »Knie dich hin. Bailey junior, du auch!« Wir knieten alle drei nieder, und sie begann: »Vater unser, du kennst die Drangsal deiner demütigen Dienerin. Mit deiner Hilfe habe ich zwei erwachsene Jungen aufgezogen. Oft dachte ich, es geht nicht weiter, aber du gabst mir die Kraft, meinen Weg klar zu erkennen. Jetzt, Herr, sieh herab auf mein schwermütiges Herz. Ich versuche, die Kinder meines Sohnes auf den rechten Weg zu führen, aber o Herr, der Teufel fällt mir in die Hand. Nie habe ich geglaubt, dass ich im Leben unter meinem Dach Flüche hören müsste, denn ich halte es rein, zur Ehre Gottes. Und nun Flüche aus dem Mund unmündiger Kinder! Es ist, wie du gesagt hast über die letzten Tage: Bruder wird gegen Bruder aufstehn, die Kinder gegen die Eltern. Und da wird sein Heulen und Zähneklappern. Vater, vergib diesem Kind, auf Knien bitte ich dich!« Ich weinte jetzt laut.

Mommas Stimme hatte schreiend den Höhepunkt erreicht, was immer ich Schlechtes getan hatte, es musste sehr ernst sein. Sie hatte sogar den Laden unbeaufsichtigt gelassen, um meine Sache mit Gott ins Reine zu bringen. Als sie verstummte, weinten wir alle. Sie zerrte mich mit der Hand zu sich und schlug mich nur wenige Male mit der Gerte. Der Schock über meine Sünde und seine Entladung im Gebet hatten sie erschöpft. Momma sprach nicht mit uns. Erst am Abend fand ich heraus, dass mein Verbrechen in der Wendung by the way lag. Momma erklärte: »Jesus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Jemand, der sagt »by the way«, sagte damit in Wirklichkeit »bei Jesus« oder »bei Gott«, und Gottes Name durfte in Mommas Haus nicht grundlos ausgesprochen werden. Bailey versuchte ihr die Worte zu erklären: »Die Weißen sagen by the way und meinen: übrigens, weil wir gerade beim Thema sind.« Momma machte uns darauf aufmerksam, dass Weiße ganz allgemein ein loses Maul haben und dass ihre Worte dem Herrn ein Gräuel sind.

Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. Frankfurt: Berlin 2018
Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 

Willibald

Mitglied
Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand.
Anekdote

Als es einmal Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit fertigen solle, erblickte er dort eine „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini.

D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit einiger Aufmerksamkeit über einen gewissen Reinhold Schneider einen Abschnitt:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wustsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten. Stefan war weder von dieser Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Zweierlei Frucht trug diese Bibliotheksbegegnung für unseren suchenden Kollegiaten. Zum einen ging ihm eine Zeile nicht aus dem Kopf (“You´re talking to me?“), die er nach einiger Gedächtnisanstrengung in dem Film „Taxidriver“ von Scorsese einzuordnen wusste. Zum anderen waren ihm nun Themenschwerpunkt und Gattung (Filmanalyse) seiner Facharbeit klargeworden, nämlich das Frustrationsmotiv - eben in Scorseses Film „Taxidriver“. Den konnte er eigentlich nur in seinem LK Deutsch behandeln oder im LK Englisch. Da er aber den Leistungskurs Englisch nicht besuchte, war es müßig, in diese Richtung Schritte zu unternehmen.

Nicht lang danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab, potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinem Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem mag er - das mag ein wenig abseitig erscheinen - die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:

"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten: 'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.' 'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!' 'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!' 'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"

Ist das was oder ist das was?

(3) Fern vom Scherzmodus der vorigen Anmerkung: Aus Maya Angelous Biografie Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt eine bittere Passage mit dem Thema Unstatthafter Gebrauch des Namens "Gott".

Momma und Bailey warteten im Laden auf mich. Er fragte: »Was hat sie dir gegeben, My?« Er hatte die Bücher gesehen, aber die Papiertüte mit den Waffeln hielt ich unter dem Arm versteckt. Momma sagte: »Schwester, ich weiß, dass du dich wie eine kleine Dame betragen hast. Es tut mir im Herzen wohl, dass angesehene Leute sich mit dir beschäftigen. Ich tue weiß Gott, was ich kann, aber heutzutage.« Ihre Stimme wurde laut: »Geh und zieh dich um!« Im Schlafzimmer freute ich mich schon darauf, Bailey die Waffeln zu geben.

Ich sagte: »Übrigens, by the way, Bailey, Mrs Flowers lässt dir ein paar Teeplätzchen schicken.« Momma schrie sofort: »Was hast du da gesagt, Schwester? Du, Schwester, was hast du gesagt?« Wütend stand sie in der Tür. Bailey sagte: »Momma!« Mit seiner beschwichtigenden Stimme: »Momma, sie ...« »Du bist still, Junior. Ich spreche mit deiner Schwester.« Ich wusste nicht, welche heilige Kuh ich geschlachtet hatte, aber besser, ich fände es heraus, statt wie an einem Strick über offenem Feuer zu hängen. Ich wiederholte: »Ich sagte, Bailey, übrigens, by the way, Mrs Flowers lässt ...« »Das glaubte ich auch gehört zu haben. Geh und zieh dein Kleid aus. Ich hole die Rute.« Erst dachte ich, sie mache Spaß. Einen bösen Scherz, der damit enden musste, dass sie sagte: »Und du bist sicher, dass sie mir nichts schicken lässt?« Aber innerhalb einer Minute kam sie mit einer langen klebrigen Pfirsichgerte ins Zimmer zurück, die noch nach bitterem Saft roch, weil sie eben erst abgerissen worden war.

Sie sagte: »Knie dich hin. Bailey junior, du auch!« Wir knieten alle drei nieder, und sie begann: »Vater unser, du kennst die Drangsal deiner demütigen Dienerin. Mit deiner Hilfe habe ich zwei erwachsene Jungen aufgezogen. Oft dachte ich, es geht nicht weiter, aber du gabst mir die Kraft, meinen Weg klar zu erkennen. Jetzt, Herr, sieh herab auf mein schwermütiges Herz. Ich versuche, die Kinder meines Sohnes auf den rechten Weg zu führen, aber o Herr, der Teufel fällt mir in die Hand. Nie habe ich geglaubt, dass ich im Leben unter meinem Dach Flüche hören müsste, denn ich halte es rein, zur Ehre Gottes. Und nun Flüche aus dem Mund unmündiger Kinder! Es ist, wie du gesagt hast über die letzten Tage: Bruder wird gegen Bruder aufstehn, die Kinder gegen die Eltern. Und da wird sein Heulen und Zähneklappern. Vater, vergib diesem Kind, auf Knien bitte ich dich!« Ich weinte jetzt laut.

Mommas Stimme hatte schreiend den Höhepunkt erreicht, was immer ich Schlechtes getan hatte, es musste sehr ernst sein. Sie hatte sogar den Laden unbeaufsichtigt gelassen, um meine Sache mit Gott ins Reine zu bringen. Als sie verstummte, weinten wir alle. Sie zerrte mich mit der Hand zu sich und schlug mich nur wenige Male mit der Gerte. Der Schock über meine Sünde und seine Entladung im Gebet hatten sie erschöpft. Momma sprach nicht mit uns. Erst am Abend fand ich heraus, dass mein Verbrechen in der Wendung by the way lag. Momma erklärte: »Jesus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Jemand, der sagt »by the way«, sagte damit in Wirklichkeit »bei Jesus« oder »bei Gott«, und Gottes Name durfte in Mommas Haus nicht grundlos ausgesprochen werden. Bailey versuchte ihr die Worte zu erklären: »Die Weißen sagen by the way und meinen: übrigens, weil wir gerade beim Thema sind.« Momma machte uns darauf aufmerksam, dass Weiße ganz allgemein ein loses Maul haben und dass ihre Worte dem Herrn ein Gräuel sind.

Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. Frankfurt: Berlin 2018
Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 

Willibald

Mitglied
Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand.
Anekdote

Als es einmal Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit fertigen solle, erblickte er dort eine „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini.

D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit abnehmender Aufmerksamkeit und zunehmender Frustration einen Abschnitt über einen gewissen Reinhold Schneider:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wustsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten. Stefan war weder von dieser Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Zweierlei Frucht trug diese Bibliotheksbegegnung für unseren suchenden Kollegiaten. Zum einen ging ihm eine Zeile nicht aus dem Kopf (“You´re talking to me?“), die er nach einiger Gedächtnisanstrengung in dem Film „Taxidriver“ von Scorsese einzuordnen wusste. Zum anderen waren ihm nun Themenschwerpunkt und Gattung (Filmanalyse) seiner Facharbeit klargeworden, nämlich das Frustrationsmotiv - eben in Scorseses Film „Taxidriver“. Den konnte er eigentlich nur in seinem LK Deutsch behandeln oder im LK Englisch. Da er aber den Leistungskurs Englisch nicht besuchte, war es müßig, in diese Richtung Schritte zu unternehmen.

Nicht lang danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab, potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinem Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem mag er - das mag ein wenig abseitig erscheinen - die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:

"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten: 'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.' 'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!' 'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!' 'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"

Ist das was oder ist das was?

(3) Fern vom Scherzmodus der vorigen Anmerkung: Aus Maya Angelous Biografie Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt eine bittere Passage mit dem Thema Unstatthafter Gebrauch des Namens "Gott".

Momma und Bailey warteten im Laden auf mich. Er fragte: »Was hat sie dir gegeben, My?« Er hatte die Bücher gesehen, aber die Papiertüte mit den Waffeln hielt ich unter dem Arm versteckt. Momma sagte: »Schwester, ich weiß, dass du dich wie eine kleine Dame betragen hast. Es tut mir im Herzen wohl, dass angesehene Leute sich mit dir beschäftigen. Ich tue weiß Gott, was ich kann, aber heutzutage.« Ihre Stimme wurde laut: »Geh und zieh dich um!« Im Schlafzimmer freute ich mich schon darauf, Bailey die Waffeln zu geben.

Ich sagte: »Übrigens, by the way, Bailey, Mrs Flowers lässt dir ein paar Teeplätzchen schicken.« Momma schrie sofort: »Was hast du da gesagt, Schwester? Du, Schwester, was hast du gesagt?« Wütend stand sie in der Tür. Bailey sagte: »Momma!« Mit seiner beschwichtigenden Stimme: »Momma, sie ...« »Du bist still, Junior. Ich spreche mit deiner Schwester.« Ich wusste nicht, welche heilige Kuh ich geschlachtet hatte, aber besser, ich fände es heraus, statt wie an einem Strick über offenem Feuer zu hängen. Ich wiederholte: »Ich sagte, Bailey, übrigens, by the way, Mrs Flowers lässt ...« »Das glaubte ich auch gehört zu haben. Geh und zieh dein Kleid aus. Ich hole die Rute.« Erst dachte ich, sie mache Spaß. Einen bösen Scherz, der damit enden musste, dass sie sagte: »Und du bist sicher, dass sie mir nichts schicken lässt?« Aber innerhalb einer Minute kam sie mit einer langen klebrigen Pfirsichgerte ins Zimmer zurück, die noch nach bitterem Saft roch, weil sie eben erst abgerissen worden war.

Sie sagte: »Knie dich hin. Bailey junior, du auch!« Wir knieten alle drei nieder, und sie begann: »Vater unser, du kennst die Drangsal deiner demütigen Dienerin. Mit deiner Hilfe habe ich zwei erwachsene Jungen aufgezogen. Oft dachte ich, es geht nicht weiter, aber du gabst mir die Kraft, meinen Weg klar zu erkennen. Jetzt, Herr, sieh herab auf mein schwermütiges Herz. Ich versuche, die Kinder meines Sohnes auf den rechten Weg zu führen, aber o Herr, der Teufel fällt mir in die Hand. Nie habe ich geglaubt, dass ich im Leben unter meinem Dach Flüche hören müsste, denn ich halte es rein, zur Ehre Gottes. Und nun Flüche aus dem Mund unmündiger Kinder! Es ist, wie du gesagt hast über die letzten Tage: Bruder wird gegen Bruder aufstehn, die Kinder gegen die Eltern. Und da wird sein Heulen und Zähneklappern. Vater, vergib diesem Kind, auf Knien bitte ich dich!« Ich weinte jetzt laut.

Mommas Stimme hatte schreiend den Höhepunkt erreicht, was immer ich Schlechtes getan hatte, es musste sehr ernst sein. Sie hatte sogar den Laden unbeaufsichtigt gelassen, um meine Sache mit Gott ins Reine zu bringen. Als sie verstummte, weinten wir alle. Sie zerrte mich mit der Hand zu sich und schlug mich nur wenige Male mit der Gerte. Der Schock über meine Sünde und seine Entladung im Gebet hatten sie erschöpft. Momma sprach nicht mit uns. Erst am Abend fand ich heraus, dass mein Verbrechen in der Wendung by the way lag. Momma erklärte: »Jesus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Jemand, der sagt »by the way«, sagte damit in Wirklichkeit »bei Jesus« oder »bei Gott«, und Gottes Name durfte in Mommas Haus nicht grundlos ausgesprochen werden. Bailey versuchte ihr die Worte zu erklären: »Die Weißen sagen by the way und meinen: übrigens, weil wir gerade beim Thema sind.« Momma machte uns darauf aufmerksam, dass Weiße ganz allgemein ein loses Maul haben und dass ihre Worte dem Herrn ein Gräuel sind.

Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. Frankfurt: Berlin 2018
Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 

Willibald

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Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand.
Anekdote

Als es einmal Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit fertigen solle, fand er sich vor dem Regal "Germanistik" wieder. Unschlüssig, welchen Band er näher betrachten könnte, erblickte er eine „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini. Nun, ein Überblick, was es so gab, mochte ganz nützlich sein. D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit abnehmender Aufmerksamkeit und zunehmender Frustration einen Abschnitt über einen gewissen Reinhold Schneider:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wurstsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten. Stefan war weder von dieser Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Zweierlei Frucht trug diese Bibliotheksbegegnung für unseren suchenden Kollegiaten. Zum einen ging ihm eine Zeile nicht aus dem Kopf (“You´re talking to me?“), die er nach einiger Gedächtnisanstrengung in dem Film „Taxidriver“ von Scorsese einzuordnen wusste. Zum anderen waren ihm nun Themenschwerpunkt und Gattung (Filmanalyse) seiner Facharbeit klargeworden, nämlich das Frustrationsmotiv - eben in Scorseses Film „Taxidriver“. Den konnte er eigentlich nur in seinem LK Deutsch behandeln oder im LK Englisch. Da er aber den Leistungskurs Englisch nicht besuchte, war es müßig, in diese Richtung Schritte zu unternehmen.

Nicht lang danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab, potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinem Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem mag er - das mag ein wenig abseitig erscheinen - die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:

"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten: 'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.' 'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!' 'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!' 'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"

Ist das was oder ist das was?

(3) Fern vom Scherzmodus der vorigen Anmerkung: Aus Maya Angelous Biografie Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt eine bittere Passage mit dem Thema Unstatthafter Gebrauch des Namens "Gott".

Momma und Bailey warteten im Laden auf mich. Er fragte: »Was hat sie dir gegeben, My?« Er hatte die Bücher gesehen, aber die Papiertüte mit den Waffeln hielt ich unter dem Arm versteckt. Momma sagte: »Schwester, ich weiß, dass du dich wie eine kleine Dame betragen hast. Es tut mir im Herzen wohl, dass angesehene Leute sich mit dir beschäftigen. Ich tue weiß Gott, was ich kann, aber heutzutage.« Ihre Stimme wurde laut: »Geh und zieh dich um!« Im Schlafzimmer freute ich mich schon darauf, Bailey die Waffeln zu geben.

Ich sagte: »Übrigens, by the way, Bailey, Mrs Flowers lässt dir ein paar Teeplätzchen schicken.« Momma schrie sofort: »Was hast du da gesagt, Schwester? Du, Schwester, was hast du gesagt?« Wütend stand sie in der Tür. Bailey sagte: »Momma!« Mit seiner beschwichtigenden Stimme: »Momma, sie ...« »Du bist still, Junior. Ich spreche mit deiner Schwester.« Ich wusste nicht, welche heilige Kuh ich geschlachtet hatte, aber besser, ich fände es heraus, statt wie an einem Strick über offenem Feuer zu hängen. Ich wiederholte: »Ich sagte, Bailey, übrigens, by the way, Mrs Flowers lässt ...« »Das glaubte ich auch gehört zu haben. Geh und zieh dein Kleid aus. Ich hole die Rute.« Erst dachte ich, sie mache Spaß. Einen bösen Scherz, der damit enden musste, dass sie sagte: »Und du bist sicher, dass sie mir nichts schicken lässt?« Aber innerhalb einer Minute kam sie mit einer langen klebrigen Pfirsichgerte ins Zimmer zurück, die noch nach bitterem Saft roch, weil sie eben erst abgerissen worden war.

Sie sagte: »Knie dich hin. Bailey junior, du auch!« Wir knieten alle drei nieder, und sie begann: »Vater unser, du kennst die Drangsal deiner demütigen Dienerin. Mit deiner Hilfe habe ich zwei erwachsene Jungen aufgezogen. Oft dachte ich, es geht nicht weiter, aber du gabst mir die Kraft, meinen Weg klar zu erkennen. Jetzt, Herr, sieh herab auf mein schwermütiges Herz. Ich versuche, die Kinder meines Sohnes auf den rechten Weg zu führen, aber o Herr, der Teufel fällt mir in die Hand. Nie habe ich geglaubt, dass ich im Leben unter meinem Dach Flüche hören müsste, denn ich halte es rein, zur Ehre Gottes. Und nun Flüche aus dem Mund unmündiger Kinder! Es ist, wie du gesagt hast über die letzten Tage: Bruder wird gegen Bruder aufstehn, die Kinder gegen die Eltern. Und da wird sein Heulen und Zähneklappern. Vater, vergib diesem Kind, auf Knien bitte ich dich!« Ich weinte jetzt laut.

Mommas Stimme hatte schreiend den Höhepunkt erreicht, was immer ich Schlechtes getan hatte, es musste sehr ernst sein. Sie hatte sogar den Laden unbeaufsichtigt gelassen, um meine Sache mit Gott ins Reine zu bringen. Als sie verstummte, weinten wir alle. Sie zerrte mich mit der Hand zu sich und schlug mich nur wenige Male mit der Gerte. Der Schock über meine Sünde und seine Entladung im Gebet hatten sie erschöpft. Momma sprach nicht mit uns. Erst am Abend fand ich heraus, dass mein Verbrechen in der Wendung by the way lag. Momma erklärte: »Jesus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Jemand, der sagt »by the way«, sagte damit in Wirklichkeit »bei Jesus« oder »bei Gott«, und Gottes Name durfte in Mommas Haus nicht grundlos ausgesprochen werden. Bailey versuchte ihr die Worte zu erklären: »Die Weißen sagen by the way und meinen: übrigens, weil wir gerade beim Thema sind.« Momma machte uns darauf aufmerksam, dass Weiße ganz allgemein ein loses Maul haben und dass ihre Worte dem Herrn ein Gräuel sind.

Maya Angelou: Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. Frankfurt: Berlin 2018
Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 

Willibald

Mitglied
Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand.
Anekdote

Als es einmal Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit fertigen könnte, schweifte sein Blick in dem etwas muffig riechenden Raum umher und fasste wie von ungefähr das gut gefüllte Regal "Germanistik".

Unschlüssig, welchen Band er näher betrachten sollte, griff er nach einem schmalen Band. Es war die „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini. Nun, ein Überblick, was es so gab, mochte ganz nützlich sein? D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit abnehmender Aufmerksamkeit und zunehmender Frustration einen Abschnitt über einen gewissen Reinhold Schneider:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wurstsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten von nebenan im Lehrerzimmer. Stefan war weder von der Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Nicht lange danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab - potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!

*​

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinen Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem mag er - das mag ein wenig abseitig erscheinen - die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:

"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten: 'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.' 'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!' 'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!' 'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"

Ist das was oder ist das was?

Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 

Willibald

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Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand.
Anekdote

Als es einmal Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit fertigen könnte, schweifte sein Blick in dem etwas muffig riechenden Raum umher und fasste wie von ungefähr das gut gefüllte Regal "Germanistik".

Unschlüssig, welchen Band er näher betrachten sollte, griff er nach einem schmalen Band. Es war die „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini. Nun, ein Überblick, was es so gab, mochte ganz nützlich sein? D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit abnehmender Aufmerksamkeit und zunehmender Frustration einen Abschnitt über einen gewissen Reinhold Schneider:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wurstsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten von nebenan im Lehrerzimmer. Stefan war weder von der Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Nicht lange danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab - potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!

*​

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinen Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem mag er - das mag ein wenig abseitig erscheinen - die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

Auch erzählt Stephan D. gern diese Anekdote, unter anderem dem wissenschaftlich und poetisch interessierten Aligaga. Als ein Beispiel für das Unwägbare, dafür, wie das Vertrauen in nicht letztgültig durchdachtes Agieren oft mittels des hilfreichen Zufalls und spontaner Prozesse eine Entwicklung anstößt, die gar nicht zu verachten ist. Wir suchen uns gern, so meint D., im Rückblick die Illusion verschaffen, Erfolge dank nachträglich erstellter Narrative zu "verstehen".

Nun, diese Anekdote, ein andersgeartetes Narrativ, lässt uns dagegen Entitäten oder Faktoren oder Dispositionen wertschätzen, deren Auftreten unvorhersehbar und unprognostizierbar ist. "Rationalitäts"-Verherrlichung - so D. - setzt die Abwesenheit von Zufälligkeit oder aber eine vereinfachte Zufallsstruktur unserer Welt voraus. Und natürlich kommen darin keine Interaktionen mit der Welt vor, wie sie etwa in dem Bibliotheksraum möglich waren und stattgefunden haben. "Unmöglich", sagt Aligaga.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:

"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten: 'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.' 'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!' 'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!' 'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"

Ist das was oder ist das was?

Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 

Willibald

Mitglied
Willibald setzt hier, Allerwertester, eine erläuternde Ergänzung, die einem humoristisch und rhetorisch und intellektuell gefinkelten
Sprachspieler, wie es Aligaga auch ist, vielleicht gefallen mag:

Stefan unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinen Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem mag er - das mag ein wenig abseitig erscheinen - die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en. So weit, so bekannt.

Allerdings erzählt(e) Stephan D. gern diese Anekdote, unter anderem dem wissenschaftlich und poetisch interessierten Aligaga. Als ein Beispiel für das Unwägbare, dafür, wie das Vertrauen in nicht letztgültig durchdachtes Agieren oft mittels des hilfreichen Zufalls und spontaner Prozesse eine Entwicklung anstößt, die gar nicht zu verachten ist. Wir suchen uns gern, so meint D., im Rückblick die Illusion verschaffen, Erfolge dank nachträglich erstellter Narrative zu "verstehen".

Nun, diese Anekdote, ein andersgeartetes Narrativ, lässt uns dagegen Entitäten oder Faktoren oder Dispositionen wertschätzen, deren Auftreten unvorhersehbar und unprognostizierbar ist. "Rationalitäts"-Verherrlichung - so D. - setzt die Abwesenheit von Zufälligkeit oder aber eine vereinfachte Zufallsstruktur unserer Welt voraus. Und natürlich kommen darin keine Interaktionen mit der Welt vor, wie sie etwa in dem Bibliotheksraum möglich waren und stattgefunden haben.

"Unmöglich", sagt(e) Aligaga.

greetse

ww
 
A

aligaga

Gast
Vor allem glaubt @ali nicht, es göb einen "Roman" oder eine "Literatur des 20ten Jahrhunderts", über die man in einer schlecht gelüfteten, von der schwäbischen Kultusbürokratie eingerichteten Hausbibliothek so viel erführe, dass man Sehnsucht verspürte, sich daran fachlich abzuarbeiten.

@Ali hätte, böhs wie er auch schon im 20ten Jahrhundert war, in dem schmalen Bändchen eines Theoretikers, der darin den Schriftgestellen des 20ten Jahrhunderts mitsamt dessen Kaiserzeiten, zwei Weltkriegen, den Revolutionen, dem Holocaust, den Atombomben, der Mondlandung und der Befreiung der Frauen nur ein Kapitelchen zu widmen imstande gewesen war, bestenphalls einen Comic gesehen, über den man sich hätte lustig machen können.

Er hätte bestimmt erst die Gelegenheit und dann einen der Pädagogen beim Schopf gepackt und von ihm wissen wollen, ob er wirklich glaube, was Professor Martini da schröbe. Oder ob er es nur weisungsgemäß glauben müsse. Er habe, hätte er gesagt, den Eindruck, an dieser Schule würde die Muttersprache nicht gepflegt, sondern verwaltet, und es würde nicht angepflanzt, sondern immer nur beschnitten. Er sähe hier keine Wipfel ruh'n, sondern nur Bonsai-Kulturen, in denen die Vogerln nicht schwiegen, sondern schon lange tot von den Zweigen hingen.

Ob man über sowas eine Facharbeit schreiben dürfte, die einem die Deutschnote nicht völlig verhagelte, hätte er von dem Pädagogen wissen wollen.

"Eher nicht", hätte der Pädagoge mit vollem Munde zur Antwort gegeben, und ihm ein halbes Wurstbrot angeboten. @Ali hätte es angenommen, sich die Facharbeit später aber trotzdem, wie üblich, so leicht wie nur möglich gemacht. Non scholae, sed vitae discimus!

Giggelnd

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Ächzala.
Eben deswegen schreibt der Stefan ja keine Facharbeit über deutsche Literatur, sondern über das, was für ihn spannend ist: Aggression und Frustration im "Taxidriver".
Wohlgemut.
ww
 
A

aligaga

Gast
Warum auch nicht? Dass hinter oder zwischen den (recht plakativen) Bildern des besagten Films Frustration und Aggression zu erkennen wären, bestreitet ja niemand. Die sehen und hören sogar Taubblinde.

Aber was hätte derlei movement, das doch schon jedem kleinen IS-Halsabschneider innewohnt, mit dem "Roman des 20ten Jahrhunderts" und dem zu thun, was ein bräsiger Prof dazu in sein schmales Bändchen zu schreiben weiß?

@Ali glaubt, gar nichts. Schillers "Horen" wären ohne sponsorship gar nicht erst erschienen, und schon im zweiten Jahr ihres Daseins ging ihnen, wie vom Herausgeber befürchtet, die Luft aus. Übrigens - @alis Patentwunderkind bekam damals für seine Antworten auf die dummen Fragen 14 Punkte ...

amüsiert

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Seltsame Sach, das, lieber Ali. Das hat gar nichts mit Martini zu tun. Dieser wackere junge Mann hat eben sich ein Thema gewählt, bei dem er keine verstaubte Sekundärliteratur zu bedenken braucht.

Ansonsten saust der ali komischerweise immer wieder im Kreise rum. Dabei schafft er es bestechend wirbelig, überlegenswerte "fremde" Argumente zu ignorieren.
.
Puh. Ein Dauerreflex mit Reflexionssperre. Und Stagnation wegen Dauerimmunisierung gegen abweichende Meinungen.

War das, was du hier einst über die Horen gepostet hast, das gloriose Fazit? Einer Facharbeit? Wenn ja: Hat sich die Elfe so ein dröges Thema aufhalsen lassen?
Jessas.

Abendliche Grüße.

ww
 
A

aligaga

Gast
Das mit den "Horen" war keine Facharbeit, Sir @Willibald, sondern - @ali schrobs seinerzeit doch klar und deutlich - schlichte Antwort auf naive Fragen aus der zeitgenössischen Bonsai-Gartenlaube an ein wild wachsendes Heideröslein.

Doch zurück zur Text-Arebeit!

Du hast uns hier mit einer kurzen Prosa regaliert, in deren erster Fassung ein Schöler sich auf der Suche nach Sinn in eine Höhle begab, woselbst Altkluges sich präpotent in Stellagen und auf Imbissstühlen räkelte. Statt entsetzt zu flieh'n oder sofort den Kampf gegen die dort schlummernden Drachen aufzunehmen, ging der Knab' erst mal ins Kino, um sodann aber nicht taff (und hüftsteif wie der dort gezeigte Droschkenfahrer) mit Wehr und Waff' zurückzukehren, sondern nur, um im Chor der toten Dichter mitzusingen und mitzusagen.

Für @ali scheint, böhs wie er ist, die Literatur aller Jahrhunderte nicht wie ein Totenmaar, in dem sich nichts mehr rührte, sondern wie ein Fluss, der reißt und mitreißen will, dessen wilder Verlauf sich stets die allerkürzesten Wege sucht. Wer diesem Fluss nicht folgen kann, wird zum Altwasser, einem trägen Rest, der des Zusammenhanges mit der Vorflut verlustig geht und am End' bibliophil vertrocknet.

Die ständig tagende Kultusministerkonferenz kommt @ali für wie ein Elefantenfriedhof, in dem der Kustos (er heißt Grütters und ist grad eine Frau) nicht reformiert oder gar revolutioniert, sondern restauriert.

So war's aber schon immer, Liebster. Die echte, wahre Literatur hat sich von keinen Zeiten aufhalten lassen. Selbst wenn man sie verbrannte, kam sie zurück und trieb aufs neue aus - aber nicht drinnen in den Betsälen oder drunten in den Urnengrüften, sondern draußen auf der Straße und an den Gebäuden: Avenidas!

Heiter um Verständnis buhlend

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Ach, du seltsamster aller Hermeneuten. Was hat denn die Elfensache und ihre vorgestanzten Fragen damit zu tun, dass es in der Anekdote um eine eher lässig schlendernde Suche nach einem - Hä? -
Thema geht, das dem Schöler Stephan Spass macht?

Irgendwie schaffen es zentrale Teile eines Dialoges immer wieder, unterhalb deiner Wahrnehmungsschwelle durch den space zu rauschen. Allenfalls mit seltsamen selbstgebackenen Apercüs oder wie man das schreibt bekrümelt. Die Krümel entwickeln dann Strahlkraft, vor allem in der Wahrnehmung Seiner Unvergleichlichkeit.

Um das nächste Invitabile von vielen möglichen vorwegzunehmen: Ja, das Frustrations/Aggressionsmotiv ist schon Babies und Kleinkindergartenkindern bekannt. Es ist trotzdem spannend von allerlei Literaten und Filmern betextet worden. Aligaga kennt gewiss nicht nur von Hörensagen Schüttelspeer und seinen schwarzblütig-cholerischen Othello. Und so eine Tragödie zu analysieren, kann tatsächlich Spaß machen. Wenn man vorher jemand findet, mit dem man Thesen entwickeln kann, weil der sich befristet in fremde Perspektiven einfühlen kann, dann ist das nochmal beseeeligender.

Langmütig und Serendipity aestimierend:

ww
 
A

aligaga

Gast
Ach, du seltsamster aller Hermeneuten. Was hat denn die Elfensache und ihre vorgestanzten Fragen damit zu tun, dass es in der Anekdote um eine eher lässig schlendernde Suche nach einem - Hä? -
Thema geht, das dem Schöler Stephan Spass macht?
Das behauptet der Autor, geliebter Willibald.

Leser, die so böhs sind wie @ali, glauben das erst, wenn ihnen erklärt wird, wieso. Die würden gern dahinterkommen, wie einem Schöler Spass machen könnte, vor den Augen einer vespernden Leererschaft in deren Bibliothek nach einem Facharbeiterthema zu kramen wie nach dem gestrigen Tag.

Sorry, aber das hält @ali für too much. Warum geht der Kleine denn nicht gleich ins Kino? Zusammen mit einem Heideröslein, das ihm danach erklärt, wie Facharbeit muss ...

Heiter immer weiter

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Neben vielen anderen Antworten, Allerwertester, erst einmal diese:

Bei einer Facharbeit oder jetzt W-Seminar-Arbeit in einem sprachlichen Fach muss man irgendwann auch Sekundärliteratur lesen. Das ist eine Norm. Und das sollte man - wenn überhaupt - möglichst spät tun. Weil selbst gute Sekundärliteratur oft eigenes Denken und Schreiben erstickt.

Gleichwohl kann es nicht schaden, sich vorläufig und leicht geistesabwesend und schlendernd-ambulant in heiligen Hallen mit Wurstbroten einmal umzusehen. Die Lehrer wollen ja sowas und sie wollen ihre Wurstsemmel (ali: "Gerade waren es noch Wurstbrote, geschätzter Error @ Willibald.") lieber allein unter Lehrern essen.

Das ist erstens die Schule, die dem Leben und seinen Revierokraten gleicht. Das ist zweitens so widersprüchlich wie frustrierend wie - Resilienz der Stefantypen - stimulierend zu Eigenleistungen und Zündfunk im hellen Kopfe.

Zur serenen Aufhellung zwischendurch hier ein Schölergedicht des jungen Gernhardt, in dem er den von ihm hoch geschätzten Lateinlehrer Otto Kampe panegyrisch anging:

Auf den Lateinlehrer Otto Kampe

Er ist wie Crassus sehr gerissen
und so beredt wie Cicero.
Wie Maecen ist er kunstbeflissen,
ein Wüstenfuchs wie Scipio.

Lukullus gleicht er als Genießer
am immer wohlgefüllten Tisch,
und gleich Ovid, dem Feind der Spießer,
so ist auch er kein kleiner Fisch.

Wie Tacitus ist er Erzähler.
Wie Seneca sucht er das Wahre.
Er hat wie Cato keine Fehler
und so wie Caesar keine Haare.

Gernhardt, Robert (2006): Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006. Frankfurt: Fischer Klassik (S.11).
Muss nicht so sein, aber - trotz deiner Scholerfahrungen - vielleicht ist das , Carissime, die poetische Resonanz auf einen "alten" Philologen ("alt" im Sinne von "vertraut" und "verlässlich" und "kundig" und "penibel"und "seren").
.....

philologisch-anthropophile-philanthropische (nicht anthroposophische) Grüße an unseren Radikalhermeneuten und seine vorhersehbare Reaktion:

"So ist es nun mal, ich kann mir nichts anderes vorstellen. Und wer anderes meint ... Da kann man doch ganz klar nur fragen und sagen: Cui bono? Jedenfalls nicht für die Wahrheit.
Also schweige und bedenke, immer noch sehr geschätzter @ willibald, was ich schrob."

p.s.
Diese deine Aktionen erinnern sehr an einen anderen Lehrer. Er agiert in einem Film namens "Der Vorname". Und zieht bei aller Intelligenz ziemlich viel Komik auf sich. Ali: Das ist ein Hochschullehrer, geschätzter @willibald.

p.p.s.
Wenn Du mal irgendeine verschlüsselte Mail-Adresse von dir herausrückst, schicke ich dir zum knappsten Reingucken ein bis zwei echte Facharbeiten/W-Seminar-Arbeiten von Schölern zu Filmen. Eines fernen Tages treffen wir uns dann mit unsren Anbetern und gucken eine Film-DVD an? Und diskurieren ein bisserl darüber?

p.p.s.

"DVD, DVD-Abend, ja spinnst Du. Sowas mach ich nicht, will i ch nicht, werde ich nicht, so war ich ali heiße."

greetse

ww
 
A

aligaga

Gast
Bei einer Facharbeit oder jetzt W-Seminr-Arbeit in einem sprachlichen Fach muss man irgendwann auch Sekundärliteratur lesen. Das ist eine Norm. Und das sollte man - wenn überhaupt - möglichst spät tun. Weil selbst gute Sekundärliteratur oft eigenes Denken und Schreiben erstickt.
Das mag ja alles sein, o geliebter @Willibald.

Aber was bringt dich auf die Idee, Sekundärliteratur Martinischen oder Schneiderschen Zuschnitts, i. e. eine Review all der langweiligen Romane des 20sten Jahrhunderts, beflügelten eo ipso ein zeitgenössisches Kurzprosastückerl? @Ali ist eher so, als ob sie's erstickten.

Er malt sich aus, wieviel besser es dem Stückerl tät, kehrte der kleine Streber anderentags zurück, brächte die 44er Magnum des Droschkenfahres mit und schöss' (natürlich!) nicht auf den Direktor der Anstalt, wohl aber zwischen den immer noch jausenden Lehrkörpern hindurch blind ins Wandregal und ließ' den Zufallsgenerator den Titel wählen.

Allein das wär' wohl schon eine Zehn* und es hätte was, findest du nicht auch?

@Ali erinnert sich, wie verhasst nicht nur ihm jene Schöler waren, die nach Unterrichtsende vor dem Lehrerpult antichambrierten und so genannte "Verständnisfragen" stellten ...*würg*...

Amüsant

aligaga

*Achtung, Metapher!
 



 
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