[align=right]Anekdote
Einem Mann war die Frau verstorben.
Nach fast einem Jahr glaubte er,
einer Verwechslung aufsitzend,
sie auf der Straße wiederzusehen, fiel vor freudigem Schreck um und starb.
Schon am nächsten Tag klärte sich das Missverständnis.
Eckhard Henscheid: Kleine Poesien. Zürich: Haffmanns 1992; S.8[/align]
Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand.
Anekdote
Als es einmal Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit fertigen könnte, schweifte sein Blick in dem etwas muffig riechenden Raum umher und fasste wie von ungefähr das gut gefüllte Regal "Germanistik".
Unschlüssig, welchen Band er näher betrachten sollte, griff er nach einem schmalen Band. Es war die „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini. Nun, ein Überblick, was es so gab, mochte ganz nützlich sein? D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit abnehmender Aufmerksamkeit und zunehmender Frustration einen Abschnitt über einen gewissen Reinhold Schneider:
Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.
Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wurstsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten von nebenan im Lehrerzimmer. Stefan war weder von der Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.
Zweierlei Frucht trug diese Bibliotheksbegegnung für unseren suchenden Kollegiaten. Zum einen tauchte in seinem Bewusstsein plötzlich eine Zeile auf (“You´re talking to me?“), die er nach einiger Gedächtnisanstrengung in dem Film „Taxidriver“ von Scorsese einzuordnen wusste. Ein Film, der ihn so beeindruckt hatte, dass er ihn dreimal auf einer Videokassette ansah. Zum anderen waren ihm nun ganz ohne besonderes Zutun Themenschwerpunkt und Gattung (Filmanalyse) seiner Facharbeit klar geworden, nämlich das Frustrationsmotiv - eben in Scorseses Film „Taxidriver“. Den konnte er eigentlich nur in seinem LK Deutsch behandeln oder im LK Englisch. Da er aber den Leistungskurs Englisch nicht besuchte, war es müßig, in diese Richtung Schritte zu unternehmen.
Nicht lange danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.
Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab - potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!
*
Anmerkungen:
(1) Stefan D.
Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinen Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem mag er - das mag ein wenig abseitig erscheinen - die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.
Auch erzählt Stephan D. gern diese Anekdote, unter anderem dem wissenschaftlich und poetisch interessierten Aligaga. Als ein Beispiel für das Unwägbare, dafür, wie das Vertrauen in nicht letztgültig durchdachtes Agieren oft mittels des hilfreichen Zufalls und spontaner Prozesse eine Entwicklung anstößt, die gar nicht zu verachten ist. Wir suchen uns gern, so meint D., im Rückblick die Illusion verschaffen, Erfolge dank nachträglich erstellter Narrative zu "verstehen".
Nun, diese Anekdote, ein andersgeartetes Narrativ, lässt uns dagegen Entitäten oder Faktoren oder Dispositionen wertschätzen, deren Auftreten unvorhersehbar und unprognostizierbar ist. "Rationalitäts"-Verherrlichung - so D. - setzt die Abwesenheit von Zufälligkeit oder aber eine vereinfachte Zufallsstruktur unserer Welt voraus. Und natürlich kommen darin keine Interaktionen mit der Welt vor, wie sie etwa in dem Bibliotheksraum möglich waren und stattgefunden haben.
"Unmöglich", sagt Aligaga.
(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:
In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot:
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".
In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:
"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten: 'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.' 'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!' 'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!' 'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"
Ist das was oder ist das was?
(3) Serendipity
In recht schwierigen Dialogversuchen mit aligaga verwies D. auf das Phänomen der Serendipität: „In der Endphase des Bibliothekaufenthaltes und beim Auftauchen des Taxidriver-Satzes sah ich etwas, das für einen Moment durch eine Dunkelheit aus Wolken bricht und glitzert und schimmert, es hält eine Art Tageslicht im Kopf aufrecht und füllt dich mit einer stetigen und langdauernden Gelassenheit.
Später - im Studium - begegnete mir ein interessanter Begriff: Serendipity. Serendipity lässt sich formelhaft definieren als Quotient. Sein Dividend ist die Anzahl (halbwegs) brauchbarer Dokumente bei einer Suche a. Sein Divisor ist die Anzahl der für die Suche a nicht relevanten Dokumente.
Beispiele für solche eher zufällige Funde sind etwa: Amerikas Entdeckung, Röntgenstrahlen, Sekundenkleber, Benzolring, Klettverschluss, Teflon, Nylonstrümpfe, Weißwurst. Natürlich gilt bei aller Vagheit solcher Fundgeschichte doch, dass der Zufall nur einem vorbereiteten, sensiblem Geist Erfolge beschert. Das sollte man auch in der Schule als Schüler beherzigen.“
Aligaga: "Ja, eben!"
Additum und Bonustrack:
https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)
https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)