Wie Stefan einst sein Facharbeitsthema fand

Willibald

Mitglied
Aus dem Archiv der Anekdoten: 1​


Wir kennen den oft überfrachteten narrativen Habitus des Erzählers bei Thomas Mann, die scheinbar beiläufig ausgestellte gelehrte Quellenkenntnis, den archaisierenden Sprach-Sound, nicht selten mit deutlichem ironischen Unterton. Und die daraus resultierende Freude beim Lesen. Der Autor schafft eine Art von "pseudowissenschaftlich-humoristischer Fundamentlegung", lässt seinen Erzähler in die Rolle des Forschers schlüpfen und eine Zeitreise unternehmen. Warum also nicht einen Mönch wie Adson von Melk als Erzähler installieren, der Feder oder Kiel oder Pinsel oder Federkiel im 14. Jahrhundert über das Pergament führt?
Umberto Eco

Popular culture is that part of a culture system
which encompasses the everyday life of most people in a given society.
Humor is but one expression of the intangible yet somehow very real entity we call culture.
Humor in popular culture is a gateway to understanding the culture-at-large,
because it so infiltrates the population’s daily lives.
It provides a commentary on cultural values, concerns, and events.
Ben Urish: “Humor in Popular Culture.” In: A Companion to Popular Culture , edited by Gary Burns. Chichester: Wiley-Blackwell 2006, S. 304.

Auf meinem Schreibtisch steht ´ne Lampe, die hat ´nen schweren Marmorfuß.
Willibald W.


Als es einmal den Schüler Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit am besten fertige, schweifte sein Blick in dem etwas muffig riechenden Raum umher und fasste wie von ungefähr das gut gefüllte Regal "Germanistik".

Unschlüssig, welchen Band er näher betrachten sollte, griff er nach einem schmalen Buch. Es war die „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini. Nun, ein Überblick, was es so gab, mochte ganz nützlich sein? D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit abnehmender Aufmerksamkeit und zunehmender Frustration einen Abschnitt über einen gewissen Reinhold Schneider:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig, aber doppeldeutig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wurstsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten von nebenan im Lehrerzimmer. Stefan war weder von der Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Zweierlei Frucht trug diese Bibliotheksbegegnung für unseren suchenden Kollegiaten. Zum einen tauchte in seinem Bewusstsein plötzlich eine Zeile auf (“You´re talking to me?“), die er nach einiger Gedächtnisanstrengung in dem Film „Taxidriver“ von Scorsese einzuordnen wusste. Ein Film, der ihn so beeindruckte, dass er ihn vor kurzem zum dritten Mal auf einer Videokassette angesehen hatte. Zum anderen war nun ganz ohne besonderes Zutun ein noch zu präzisierender Zugang gefunden: Themenschwerpunkt sollte "Frustration" und "Aggression" sein, die Gattung seiner Facharbeit eine Filmanalyse, zentraler Text Scorseses Film „Taxidriver“. Den konnte er eigentlich nur in seinem LK Deutsch behandeln oder im LK Englisch. Da er aber den Leistungskurs Englisch nicht besuchte, war es müßig, in diese Richtung Schritte zu unternehmen.

Nicht lange danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab - potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!

***​

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinem Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem führt er im Ethikunterricht der Oberstufe - das mag ein wenig abseitig erscheinen - anspruchsvoll und erfolgreich Diskurse über die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

Auch erzählt er gern diese Anekdote. Als ein Beispiel, wie das Vertrauen in nicht letztgültig durchdachtes Agieren oft mittels des hilfreichen Zufalls und spontaner Prozesse eine Entwicklung anstößt, die gar nicht zu verachten ist. Wir suchen uns gern, so meint D., im Rückblick die Illusion zu verschaffen, Erfolge dank nachträglich erstellter Narrative zu verstehen. Nun, diese Anekdote, ein andersgeartetes Narrativ, lässt uns dagegen Entitäten oder Faktoren oder Dispositionen wertschätzen, deren Auftreten unvorhersehbar und unprognostizierbar ist. "Rationalität"-Verherrlichung setzt die Abwesenheit von Zufälligkeit oder aber eine vereinfachte Zufallsstruktur unserer Welt voraus. Und natürlich kommen darin keine Interaktionen mit der Welt vor, wie sie etwa in dem Bibliotheksraum möglich waren und stattgefunden haben.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.« 2. Buch Moses 20 Vers 7. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:
"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten:
'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.'
'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!'
'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!'
'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"
Ist das was oder ist das was?


(3) Serendipity

In recht schwierigen Dialogversuchen mit aligaga verwies D. auf das Phänomen der Serendipität: „In der Endphase des Bibliothekaufenthaltes und beim Auftauchen des Taxidriver-Satzes sah ich etwas, das für einen Moment durch eine Dunkelheit aus Wolken bricht und glitzert und schimmert, es hält eine Art Tageslicht im Kopf aufrecht und füllt dich mit einer stetigen und langdauernden Gelassenheit.

Später - im Studium - begegnete mir ein interessanter Begriff: Serendipity. Serendipity lässt sich formelhaft definieren als Quotient. Sein Dividend ist die Anzahl (halbwegs) brauchbarer Dokumente bei einer Suche a. Sein Divisor ist die Anzahl der für die Suche a nicht relevanten Dokumente.

Beispiele für solche eher zufällige Funde sind etwa: Amerikas Entdeckung, Röntgenstrahlen, Sekundenkleber, Benzolring, Klettverschluss, Teflon, Nylonstrümpfe, Weißwurst. Natürlich gilt bei aller Vagheit solcher Fundgeschichte doch, dass der Zufall nur einem vorbereiteten, sensiblem Geist Erfolge beschert. Das sollte man auch in der Schule als Schüler beherzigen.“

Aligaga: "Ja, eben!"


Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 

Willibald

Mitglied
Aus dem Archiv der Anekdoten: 1​


Wir kennen den oft überfrachteten narrativen Habitus des Erzählers bei Thomas Mann, die scheinbar beiläufig ausgestellte gelehrte Quellenkenntnis, den archaisierenden Sprach-Sound, nicht selten mit deutlichem ironischen Unterton. Und die daraus resultierende Freude beim Lesen. Der Autor schafft eine Art von "pseudowissenschaftlich-humoristischer Fundamentlegung", lässt seinen Erzähler in die Rolle des Forschers schlüpfen und eine Zeitreise unternehmen. Warum also nicht einen Mönch wie Adson von Melk als Erzähler installieren, der Feder oder Kiel oder Pinsel oder Federkiel im 14. Jahrhundert über das Pergament führt?
Umberto Eco

Popular culture is that part of a culture system
which encompasses the everyday life of most people in a given society.
Humor is but one expression of the intangible yet somehow very real entity we call culture.
Humor in popular culture is a gateway to understanding the culture-at-large,
because it so infiltrates the population’s daily lives.
It provides a commentary on cultural values, concerns, and events.
Ben Urish: “Humor in Popular Culture.” In: A Companion to Popular Culture , edited by Gary Burns. Chichester: Wiley-Blackwell 2006, S. 304.

Auf meinem Schreibtisch steht ´ne Lampe, die hat ´nen schweren Marmorfuß.
Willibald W.


Als es einmal den Schüler Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit am besten fertige, schweifte sein Blick in dem etwas muffig riechenden Raum umher und fasste wie von ungefähr das gut gefüllte Regal "Germanistik".

Unschlüssig, welchen Band er näher betrachten sollte, griff er nach einem schmalen Buch. Es war die „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini. Nun, ein Überblick, was es so gab, mochte ganz nützlich sein? D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit abnehmender Aufmerksamkeit und zunehmender Frustration einen Abschnitt über einen gewissen Reinhold Schneider:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig, aber doppeldeutig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wurstsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten von nebenan im Lehrerzimmer. Stefan war weder von der Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Zweierlei Frucht trug diese Bibliotheksbegegnung für unseren suchenden Kollegiaten. Zum einen tauchte in seinem Bewusstsein plötzlich eine Zeile auf (“You´re talking to me?“), die er nach einiger Gedächtnisanstrengung in dem Film „Taxidriver“ von Scorsese einzuordnen wusste. Ein Film, der ihn so beeindruckte, dass er ihn vor kurzem zum dritten Mal auf einer Videokassette angesehen hatte. Zum anderen war nun ganz ohne besonderes Zutun ein noch zu präzisierender Zugang gefunden: Themenschwerpunkt sollte "Frustration" und "Aggression" sein, die Gattung seiner Facharbeit eine Filmanalyse, zentraler Text Scorseses Film „Taxidriver“. Den konnte er eigentlich nur in seinem LK Deutsch behandeln oder im LK Englisch. Da er aber den Leistungskurs Englisch nicht besuchte, war es müßig, in diese Richtung Schritte zu unternehmen.

Nicht lange danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab - potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!

***​

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinem Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem führt er im Ethikunterricht der Oberstufe - das mag ein wenig abseitig erscheinen - anspruchsvoll und erfolgreich Diskurse über die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

Auch erzählt er gern diese Anekdote. Als ein Beispiel, wie das Vertrauen in nicht letztgültig durchdachtes Agieren oft mittels des hilfreichen Zufalls und spontaner Prozesse eine Entwicklung anstößt, die gar nicht zu verachten ist. Wir suchen uns gern, so meint D., im Rückblick die Illusion zu verschaffen, Erfolge dank nachträglich erstellter Narrative zu verstehen. Nun, diese Anekdote, ein andersgeartetes Narrativ, lässt uns dagegen Entitäten oder Faktoren oder Dispositionen wertschätzen, deren Auftreten unvorhersehbar und unprognostizierbar ist. "Rationalität"-Verherrlichung setzt die Abwesenheit von Zufälligkeit oder aber eine vereinfachte Zufallsstruktur unserer Welt voraus. Und natürlich kommen darin keine Interaktionen mit der Welt vor, wie sie etwa in dem Bibliotheksraum möglich waren und stattgefunden haben.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.« 2. Buch Moses 20 Vers 7. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:
"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten:
'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.'
'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!'
'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!'
'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"
Ist das was oder ist das was?


(3) Serendipity

In recht schwierigen Dialogversuchen mit aligaga verwies D. auf das Phänomen der Serendipität: „In der Endphase des Bibliothekaufenthaltes und beim Auftauchen des Taxidriver-Satzes sah ich etwas, das für einen Moment durch eine Dunkelheit aus Wolken bricht und glitzert und schimmert, es hält eine Art Tageslicht im Kopf aufrecht und füllt dich mit einer stetigen und langdauernden Gelassenheit.

Später - im Studium - begegnete mir ein interessanter Begriff: Serendipity. Serendipity lässt sich formelhaft definieren als Quotient. Sein Dividend ist die Anzahl (halbwegs) brauchbarer Dokumente bei einer Suche a. Sein Divisor ist die Anzahl der für die Suche a nicht relevanten Dokumente.

Beispiele für solche eher zufällige Funde sind etwa: Amerikas Entdeckung, Röntgenstrahlen, Sekundenkleber, Benzolring, Klettverschluss, Teflon, Nylonstrümpfe, Weißwurst. Natürlich gilt bei aller Vagheit solcher Fundgeschichte doch, dass der Zufall nur einem vorbereiteten, sensiblem Geist Erfolge beschert. Das sollte man auch in der Schule als Schüler beherzigen.“

Aligaga: "Ja, eben!"


Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 

Willibald

Mitglied
Aus dem Archiv der Anekdoten: 1​


Wir kennen den oft überfrachteten narrativen Habitus des Erzählers bei Thomas Mann, die scheinbar beiläufig ausgestellte gelehrte Quellenkenntnis, den archaisierenden Sprach-Sound, nicht selten mit deutlichem ironischen Unterton. Und die daraus resultierende Freude beim Lesen. Der Autor schafft eine Art von "pseudowissenschaftlich-humoristischer Fundamentlegung", lässt seinen Erzähler in die Rolle des Forschers schlüpfen und eine Zeitreise unternehmen. Warum also nicht einen Mönch wie Adson von Melk als Erzähler installieren, der Feder oder Kiel oder Pinsel oder Federkiel im 14. Jahrhundert über das Pergament führt?
Umberto Eco

Popular culture is that part of a culture system
which encompasses the everyday life of most people in a given society.
Humor is but one expression of the intangible yet somehow very real entity we call culture.
Humor in popular culture is a gateway to understanding the culture-at-large,
because it so infiltrates the population’s daily lives.
It provides a commentary on cultural values, concerns, and events.
Ben Urish: “Humor in Popular Culture.” In: A Companion to Popular Culture , edited by Gary Burns. Chichester: Wiley-Blackwell 2006, S. 304.

Auf meinem Schreibtisch steht ´ne Lampe, die hat ´nen schweren Marmorfuß.
Willibald W.


*​

Als es einmal den Schüler Stefan D. um die Jahrtausendwende in die wenig einladende Bibliothek im ersten Stocke seines Gymnasiums in Gersthofen verschlagen hatte, weil er noch nicht recht wusste, was für ein Thema ihn interessieren könne und in welchem LK er seine Facharbeit am besten fertige, schweifte sein Blick in dem etwas muffig riechenden Raum umher und fasste wie von ungefähr das gut gefüllte Regal "Germanistik".

Unschlüssig, welchen Band er näher betrachten sollte, griff er nach einem schmalen Buch. Es war die „Geschichte der deutschen Literatur“ des Professors Fritz Martini. Nun, ein Überblick, was es so gab, mochte ganz nützlich sein? D. schlug wahllos einige Seiten auf, fand das Kapitel „Roman des 20. Jahrhunderts“ und las mit abnehmender Aufmerksamkeit und zunehmender Frustration einen Abschnitt über einen gewissen Reinhold Schneider:

Ein beachtlicher Vertreter der Roman-Gattung ist auch Reinhold Schneider. Er lebte von 1903 bis 1958 und bewegte sich lange zwischen geschichtlichem Essay und dichterischer Prosa. Es entstanden dabei die Werke »Die Leiden des Camoes« (1930), »Die Hohenzollern« (1933), »Das Inselreich« (1936) und »Macht und Gnade« (1940). Dieser Schneider sah tief und schwermütig in das Dunkel des Seins, in die Verknüpfungen von Macht und Sünde; aber in diesem Manne lebte zugleich auch das Wissen um eine göttliche Barmherzigkeit und gläubige Verantwortung (»Las Casas vor Karl V.«, 1938). Sein christliches Bewusstsein führte ihn in die politische Opposition. Es sprach aus seinen Sonetten um Gott im Gericht der Zeit (»Die letzten Tage« und »Die neuen Türme«, 1946). Aber der gläubige Schriftsteller wusste auch um die Hilfe aus »verborgen glaubensreichem Sinn«. Daneben trat die Stimme der humanen, vom Ethos der Aufklärung getragenen Vernunft.

Dann betrat ein Lehrer den Bibliotheksraum und machte sich im Kindler-Literatur-Lexikon kundig, nicht ohne den Kollegiaten etwas unwillig, aber doppeldeutig zu fragen, was er hier suche. Denn eigentlich kamen fast nur Lehrer hierher. Vor allem um in Ruhe vor dem Nachhauseweg zu arbeiten. Aber auch, um in bibliophiler Umgebung eine Butterbreze oder eine Wurstsemmel zu genießen. Nicht selten auch ein Heißgetränk aus dem etwas störanfälligen Kaffeeautomaten von nebenan im Lehrerzimmer. Stefan war weder von der Rede des Lehrers noch von dem Buche des Professors angetan.

Zweierlei Frucht trug diese Bibliotheksbegegnung für unseren suchenden Kollegiaten. Zum einen tauchte in seinem Bewusstsein plötzlich eine Zeile auf (“You´re talking to me?“), die er nach einiger Gedächtnisanstrengung in dem Film „Taxidriver“ von Scorsese einzuordnen wusste. Ein Film, der ihn so beeindruckte, dass er ihn vor kurzem zum dritten Mal auf einer Videokassette angesehen hatte. Zum anderen war nun ganz ohne besonderes Zutun ein noch zu präzisierender Zugang gefunden: Themenschwerpunkt sollte "Frustration" und "Aggression" sein, die Gattung seiner Facharbeit eine Filmanalyse, zentraler Text Scorseses Film „Taxidriver“. Den konnte er eigentlich nur in seinem LK Deutsch behandeln oder im LK Englisch. Da er aber den Leistungskurs Englisch nicht besuchte, war es müßig, in diese Richtung Schritte zu unternehmen.

Nicht lange danach träumte dem Stefan D. von einer kleinen Ente namens Travis, der es schlechter erging als dem "hässlichen Entlein" in der Geschichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen.

Mit seiner Facharbeit aber räumte D. mächtig Punkte ab - potz Blitz, Erdstoß und alle Wetter!

***​

Anmerkungen:

(1) Er - Stefan - unterrichtet jetzt an einem Gymnasium in der Nähe von München und empfindet seinem Beruf durchaus als stupendes Faszinosum. Außerdem führt er im Ethikunterricht der Oberstufe - das mag ein wenig abseitig erscheinen - anspruchsvoll und erfolgreich Diskurse über die logischen Ansprüche von Gottesbeweisen (Anselm von Canterbury, Kurt Gödel, Thomas von Aquin, Pascal) und deren oft recht maue und angreifbare Struktur, die etwa David Hume oder Immanuel Kant oder John Leslie Mackie oder Richard Dawkins aufzuzeigen versuch(t)en.

Auch erzählt er gern diese Anekdote. Als ein Beispiel, wie das Vertrauen in nicht letztgültig durchdachtes Agieren oft mittels des hilfreichen Zufalls und spontaner Prozesse eine Entwicklung anstößt, die gar nicht zu verachten ist. Wir suchen uns gern, so meint D., im Rückblick die Illusion zu verschaffen, Erfolge dank nachträglich erstellter Narrative zu verstehen. Nun, diese Anekdote, ein andersgeartetes Narrativ, lässt uns dagegen Entitäten oder Faktoren oder Dispositionen wertschätzen, deren Auftreten unvorhersehbar und unprognostizierbar ist. "Rationalität"-Verherrlichung setzt die Abwesenheit von Zufälligkeit oder aber eine vereinfachte Zufallsstruktur unserer Welt voraus. Und natürlich kommen darin keine Interaktionen mit der Welt vor, wie sie etwa in dem Bibliotheksraum möglich waren und stattgefunden haben.

(2) "potzblitz" oder "potz Blitz" ist auch ziemlich faszinierend:

In alten Zeiten, als die zehn Gebote noch sehr intensive Geltung besaßen, richtete man sich nach ihnen, gerade auch nach dem zweiten Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.« 2. Buch Moses 20 Vers 7. Den heiligen Namen durfte man also nicht in paganen Kontexten aussprechen, wie das Fluchen einer ist oder auch einfach das vom Donner gerührte Staunen. Um dennoch nicht ohne dazustehen, verkürzte man wahrscheinlich "Gott(es)" zu "potz" - so wurde aus "Gottes Blitz" "potz Blitz".

In Grimmelshausens "Simplicissimus" findet sich 1669 eine feine, belebende Passage:
"Zum allererschröcklichsten kam mir vor, wann ich etliche Großsprecher sich ihrer Bosheit, Sünden, Schande und Laster rühmen hörete; dann ich vernahm zu unterschiedlichen Zeiten, und zwar täglich, daß sie sagten:
'Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen!' 'Ich habe mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen und ebenso vielmal gekotzt.'
'Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen, tribuliert!'
'Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht!'
'Potz hundert Gift, wie haben wir einen Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt!'"
Ist das was oder ist das was?


(3) Serendipity

In recht schwierigen Dialogversuchen mit aligaga verwies D. auf das Phänomen der Serendipität: „In der Endphase des Bibliothekaufenthaltes und beim Auftauchen des Taxidriver-Satzes sah ich etwas, das für einen Moment durch eine Dunkelheit aus Wolken bricht und glitzert und schimmert, es hält eine Art Tageslicht im Kopf aufrecht und füllt dich mit einer stetigen und langdauernden Gelassenheit.

Später - im Studium - begegnete mir ein interessanter Begriff: Serendipity. Serendipity lässt sich formelhaft definieren als Quotient. Sein Dividend ist die Anzahl (halbwegs) brauchbarer Dokumente bei einer Suche a. Sein Divisor ist die Anzahl der für die Suche a nicht relevanten Dokumente.

Beispiele für solche eher zufällige Funde sind etwa: Amerikas Entdeckung, Röntgenstrahlen, Sekundenkleber, Benzolring, Klettverschluss, Teflon, Nylonstrümpfe, Weißwurst. Natürlich gilt bei aller Vagheit solcher Fundgeschichte doch, dass der Zufall nur einem vorbereiteten, sensiblem Geist Erfolge beschert. Das sollte man auch in der Schule als Schüler beherzigen.“

Aligaga: "Ja, eben!"


Additum und Bonustrack:

https://www.youtube.com/watch?v=ak3ma7wtE_0
Robert de Niro: You talking to me (1975)

https://www.youtube.com/watch?v=YjfwjqFhlWs
Disney: Das hässliche Entlein (1931)
 



 
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