Hi JB!
Gottfried Benn hat ja mal verkündet (männlich Poeten tendieren vermutlich zum Verkünden), dass sich ein Gedicht nicht durch eine irgendwie unfassliche Inspiration "ereignet", also kein numinoser Geniefunke auf die Schreibenden überspringt, sondern dass ein Gedicht "gemacht" wird, dass also das gelungene Gedicht ein Produkt der sorgfältigen Verarbeitungskunst ist - und die Betonung liegt hier auf "-arbeit-"!
Diese Diskussion, ob nun Inspiration oder Transpiration (um ein Edison-Zitat aufzugreifen) die wichtigere Komponente bei einem gültigen Gedicht (oder anderen Kreativstreichen) darstellen, ist alt und immer wieder jung und braucht nicht entschieden zu werden, aber mir fällt auf, dass sich unter den vehementesten Fürsprechern einer gedankenblitzartigen Eingebung als unabdingbarer Voraussetzung eines guten Gedichts viele Zeitgenoss*innen tummeln, die ein bisschen faul und struddelig sind, was man den Produkten (so originell sie auch manchmal sein mögen) dann häufig anmerkt.
Worauf will diese wortreiche Einlassung hinaus? Darauf, dass man Deinem Gedicht hier Sorgfalt, kluge Abwägung und Liebesmühe anmerkt. Ob dieser Text "in einem runter" geschrieben wurde oder in einem längeren Prozess in kleinteiliger Detailarbeit entstanden ist, vermag man natürlich nicht zu entscheiden, aber eine Grundhaltung ist doch zu erkennen, beim Schreiben kein genialisches Extempore im freien Hinrotzverfahren zu produzieren, sondern stets mit eingeschalteter Qualitätskontrolle zu agieren.
Insofern ist dieses Gedicht auch, wie ich finde, eine Einladung zum zugewandten, aufmerksamen (fast hätte ich geschrieben: achtsamen) Lesen. Im Grobüberblick finden wir da einen Jambus mit vier Hebungen in den Zeilen 1 bis 3 jeder Strophe, gefolgt von einer jeweils die Strophe beschließenden vierten Zeile mit nur drei Hebungen. Bei noch genauerer Betrachtung tun sich dann einige delikate, kleine Minimalaufgerautheiten im Jambus auf, keine wirklichen Verletzungen des Metrums, aber doch Stellen, bei denen man im mündlichen Vortrag ein bisschen mit der Betonung spielen kann. Und schönerweise
finden sich diese metrischen Lockerungsgelegenheiten an durchaus inhaltlich passenden Stellen: In S2Z2 ist das initiale "aus" zwar klar schwächer betont als das folgende "un-" von "ungetrübten", aber nur ein Anfänger würde hier leiernd "aus-
un-ge-
trüb-ten", also streng xXxXx lesen, tatsächlich lässt sich das "aus" hier schön mit einer "halben" Betonung vortragen, so dass ein Beinahehebungsprall entsteht, der eine minimale Leseverzögerung vor dem "un-" erzwingt, welches dann beinahe "singend" und sehr akzentuiert gesprochen wird, wodurch die Trübungsfreiheit der Sonnenstunden wunderbar hervorgehoben wird.
Noch deutlicher ist so eine spondeische Tendenz in S3Z2, ja eigentlich folgt "weit hal-" tatsächlich eher einer XX-Betonung als einer xX-Akzentuierung. Das macht das Hallen wirklich weittönend im Vortrag mit einer schwebenden Betonung gesprochen.
Schließlich ist auch S4Z2 sehr schön gewirkt (immer die zweiten Strophenzeilen... Zufall?)... hier wird der Jambus durch ein dreisilbiges Wort anmoderiert, nämlich "ernüchtert", was als natürlicher Amphibrachys (xXx) einen sehr starken Akzent auf der zweiten Silbe trägt. Dieser Akzent ist so doll, dass er nicht nur die dritte Silbe dieses Wortes "-tert" betonungstechnisch fast völlig annihiliert, sondern noch einige Folgesilben so wenig zu melden haben, dass fast eine (im metrisch gebundenen Sprechen im Deutschen eigentlich unmögliche) Abfolge von fünf eher "schwächlich" betonten Silben entsteht, sich das Ganze also (natürlich übertrieben dargestellt) beinahe so x-en ließe: er-
nüch-tert-ei-len-wir-durch-
Zo-nen
—> xXxxxxxXx; das lässt sich so (annähernd) nur vortragen, wenn passend zum Inhalt wirklich ziemlich in ziemlicher Eile vom "nüch" zu den "Zonen" gehastet wird.
Und natürlich gäb es jetzt noch manches zum Sprachlichen zu sagen... aber der Kommentar ist schon weitschweifig genug... also erstmal genug gelabert... her mit den Sternen!
LG!
S.