Wintermorgen

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James Blond

Mitglied
Als Nadelfilz um Halm und Strauch
ins erste Morgenlicht gebracht,
verharrt ein strenger Kältehauch
nach langer, klarer Nacht.

So steigt der Tag gemäß dem Ruf
aus ungetrübten Sonnenstunden
ins Grau, das bleiche Einheit schuf,
ein Ende zu bekunden.

Der Weg verglast, die Stadt entleert,
weit hallen Schläge in der Ferne,
ein Fädchen Rauch sucht unversehrt
die Spuren letzter Sterne.

Der See erstarrt, das Feld geräumt,
ernüchtert eilen wir durch Zonen,
was gestern trug, ist ausgeträumt
und nicht mehr zu bewohnen.

Wo zieht man hin, wo liegt das Glück?
Der Reiseblick entlässt uns blinder –
es geht voran, nicht mehr zurück,
die Zeit frisst ihre Kinder.
 

Tula

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Hallo James
Ich war schon besorgt ... schön, dass wieder dabei bist, natürlich mit einem Gedicht gewissermaßen in alter, der dir üblichen Manier :cool:

LG Tula
 

James Blond

Mitglied
Ihr Lieben,

nach längerer Zurückhaltung ist es nicht einfach, einen Neuanfang zu finden. Ich habe daher auch gezögert und bin mehr als nur erleichtert über die wohlwollende Aufnahme. Habt vielen Dank für die freundlichen, sternchenreichen Willkommensgrüße, da fühle ich mich gleich wieder zuhause. :)

das klingt sehr winterlich und passt in die Zeit. Trotzdem schön, mal wieder von dir zu lesen.
Danke, Dirk.
Das Gedicht sollte eigentlich schon im November erscheinen, pünktlich zum ersten Frost. Allerdings ist mir ein Zeitbezug mit hineingerutscht, der über die Jahreszeit hinaus weist, vermutlich ein Bezug von etwas längerer Dauer.

ich freue mich auch, dass du wieder da bist! Und gleich mit einem wundervollen Gedicht.
Danke für das Kompliment, SilberneDelfine. Es freut mich, dass das Gedicht dir gefällt.

Ich war schon besorgt ... schön, dass wieder dabei bist, natürlich mit einem Gedicht gewissermaßen in alter, der dir üblichen Manier
Daran sollst du erkennen, dass ich noch ganz der Alte bin ... ;)

Hi jb das ist auch meine Lieblingsstelle - ein sehr starkes Bild!!
Und wohl auch die einzige hoffnungsvolle Stelle eines abgekühlten Szenarios. Danke für deine Rückmeldung, Dionysos von Enno.

Schön. Erweckt in mir den Wunsch, es als Song zu hören.
Wer Lieder liebt, wird es mögen.
... und noch ein echter Barde ...
Dankeschön, Petra und Scal, für euren Liedhinweis. Ich hatte das zwar ursprünglich nicht im Sinn, kann mich aber mit der Idee durchaus anfreunden, sofern ich nicht selbst singen muss. ;) Seltsamerweise haben meine musikalischen und lyrischen Interessen bisher noch nicht zusammengefunden, das wäre tatsächlich Neuland für mich.


Liebe Grüße an alle
JB
 
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mondnein

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das ist die Umkehrung der "Reise nach Jerusalem" hier: immer mehr Stühle stehen leer.
"der eine kommt, der andre geht" (Eulenspiegel).
Ich z.B. gehe.
 

James Blond

Mitglied
Die "Reise nach Jerusalem" auf rückwärts ist sehr gut. ;)

Dieses Jahr werden bei der weihnachtlichen Reise ins Gelobte Land wohl viele Stühle leer ausgehen.
Allerdings: Ob man geht oder gegangen wird, ist ein eklatanter Unterschied – in letzterem Fall entfällt die Frage nach dem Wohin ...

Geht, wie hier im vorletzten Vers, das ominöse "Es" voran, bleibt das Ziel eher unbestimmt.

Danke für Deine Geh-danken übers Nicht-Aussitzen und auch für deine "Leseempfehlung" (wie das jetzt heißt), lieber Mondnein.

Grüße
JB
 

sufnus

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Hi JB!
Gottfried Benn hat ja mal verkündet (männlich Poeten tendieren vermutlich zum Verkünden), dass sich ein Gedicht nicht durch eine irgendwie unfassliche Inspiration "ereignet", also kein numinoser Geniefunke auf die Schreibenden überspringt, sondern dass ein Gedicht "gemacht" wird, dass also das gelungene Gedicht ein Produkt der sorgfältigen Verarbeitungskunst ist - und die Betonung liegt hier auf "-arbeit-"!
Diese Diskussion, ob nun Inspiration oder Transpiration (um ein Edison-Zitat aufzugreifen) die wichtigere Komponente bei einem gültigen Gedicht (oder anderen Kreativstreichen) darstellen, ist alt und immer wieder jung und braucht nicht entschieden zu werden, aber mir fällt auf, dass sich unter den vehementesten Fürsprechern einer gedankenblitzartigen Eingebung als unabdingbarer Voraussetzung eines guten Gedichts viele Zeitgenoss*innen tummeln, die ein bisschen faul und struddelig sind, was man den Produkten (so originell sie auch manchmal sein mögen) dann häufig anmerkt.
Worauf will diese wortreiche Einlassung hinaus? Darauf, dass man Deinem Gedicht hier Sorgfalt, kluge Abwägung und Liebesmühe anmerkt. Ob dieser Text "in einem runter" geschrieben wurde oder in einem längeren Prozess in kleinteiliger Detailarbeit entstanden ist, vermag man natürlich nicht zu entscheiden, aber eine Grundhaltung ist doch zu erkennen, beim Schreiben kein genialisches Extempore im freien Hinrotzverfahren zu produzieren, sondern stets mit eingeschalteter Qualitätskontrolle zu agieren.
Insofern ist dieses Gedicht auch, wie ich finde, eine Einladung zum zugewandten, aufmerksamen (fast hätte ich geschrieben: achtsamen) Lesen. Im Grobüberblick finden wir da einen Jambus mit vier Hebungen in den Zeilen 1 bis 3 jeder Strophe, gefolgt von einer jeweils die Strophe beschließenden vierten Zeile mit nur drei Hebungen. Bei noch genauerer Betrachtung tun sich dann einige delikate, kleine Minimalaufgerautheiten im Jambus auf, keine wirklichen Verletzungen des Metrums, aber doch Stellen, bei denen man im mündlichen Vortrag ein bisschen mit der Betonung spielen kann. Und schönerweise ;) finden sich diese metrischen Lockerungsgelegenheiten an durchaus inhaltlich passenden Stellen: In S2Z2 ist das initiale "aus" zwar klar schwächer betont als das folgende "un-" von "ungetrübten", aber nur ein Anfänger würde hier leiernd "aus-un-ge-trüb-ten", also streng xXxXx lesen, tatsächlich lässt sich das "aus" hier schön mit einer "halben" Betonung vortragen, so dass ein Beinahehebungsprall entsteht, der eine minimale Leseverzögerung vor dem "un-" erzwingt, welches dann beinahe "singend" und sehr akzentuiert gesprochen wird, wodurch die Trübungsfreiheit der Sonnenstunden wunderbar hervorgehoben wird.
Noch deutlicher ist so eine spondeische Tendenz in S3Z2, ja eigentlich folgt "weit hal-" tatsächlich eher einer XX-Betonung als einer xX-Akzentuierung. Das macht das Hallen wirklich weittönend im Vortrag mit einer schwebenden Betonung gesprochen.
Schließlich ist auch S4Z2 sehr schön gewirkt (immer die zweiten Strophenzeilen... Zufall?)... hier wird der Jambus durch ein dreisilbiges Wort anmoderiert, nämlich "ernüchtert", was als natürlicher Amphibrachys (xXx) einen sehr starken Akzent auf der zweiten Silbe trägt. Dieser Akzent ist so doll, dass er nicht nur die dritte Silbe dieses Wortes "-tert" betonungstechnisch fast völlig annihiliert, sondern noch einige Folgesilben so wenig zu melden haben, dass fast eine (im metrisch gebundenen Sprechen im Deutschen eigentlich unmögliche) Abfolge von fünf eher "schwächlich" betonten Silben entsteht, sich das Ganze also (natürlich übertrieben dargestellt) beinahe so x-en ließe: er-nüch-tert-ei-len-wir-durch-Zo-nen —> xXxxxxxXx; das lässt sich so (annähernd) nur vortragen, wenn passend zum Inhalt wirklich ziemlich in ziemlicher Eile vom "nüch" zu den "Zonen" gehastet wird.
Und natürlich gäb es jetzt noch manches zum Sprachlichen zu sagen... aber der Kommentar ist schon weitschweifig genug... also erstmal genug gelabert... her mit den Sternen!
LG!
S.
 
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sufnus

Mitglied
... nachzutragen bliebe noch als Nebennebenbemerkung, dass Hansz' lupenresignative Andeutung in ihrer Bedauerlichkeit nur von den ausbleibenden Bleibeermunterungen überboten wird und so ein bisschen ansteckend klingt.
 

mondnein

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aber nur ein Anfänger würde hier leiernd "aus-un-ge-trüb-ten"
dann bin ich ein leiender Anfänger
eindeutig ein Trochäus: betonter Diphthong der Stammsilbe, danach eine natürlich "schwache" deutsche Infinitiv-Endung

Nichtsdestotrotz Dankeschön, Sufnus!, für:
ausbleibenden Bleibeermunterungen
damit habe ich gerechnet, schließlich sind es schon seit vielen Monaten immer die selben drei Sternespender und Antworter, die schon längst Papier-Ausdrucke einiger selbstgebundener "Hundertliederbücher" bekommen haben.

"Und keiner mehr kennt mich auch hier" sang in einem Epitaph-Rollen-understatement der unvergeßliche Eichendorff; "is blowing in the wind" schloß ein melancholischer Nobelpreisträger. Wie sollte ich den beiden widersprechen,

grusz, hansz
 
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James Blond

Mitglied
Joho sufnus,

vielen Dank für die detailreichen Anmerkungen (zu meinem Wiedereintrittspoem in die Leselupensphären), die hier in kontrastierendem Umfang den fast schon telegrammatischen Grußworten deiner Vorgänger folgen! ;)

Poeme sind ja oft, wie allein das Wort schon zeigt, Kurzfassungen der Probleme, die wir mit uns herumtragen, bis sie endlich vom Wortfluss gelöst in die Außenwelt geschwemmt werden. Was dabei die Anteile von Inspiration und Transpiration, häufig auch als Wasser mit Geröll betrachteten Komponenten anbelangt, so mag deren Zusammensetzung je nach Kieferaktivität und Speichelfluss des Autors variieren, doch wage ich zu behaupten, dass, von spontanem Spuck einmal abgesehen, insbesondere längeren Traktaten eine zeitlich gedehnte, wiederholte Bearbeitung nicht zwangsläufig schadet. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass ein verlängerter Reifungsprozess manchen Gedichten der Leselupe eine höhere Qualität verleihen und (nicht zuletzt aufgrund des dadurch reduzierten Angebotes) zu einer erhöhten Aufmerksamkeit verhelfen würde.

Doch wirklich überzeugend wirkt ein Resultat erst, wenn beim späteren Lesen die Sorgfalt zu spüren ist, ohne den Eindruck von etwas Erzwungenem (bzw. "zu Gewolltem") zu vermitteln. Ein festes Metrum kann da helfen, eine Leichtigkeit (bzw. "Selbstverständlichkeit") zu bewahren, insbesondere, wenn es genügend Freiheiten und Feinheiten zur Variation bietet, die du hier so akribisch herausgearbeitet hast.
Dafür bin ich dir sehr dankbar.
:)
Liebe Grüße
JB
 
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James Blond

Mitglied
... nachzutragen bliebe noch als Nebennebenbemerkung, dass Hansz' lupenresignative Andeutung in ihrer Bedauerlichkeit nur von den ausbleibenden Bleibeermunterungen überboten wird und so ein bisschen ansteckend klingt.
Nun ja, ausbleibende Bleibeeren könnten auch eine sinnvolle Fastenzeit markieren ... :cool:

"Und keiner mehr kennt mich auch hier" sang in einem Epitaph-Rollen-understatement der unvergeßliche Eichendorff; "is blowing in the wind" schloß ein melancholischer Nobelpreisträger. Wie sollte ich den beiden widersprechen,
Nun, ähm, ersterer ist wohl doch noch nicht so ganz vergessen – und letzterer bediente sich für seine ihm nicht mögliche Antwort auf die Probleme der Welt einer Paraphrase aus Margaret Mitchells Epos "Gone with the Wind". ;)
 

mondnein

Mitglied
oh, er hat das hapax legomenon "the wind" (einzige Übereinstimmung) von Margaret Mitchell?
so ein Südstaaten-Spießer!

die GEMA wirds ihm in Rechnung stellen
 

sufnus

Mitglied
Hey Hansz!

Auf den Bleibe-Aspekt geh ich mal demnächst in Deinem Xanthippe-Thread ein - da passts ja sogar besser und wir kapern JBs Faden nicht mit dem Thema.

Aber die Metrumsdiskussion finde ich interessant - wobei ich hier nochmal betonen will, dass ich das nicht auf dem Basisniveau, d.h. "wie erkenne ich einen Wort- oder Versfuß" führe. (bzw. nur klarstellungshalber hierzu noch rasch: Natürlich ist diese Zeile (wie sämtliche anderen) als regelmäßiger Jambus einzusortieren bzw. wie Du schreibst, ist der Wortfuß von "ungetrübten" trochäisch mit zwei Hebungen, nämlich auf "un-" und "-trüb-")

In S2Z2 ist das initiale "aus" zwar klar schwächer betont als das folgende "un-" von "ungetrübten", aber nur ein Anfänger würde hier leiernd "aus-un-ge-trüb-ten", also streng xXxXx lesen, tatsächlich lässt sich das "aus" hier schön mit einer "halben" Betonung vortragen, so dass ein Beinahehebungsprall entsteht, der eine minimale Leseverzögerung vor dem "un-" erzwingt, welches dann beinahe "singend" und sehr akzentuiert gesprochen wird, wodurch die Trübungsfreiheit der Sonnenstunden wunderbar hervorgehoben wird.
dann bin ich ein leiender Anfänger

eindeutig ein Trochäus: betonter Diphthong der Stammsilbe, danach eine natürlich "schwache" deutsche Infinitiv-Endung
Worum es mir geht ist, dass die Wendung "aus ungetrübten Sonnenstunden" bei einer Rezitation Betonungsspielräume bietet, ohne dass die vortragende Person sich allzu verbiegen muss.

Es ist für einen Vortrag immer unglücklich, wenn einer Zeile, die im Jambus oder Trochäus verfasst wird, durch sehr betonungsstarre zweisilbige Wörter ein festes Akzentuierungskorsett übergezwängt wird. Dann passiert das, was man als klappernden Versfuß bezeichnet und was außerhalb der komischen Lyrik einen schweren formalen Fehler darstellt... irgend etwas wie "dunkle Wolken ziehen auf / alle Menschen haben Angst." Das sind lauter Zweisilber (bis auf die Abschlusshebungen "auf" und "Angst") und hier gibt es im Vortrag praktisch keine Chance aus dem Leierrhythmus auszubrechen, wenn es nicht sehr unnatürlich klingen soll.

Bei "aus ungetrübten Sonnenstunden" ist der tröchäische (Wortfuß) Doppelzweiheber "Sonnenstunden" relativ unflexibel (was als strukturbildendes Element ja nicht grundsätzlich schlecht ist, es gibt also bei Jamben & Tröchäen (Versfuß) kein totales Zweisilberverbot). Dafür kann man mit "aus ungetrübten" im Vortrag arbeiten, ohne dass sich etwas daran ändert, dass diese Passage rein formal natürlich ein klarer Fall von Jambus ist (siehe oben). Es geht letztlich im Vortrag von metrisch gebundener Lyrik darum, wenigstens ein bisschen auch einen Blickkontakt zum natürlichen Sprechen aufzunehmen und da läuft die Akzentuierung eben nicht nach einem strengen Binärcode ab (unbetont/betont) sondern es gibt auch Zwischenstufen und die richten sich danach, was man beim Sprechen als wichtig markieren will.

Indem man hier das "aus" etwas stärker betont, als es beim Leierjambus vorgesehen wäre und dann das klar akzentuierte "un-" folgen lässt (um das hinzubekommen ist eine Miniminiminipause zwischen "aus" und "un-" nötig) schafft man genau diesen (hier sogar sehr sinnhaften) kurzen Freigang aus dem Jambusknast. Damit sowas ohne Vortragsstress machbar ist, müssen Autoren entweder das perfekte musikalische Gehör haben oder sorgfältig nachjustieren, bis alles am richtigen Platz ist. :)

LG!

S.
 



 
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