wir werden schwimmen...

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Hudriwurz

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(einer wahren Begebenheit entlang)

Wir werden schwimmen…
Hudriwurz (Emanuel W. Kury)

01/2019
Der See
Der See war glatt wie ein Spiegel und Nebel hatte sich, einen halben Meter hoch, über ihn gelegt. Die Sonne, die sich erst zaghaft über dem Hügel zeigte, begann den Nebel zu verzehren. Sie schaffte Platz für den neuen Tag, den Trubel, der, wie in den Sommermonaten üblich, bald über den See herein brechen würde.
Jetzt war von dem Wirbel und der Unruhe noch nichts zu bemerken. Der Tag war jungfräulich unberührt.
Es kostete beinahe Überwindung, mit den Händen die makellose Wasseroberfläche zu verletzen. Mit allen Sinnen, mit jedem Stückchen seiner Haut nahm ER die Kühle auf.

Vielleicht dachte irgendwo in seinem Kopf irgendetwas darüber nach, wie herrlich und wertvoll dieser Moment sei und meinte, irgendwem dafür danken zu wollen. Aber hauptsächlich war ER bemüht, nichts zu denken.

Es war nicht notwendig, ja beinahe anmaßend, diesen klaren Moment, der nur ihm allein gehörte, mit Unsagbarem, Unwichtigem zu beschmutzen. ER spürte nur, und das mit jeder Faser seines Körpers.

Ein großartiges Gefühl erfüllte ihn. Es fühlte sich beinahe so an, als wäre ER selbst eins mit dem See, der Natur.

Einzig dieses Gefühl war hier und schwamm ganz eins mit ihm und der friedlichen Welt. Es gab keinen Platz für sinnlose Gedanken.

ER hatte nichts mit, um sich damit zu trocknen; zu Hause war nicht weit. ER zog sich an und ging los. Barfuß und glücklich. Zu Hause angekommen, sah ER die Sonne schon recht hoch am Himmel. Knallgelb auf Knallblau. Spektakulärer, wunderbarer geht es nicht, dachte ER kurz.

Auf dem Spaziergang war ER getrocknet und so schlich ER leise ins Schlafzimmer. Im Haus herrschte eine wunderbare Stille und alle schliefen noch. ER legte die, leicht feuchten Kleider, ab und begab sich zu seiner Frau ins Bett. Elisabeth lag ruhig auf der Seite, ganz in ihre Träume versunken, wie es schien. ER liebte es, mit dem Mittelfinger ihre Wirbelsäule entlangzustreichen. Von ganz unten, bis oben zum Hals. Der unvergleichliche, betörende Duft ihres Nackens war nach so vielen gemeinsamen Jahren um keinen Deut weniger verzaubernd als damals, vor langer Zeit, als sie sich gefunden hatten.

Sie verliebten sich während ihrer gemeinsamen Studienzeit. Ihre ruhige, unaufgeregte Art war ihm damals aufgefallen und nichts, so schien es, konnte sie aus der Fassung bringen, beziehungsweise in irgendwelcher Form beunruhigen. Das faszinierte ihn vom ersten Moment an und es war unmöglich, sie sich wütend oder zornig vorzustellen. Sie war die Gelassenheit in Person. ER dagegen trug eine permanente Aufbruchsstimmung in sich. Voll mit Energie, ER wollte einfach tun. Es konnte kaum genug Bewegung in seinem Leben geben.

Das Medizinstudium war für beide Berufung und bereitete wenig Mühe. Sie sogen die Informationen auf, wie durstige Kamele Wasser, nach einem wochenlangen Gang durch die Wüste. Sie hatten nie das Gefühl, wie sie es bei Mitstudenten beobachteten, von Mühen und Zwängen getrieben, nächtelange Lernexzesse abhalten zu müssen.

Der Berufswunsch hatte sich für beide schon früh in ihrer Kindheit abgezeichnet. Sein Traum war es, sich auf Kinderheilkunde zu spezialisieren, denn ER liebte Kinder. Sie hingegen war schon immer von den endlosen Weiten des menschlichen Gehirnes fasziniert.

Heute, nach vielen Jahren in einer Klinik, war ER seinem Ziel, eine eigene Praxis für Kinderheilkunde zu eröffnen schon sehr nahe und hatte vieles erreicht: Haus bauen, heiraten, Kinder großziehen, …

Jetzt erfuhr sein Leben allmählich eine gemächliche Konstanz. ER war nicht mehr voll Sturm und Drang, dennoch fühlte er, dass es Zeit für etwas Neues war. Eine Veränderung würde gut sein.

ER schmiegte sich an den Rücken seiner Frau und fühlte, dass da, wie eh und je, nichts zwischen ihnen war. Da war kein Spalt, da war nichts. Sie waren Eins. Unbeschreibliche Nähe und Geborgenheit war da. ER fühlte sich wunderbar geborgen, sorglos und einfach unsagbar wohl. Ein leichtes Grinsen kam über sein Gesicht als sich seine Hand hoch schob und eine herrlich weiche und warme Brust ertastete, die zum Verweilen verführte. Sanft, warm und freundlich. ER spürte das verlässliche, rhythmische und leise Pochen ihres Herzens. Der Tag hatte gut begonnen, das Leben fühlte sich gut an. Jetzt nur nicht einschlafen, dachte ER, um ja keinen Augenblick dieses wunderbaren Momentes zu versäumen.

Vergebliches Bemühen. Sanft, ruhig und leicht schlief ER ein und erwachte erst wieder, als seine Frau sich neben ihm zu bewegen begann.

Das Aufwachen

Elisabeth drehte sich zu ihm um und legte ihre Hand auf seinen Bauch. Langsam rutschte sie unter die Bettdecke bis sie seinen Penis berührte. Sie schlug die Decke etwas zurück und begab sich mit ihrem Kopf zu seinen Lenden.

Sie nahm seinen, sich langsam aufrichtenden Penis in den Mund. - Sie mochte es, wenn er erst in ihrem Mund zu endgültiger Größe heranwuchs. ER wunderte sich, wie beinahe jedes Mal, wie sie es mit der Zungenspitze schaffte, die Unterseite der Eichel zu massieren während ihr Mund ja, nach seinem Empfinden, mit der zwischenzeitlich maximal erigierten Eichel, ausgefüllt sein mußte.

ER fühlte das jedenfalls so. Eines der Rätsel, die nie gelüftet werden würden und bei genauer Betrachtung keiner dringenden Notwendigkeit nach Aufklärung bedurfte.

Sie mußte mehrmals schlucken und wunderte sich über die Menge.

»Mama, Maaaaama, es ist schon zeeeeehhhn!«

Es war Juli, die jüngste der ‚Elfen‘, wie die drei Töchter in der Familie genannt wurden. Sie hatten erst vor zwei Wochen ihren zwölften Geburtstag gefeiert. Juli war, dem Wesen nach, ihrer Mutter sehr ähnlich; Ruhig, etwas nachdenklich, überlegend; irgendwie wirkte sie souverän, ja beinahe altklug.

Es galt die Regel in der Familie, dass, wer am Sonntag bis nach 10 Uhr im Bett war, die Eier kochen und die Frühstücksutensilien auf die Terrasse tragen durfte. Gutmütig sanft lächelnd ging Elisabeth daran, sich langsam aus dem Bett zu schälen. Sie warf ihren Bademantel um und begab sich auf den Flur. Das Sonnenlicht durchflutete freundlich das Haus. Ein wundervoller Tag. Sie stieg die Treppe zum Wohnraum hinab und sah Juli, wie sie bei vollständig geöffneter Balkontüre barfuß auf der Terrasse stand und mit ausgebreiteten Armen laut respirierte. Sie ging zur Küchenanrichte, fand einen Topf, füllte ihn mit Wasser und stellte ihn auf den Herd, um Eier darin zu kochen.

Er lag noch entspannt im Bett. »Ein paar Minuten nur« dachte er. Seine Gedanken flogen ziellos entspannt umher. ER atmete ruhig und ganz ohne Anstrengung. Es war etwas in ihm. Es war Zufriedenheit. Zufriedenheit mit der Welt, mit dem Sein.

Die Welt der Träume hatte ihn wieder und ließ ihn erst eine halbe Stunde später wieder erwachen. Nun schien es so, dass ER der Letzte im Haus war, der auf stand. ER zog sich seinen Bademantel über und begab sich zu den anderen.

Sogar Anna, die Älteste, saß schon am Frühstückstisch eingekehrt. »Guten Morgen, liebe Elfen«, grüßte ER seine Familie und küsste Elisabeth auf den Mund. »Habt ihr auch alle gut geschlafen?«

Ohne Schirm wäre die Sonne kaum mehr zu ertragen gewesen. So weit war der Tag schon fortgeschritten. Es würde ein sehr warmer Tag werden, das war ab zu sehen und Vielleicht würde es am Nachmittag gewittern? ER mochte die plötzliche Abkühlung, die ein kurzer Regenschauer mit sich bringt.

»Du warst heute das Oberfaultier, Papa.«, meinte Juli.

»Ja, sieht so aus. Aber in Wirklichkeit war ich der Erste. Ich war schon um fünf schwimmen. Da wart ihr alle noch wie Siebenschläfer in euren Betten eingerollt.«

Tatsächlich kam ihm der heutige Tag, mit all dem Erlebten schon ziemlich lange vor. Er hatte für ihn schon so viel erbaulichen Inhalt, wie ihn sonst oft ein ganzer, langweiliger Wochentag nicht hatte.

ER fragte in die Runde: »Hat heute irgendwer etwas Besonderes vor? Es wird vermutlich ziemlich heiß werden und am Nachmittag wird wohl ein Gewitter aufziehen.« -

»Nichts Besonderes.« antworteten die Elfen. »Ich gehe vielleicht am Nachmittag zu Christine.« sagte Anna.

Christine war ein etwa gleichaltriges Mädchen in der Nachbarschaft, mit ähnlichen Interessen, wie Anna.
Die Interessenlage ist bei allen sechzehnjährigen Mädchen ziemlich ähnlich und gemeinsam verbrachte Nachmittage verflogen kurzweilig mit Gesprächen über Jungs, Liebe und Diskussionen über Vorstellungen zum Thema Sex.

Der Garten

Der Garten, den alle Familienmitglieder in seiner Wildheit und Natürlichkeit liebten, begann ob der mittlerweile doch schon recht lange anhaltenden Dürre, langsam zu vertrocknen. Natürlich viel weniger, als benachbarte Rasenwüsten, die mehrmals täglich gegossen wurden mußten um nicht zu staubigen Sandfeldern zu verkommen. Man vertraute seinen Fähigkeiten, sich selbst zu regulieren, beziehungsweise zu regenerieren. Das beinahe hüfthohe Gras mit den vereinzelt auftretenden Populationen unterschiedlichster Blumen, wirkte schon sehr ausgetrocknet.

Elisabeths Mutter, die in unregelmäßigen Abständen zu Besuch kam, schlug jedes Mal die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie den Garten sah, begleitet von Kopfschütteln und einem leisen Schimpfen. Nur in den Wintermonaten, wenn eine Schneedecke den Garten unter sich verbarg, sagte sie nichts. Dann sah alles wunderbar gepflegt, weich und ebenmäßig aus. Wunderbar ordentlich, wie Oma meinte. Es sei denn, die Elfen hatten, ob der Freude über den Schnee, Schneeskulpturen gebaut. Abhängig von der Schneemenge, konnten ganze Schneeburgdörfer entstehen. Jedenfalls war der Garten dann recht zertrampelt und sah eben nicht mehr so ordentlich aus. Oma dachte zwar nicht täglich zwölf Stunden lang daran wie sie den Garten wunderbar kultivieren würde, wenn man sie ließe. Nein, aber jedes Mal, wenn Sie kam, konnte sie für einen kurzen Moment nicht anders.

Manchmal im Frühling, wenn Juli eine besonders schöne Ansammlung von Blumen entdeckt hatte, nahm sie spontan Omas Hand und schleppte die alte Dame ganz aufgeregt durch die Wiese zu dem Platz, an dem die botanische Entdeckung zu bestaunen war.

Auch die Nachbarn, von denen anfangs manche die Nase gerümpft hatten, gewöhnten sich an die Wildheit des Gartens und betrachteten ihn manchmal zumindest nachdenklich. Man wußte natürlich nie, was sie dachten, aber man konnte sich zumindest vorstellen, dass es sinnvolle Gedanken sein würden. Jeder, der die gestriegelten, penibel kurzgeschorenen Rasenflächen mit der komplexen, wilden und abwechslungsreichen Gartenlandschaft verglich, mußte sehen, wie viel artenreicher und ökologisch wertvoller ein derartiger Lebensraum sein mußte.

Der Garten bot für Tiere aller Art Lebensraum. Grashüpfer, Grillen, Wespen, Bienen, Mäuse, Igel lebten da. Wie sie es schon immer taten. Auch vor der Zeit, als hier Häuser standen.

Orangensaft, Tee, Marmeladenbrot, dann wieder Ei. Ein sehr gemütliches Frühstück jedenfalls. Die Sonne war schon recht hoch am Himmel und es wurde selbst unter dem Schirm schon ordentlich warm. Man beschloss dann, sich in das Haus zurück zu ziehen. Dort war es doch um einiges kühler und jeder ging seinen Interessen nach.

Lisa, die zugleich große und kleine Schwester war, konnte wieder weiter auf ihrem Telefon herum drücken. Sie mußte es ja während des Frühstücks im Haus liegen lassen, da, einem einhelligen Familienbeschluss zur Folge, Telefone am Esstisch nicht erwünscht waren. Juli und Anna mußten noch ein paar Schulangelegenheiten erledigen. Elisabeth und ER verräumten die Frühstücksutensilien.

»willst du noch einen Kaffee?« wollte Elisabeth wissen. »Nein danke. Ich werde dann mal an die Zeitungen gehen« antwortete ER und ging zum Schaukelstuhl um Zeitungen zu lesen.

Der Schmerz

Da war er wieder, der stechende, verkrampfende Kopfschmerz, der ihn schon öfter gepeinigt hatte. Zum Glück dauerte er immer nur einen Sekundenbruchteil und war dann wieder fort. ER hatte noch nicht herausgefunden, was ihn auslöste, welche Situation oder welches Verhalten ihn provozierte.

Mit Elisabeth hatte ER noch nicht darüber gesprochen. Sie war Neurologin und hätte ihn vermutlich sofort zu einer Magnetresonanztomographie geschickt. Dazu hatte ER aber im Moment keine Lust und auch keine Zeit übrig, da die Praxis, die ER sich neu einrichtete, doch einiges an organisatorischer Energie, und auch Zeit kostete.

Ja, ER war seinem Lebensziel schon sehr nahe. Wenige Monate noch und ER würde seinen Traum von der eigenen Kinderarztpraxis erfüllen und ein weiterer Meilenstein in seinem Leben wäre erreicht. Den Job in der Klinik hatte ER bereits gekündigt und dem Sprung ins kalte Wasser stand nichts mehr im Wege.

Da! Schon wieder. Ob vielleicht die Hitze den Kopfschmerz auslöste? Es war jetzt zum Schluss schon recht warm gewesen auf der Terrasse. Das war kein Spaß. Also regelmäßig konnte ER das nicht brauchen. ER verzog unwillkürlich das Gesicht zusammen, wenn der Schmerz auftrat. Das merkte ER und das würden über kurz oder lang auch andere Menschen merken und sich wundern und Fragen stellen. Da war es auch schon passiert: »Schatz, was hast du?« fragte Elisabeth, die ihn zufällig aus dem Augenwinkel sah, als ER sein Gesicht wieder sehr angestrengt verkrampfte. »Nichts, Liebling. Es taucht nur manchmal ein kurzer Kopfschmerz auf. Er verzieht sich aber auch gleich wieder. Zum Glück verschwindet er immer so schnell, wie er auftaucht. Vermutlich habe ich mich verkühlt, oder vielleicht ist mir in der Früh, beim Schwimmen, Wasser ins Ohr gelaufen.« - »Sag‘ mir bitte Bescheid, wenn es öfter auftritt.« - »Okay, mach‘ ich. Willst du heute etwas kochen?« fragte er, um das Thema zu wechseln und die Sache unbedeutend wirken zu lassen.

«Ich weiß nicht recht. Eher erst am späteren Nachmittag. Ich glaube, dass nach dem Frühstück jetzt niemand so bald hungrig sein wird. Hast Du Lust auf irgendetwas Besonderes?« - »Im Moment kann ich gar nicht an Essen denken. Reden wir dann später.«

Der Nachmittag verging ganz ohne Aufregung, doch die Kopfschmerzattacken sollte er, mit allen Begleitumständen im Auge behalten, das war ihm klar. Letztendlich vermutete ER aber nichts Ernsthaftes dahinter.

Am frühen Abend dann ereigneten sich wieder zwei Verkrampfungen. ER war gerade im Badezimmer als kurz nacheinander zwei Schmerzattacken passierten. Langsam fing die Sache an, ihn zu beunruhigen und ER suchte im Medikamentenschrank nach Schmerzmittel. Medikamentenschränke von Ärzteehepaaren sind, zum Glück, stets reichlich mit Produktproben der Pharmaindustrie gefüllt. Schmerztabletten von ganz ‚harmlos‘ bis ‚hardcore‘. ER entschied sich für ein mittelschwer wirksames Mittel und nahm es ein.

Montag

Eine neue Woche begann. Elisabeth fuhr mit dem Auto 50 Kilometer zu ihrer Arbeitsstätte und ER fuhr 30 Kilometer in die entgegengesetzte Richtung zu seiner Klinik. Während der Fahrt trat der Schmerz wieder auf. Es beunruhigte ihn, dass der Schmerz diesmal deutlich länger anhielt. Beim Fahren ist das nicht besonders praktisch, dachte er, schälte sich einhändig eine Schmerztablette aus der Blisterpackung und schluckte sie.

Das Medikament schien die ‚Anfälle‘ tatsächlich zu verhindern und das wiederum beruhigte ihn ein wenig. Es wäre ja nicht besonders praktisch, dachte er, wenn ER bei Patientenuntersuchungen regelmäßig, Grimassen schneidend, auszuckte.

Am Nachmittag hatte ER eine Besprechung bezüglich der Inneneinrichtung seiner neuen Praxis und wollte daher etwas früher nach Hause fahren. Jedenfalls nahm ER sich für den Abend vor, mit Elisabeth über die Kopfschmerzsache zu sprechen. Die Medikamente brachten zwar kurzzeitig Hilfe, aber dauernd sollte ER sie nicht verwenden, da sie relativ stark waren und das Potential hatten, süchtig zu machen.

Der Abend war lau. Die Familienmitglieder trudelten langsam ein und nach dem gemeinsamen Abendessen verstreuten sich die Mädchen in ihre Zimmer um ihre Angelegenheiten zu verfolgen. Sie waren schon erstaunlich selbständig. Irgendwie wußte jeder, was zu tun war und sogar Juli, die trotz ihres kindlichen Alters ebenso erwachsen und reif agierte, wie ihre großen Schwestern, benahm sich erschreckend reif. »Trinken wir auf der Terrasse noch ein Glas Wein zusammen?« fragte ER Elisabeth.
»Ja, gerne. Ich räum‘ noch schnell den Tisch ab. Such‘ du in der Zwischenzeit eine Flasche. Ich bringe dann die Gläser.«

»Die Kopfschmerzgeschichte beunruhigt mich jetzt doch ein wenig. Es ist manchmal so schlimm, dass ich Dihydrocodein einnehme. Das macht die Angelegenheit erträglicher für mich und die Häufigkeit der Attacken wird dadurch geringer.«
»Dihydrocodein? Du weißt aber schon, dass man damit nicht spaßen soll, oder?«
»Ich hab‘ im Badezimmer zufällig eine Packung gefunden und es hat mir auf Anhieb geholfen.«

»Das wundert mich irgendwie nicht. Gut, dass niemand weiß, was alles bei uns so ‚öffentlich‘ im Badezimmer herum liegt.» meinte Elisabeth dazu.
»Ich werde gleich Morgen mit Doktor Meierhofer reden. Er soll dir dann einen MRT Termin machen. Spürst du sonst keine Schmerzen?«
»Ich glaube, ich werde mich Morgen krank melden. Es ist nicht gut, wenn Patienten sehen, wie ich mein Gesicht zusammen krampfe und selbst mit dem Auto zu fahren ist auch nicht besonders gut.«
»Mir macht das aber jetzt auch langsam Sorgen. Hoffentlich ist es nichts Ernstes.«

Elisabeth hatte vor Jahren mit Doktor Meierhofer zusammen gearbeitet. Er konnte gleich für den nächsten Nachmittag einen Termin für ihn einrichten und sie hatte beschlossen, ihren Mann zu chauffieren. ER sollte nicht mehr selbst mit dem Auto fahren, bis die Sache geklärt war und nahm dazu eine Woche Urlaub.
Am nächsten Tag fuhren sie zu Elisabeths Klinik. In der Röhre wunderte ER sich darüber, wie wahnsinnig laut die Maschine doch war.
»Kommst du Morgen, am Vormittag? Dann können wir die Bilder gemeinsam ansehen.«
»Ja klar, wann würde es dir am besten passen?« wollte ER noch wissen.
Elisabeth und ER fuhren wieder nach Hause und beschlossen, die ‚Elfen‘ nicht unnötig zu beunruhigen.
Er nahm unterwegs eine weitere Schmerztablette und war froh, dass ER nicht selbst am Steuer sitzen mußte.

An nächsten Tag um Zehn, trafen sie wieder in der Klinik ein. Doktor Meierhofer führte sie in ein Dienstzimmer, das Elisabeth seltsam bekannt vorkam. An der Wand hing immer noch dieses dämliche Bild vom grellbunten Wasserfall, das dermaßen hässlich war, dass sie sich, wie vor längerer Zeit schon öfter, sehr über die Person wundern mußte, die es irgendwann ausgesucht hatte. Ihre Gedanken flogen kurz in unwichtige, sinnlose Richtungen, weil sie instinktiv davor Angst hatte, was jetzt folgen würde.
Doktor Meierhofer hatte eine sehr ernste Miene. Er drehte den Bildschirm etwas nach links und fummelte ein wenig an der Tastatur.

Auf dem Schirm war ein Foto eines Schädels zu sehen. DM meinte, auf eine etwas hellere Stelle unterhalb des Kleinhirnes deutend, dass er eine kleine Anormalität eben dort zu sehen vermute. Auf dem MRT könne man leider nicht besser erkennen, worum es sich handeln könnte, beziehungsweise was, die hellen Stellen bedeuten könnten. Man müsse dazu eine PET (Positronen-Emissions-Tomographie) machen. Ein derartiges Gerät hatten sie hier in der Klinik leider nicht. Er empfahl ihm sich an das Institut zu wenden, das in der Klinik war, in der ER arbeitete. Er werde gleich einen Termin dafür organisieren.

Das waren keine guten Nachrichten. Es gefiel ihm irgendwie nicht, dass ER jetzt in die Klinik mußte, der ER in ein paar Wochen den Rücken zu kehren beabsichtigte.
Der Termin war gleich am nächsten Tag. Elisabeth brachte ihn hin und ER legte sich wieder in die Röhre. Danach saßen sie gemeinsam mit Dr. Hofer, einem relativ neuen Kollegen, den ER nur flüchtig kannte, zusammen, um die Bilder zu besprechen.

Die Diagnose

Die Bilder waren, auch durch das verabreichte Kontrastmittel verursacht, um einiges detaillierter und Aussagekräftiger als die MRT-Aufnahmen. Klar war, dass da irgendwas war, das da nicht hingehörte. Das fiel allen sofort auf.
Elisabeth stockte der Atem. Sie versuchte die Fassung zu bewahren und nach Außen hin keine Regung zu zeigen. ER erinnerte sich beim Anblick der Bilder an seine Studienzeit. ER hatte solche Bilder in Lehrbüchern gesehen und das bedeutete nichts Gutes.
DH befragte ihn nach seinem Befinden und ob ihm in letzter Zeit etwas außergewöhnliches aufgefallen wäre. Er erzählte von ein paar Seltsamkeiten, die erst seit Kurzem in seinem Alltag aufgetreten waren und auch davon, dass ER manchmal Schmerzattacken im Kopf hatte, die extrem stark, aber zum Glück nur von sehr kurzer Dauer waren. Manchmal hatte ER plötzlich Gleichgewichtsstörungen und es wurde ihm dabei leicht übel.

Nach dem längeren Gespräch, wurde allen Dreien immer klarer, dass hier ein Tumor im Kopf saß, der durch Gewebsverdrängung Schmerzen verursachte.
DH sprach vom Rhabdoid-Prädispositions-Syndrom und dass es sich möglicherweise um ein zerebelläres Liponeurozytom handeln könnte. Für eine genaue Klassifizierung wäre aber eine Zellprobenentnahme notwendig, meinte er.
‚Aber die ist jetzt noch eher schwer möglich‘ meinte ER mit etwas Galgenhumor. Für ihn war innerlich mit einem Schlag vieles anders geworden und so viele Dinge wurden mit einem Schlag endlos unwichtig. ER hätte das nie für möglich gehalten. ER fasste Elisabeths Hand, die feucht und kühl war. Dennoch war in diesem Moment, dieses Festhalten derart voll Gefühl und Wichtigkeit, wie ER es selten zuvor gefühlt hatte. ER wäre gerne mit der Hand und mit Elisabeth irgendwo weit weg, in der Schwerelosigkeit, in einem Raum, in dem es weder Zeit, noch Gedanken gibt. Mein Gott, ER wußte nicht warum, spürte aber plötzlich, wie unheimlich stark ER diese Frau liebte und wie groß und wichtig sie für ihn war. Wie ein Rettungsanker, der sich im Felsen verankert hatte um sein Zerschellen an der zerklüfteten Küste zu verhindern. ER vergaß ganz, dass Dr. Hofer auch noch im Raum war und die Luft um ihn war plötzlich zu einer zähflüssigen Masse erstarrt.
»Geht nach Hause, wir besprechen in den nächsten Tagen, wie wir der Sache begegnen sollten. Ich möchte die Bilder noch mit Dr. Hebeis und Dr. Berger besprechen. Wir bleiben telefonisch in Kontakt. OK?«
»gut, machen wir das so.« meinte Elisabeth und sie drückte kurz seine Hand und verabschiedeten sich.

Die Heimfahrt war sehr schweigsam und in jedem der Köpfe waren plötzlich Gedanken aufgetaucht, die völlig neu waren, die so viel änderten; Ideen zerstörten, Prioritäten verschoben und so viele Dinge waren neu zu klären. »Wir müssen den Elfen gegenüber offen sein! Es hat keinen Sinn, ihnen etwas zu verschweigen. Sprechen wir heute am Abend mit ihnen.« meinte ER nach einer Weile. Elisabeth stimmte zu und hatte Tränen in den Augen, die sie um keinen Preis zeigen wollte. Ihr war plötzlich alles so schwer.

Am Abend saßen sie auf der Terrasse. Die Kinder waren dabei und Elisabeth erzählte ihnen von den heutigen Erlebnissen.
»Man müsse erst die kommenden Tage abwarten, um Genaueres über die Sache sagen zu können.« meinte sie abschließend.
Der Abend war lau und friedlich. Grashüpfer zirpten und der Vollmond strich den Hügel, auf der anderen Seite des Sees, entlang. Es folgte eine sehr lange anhaltendes, gemeinsames Schweigen. Jeder mußte versuchen die völlig unerwartete und neue Sache in seinem Kopf in eine vernünftige Ordnung zu bringen. Juli fühlte, dass es sehr ernst war, obwohl sie im Detail nicht genau verstand. Sie wollte aber auch in dem Moment nicht genauer nachbohren, wie es sonst ihre Art gewesen wäre.
Es war Anna, die als Erste meinte, dass sie jetzt ins Bett müsse und Lisa und Juli folgten ihr.
»Es tut mir so leid, für die Mädels« meinte er.
»Ich hoffe, sie kriegen es irgendwie auf die Reihe.«
»Es ist wichtig, dass wir beide jetzt kühlen Kopf bewahren und uns nicht allzu sehr auf die schlimmste Vorstellung konzentrieren. Wir müssen die nächsten Tage abwarten und wir müssen gemeinsam hoffen. Komm‘ gehen wir schlafen.«
Er nahm im Badezimmer vorsichtshalber noch eine Dosis Dihydrocodein ein. Das Zeug ist zu einem wichtigen Begleiter für ihn geworden.

Sie waren so voll Liebe füreinander und hatten Sex. Sie umarmten sich und verschmolzen dabei. Es war schon länger her, dass sie dabei so intensiv empfand und Ihr Orgasmus dauerte gefühlte, durchgehende zwei Stunden. Ganz schwer und müde fielen beide in entspannten Schlaf.

Ein stechender Schmerz weckte ihn am Morgen und ER griff gleich zu den, in weiser Voraussicht am Nachtkästchen platzierten Tabletten und nahm eine davon.
Elisabeth schien noch zu schlafen und ER fuhr mit seinem Mittelfinger ihre Wirbelsäule entlang und schmiegte sich dann ganz eng an sie. Möge dieser Moment doch eine Ewigkeit anhalten, wünschte ER sich.

Ein wunderschöner Tag mit Terrassenfrühstück. Sie genossen gemeinsam die klare Luft und den Blick über den See.
Kann man solche Augenblicke nicht einfach einfrieren? Sie Immer mit sich tragen und bei Bedarf in sie eintauchen und unangenehme Dinge damit von sich fern halten?

Am späten Vormittag kamen sie in der Klinik an. Dr. Hofer hatte zum Glück gleich Zeit für sie und sie saßen wieder in der Kammer mit dem Wasserfall, der die Szene wie eine Grimasse zu beobachten schien.
»Ich habe mir die Bilder mit Dr. Hebeis und Dr. Berger nochmal angeschaut und wir sind zu dem Schluß gekommen, dass es sich um ein zerebelläres Liponeurozytom handeln könnte und denken an die Möglichkeit einer Resektion mit anschließender Chemotherapie. Das würde aber bedeuten, dass wir keine Zeit verlieren sollten. Ich habe mit dem OP gesprochen und wir könnten noch in dieser Woche operieren. Wie denkst Du darüber?«
»Ist es nicht zu riskant? Der Tumor sitzt ja so eng unter dem Kleinhirn?«
»Es gibt da einen Spezialisten, den wir für die OP kommen lassen würden. Wir haben schon bei ihm angefragt und er könnte am Freitag hier sein.«
»Lass mich das mit meiner Frau besprechen. Ich sage Dir dann Bescheid.«
»In Ordnung, aber lass‘ Dir bitte nicht zu viel Zeit, denn der Termin hält nicht besonders lange. Hier ist meine Handynummer. Bitte ruf‘ mich so schnell es geht an.«

Er war froh, dass DH auf das übliche Doktorengeschwafel verzichtet hatte und die Karten gleich auf den Tisch gelegt hatte.
Elisabeth und ER saßen im Vorraum der neurologischen Ambulanz und wägten gemeinsam das ‚Für‘ und ‚Wider‘ eines solchen Eingriffes ab. Letztendlich entschlossen sie sich dafür. Man müsse es einfach machen, da man Fragen, die mit ‚was wäre gewesen, wenn…‘ begönnen, keine Chance lassen wollte.
Er rief DH an und sagte zu. ER solle sich am Donnerstag auf der chirurgischen Station einfinden, damit dann am Freitag die OP stattfinden könne.

Auf dem Weg nach Hause hielten sie bei einer Apotheke um Schmerztabletten zu besorgen, die langsam zur Neige gingen. Zum Glück hatte Elisabeth einen Rezeptblock im Auto.
Die Kinder waren alle schon zu Hause und man verbrachte einen gemeinsamen Nachmittag.

Nach dem Frühstück am nächsten Tag, beschlossen sie, den ‚Hausberg‘ zu besuchen. Ihr Haus lag quasi zwischen dem Berg und dem See und die Seilbahnstation war nur ein paar Minuten entfernt. Sie schwebten auf den etwa 2000 Meter hohen Berg, auf dem es im Sommer angenehm kühl war. Der Himmel war wunderbar makellos und kein einziges Wölkchen Weit und Breit. In wunderbaren Blauschattierungen spannte sich das Himmelszelt über sie und die Luft war klar und wirkte herrlich erfrischend. Zu ihren Füßen lag der See, auf dem sich zahllose Schiffe im Sommerstress tummelten. Dahinter war ein Meer von schroffen Bergen. ER liebte den Platz und ärgerte sich darüber, dass ER viel zu selten hier war.
Früher, als die Kinder noch kleiner waren, waren sie öfter zum Picknick hier.
Ein Schwall netter Erinnerungen folgte.
Sie spazierten ein paar Meter und legten sich ins Gras. Die Szenerie raubte einem jedes mal die Sprache und so lagen sie schweigend und jeder dachte an etwas. Beider Gedanken waren letztendlich vom bestimmenden Thema eingenommen. Sie konnten sich trotz größtem Bemühen nicht davon frei machen. Elisabeth hielt seine Hand. Sie gab Wärme und beide fühlten sich sehr stark verbunden. Gemeinsam werden sie den Weg schon bewältigen, hofften beide.
Der Tag verging voll Melancholie und großer Eindrücke.

Im Krankenhaus

Auf der Station waren schon alle informiert und ER kam in ein Zimmer, in dem ER alleine war. Das war gut so, denn ER wollte mit Niemanden sonst über seine Situation reden und erklären, welche Art OP ER am nächsten Tag erwartete. Elisabeth meinte, dass sie dann nach Hause fahren würde, denn Sie wollte am Abend gemeinsam mit den Kindern wieder kommen.
Das war ihm nicht unrecht, da ER noch eine wichtige Sache zu erledigen hatte. Sie küssten sich und sie ging.

Er rief Dr. Hofer an und fragte ihn, ob er sich eine Stunde Zeit für ihn nehmen könnte, denn ER wolle unbedingt noch etwas wichtiges besprechen. »Aber natürlich. Ich wollte sowieso nachher zu dir kommen.« antwortete er und sie vereinbarten ein Treffen für 16 Uhr.
Er stöberte in seinem Telefonverzeichnis und fand tatsächlich die Telefonnummer von Peter, seinem ehemaligen Studienkollegen. Er war Leiter der Prosektur-Abteilung. ER schilderte ihm kurz die Situation und bat ihn ebenfalls darum sich mit ihm um 16 Uhr zu treffen.
»Ja natürlich komme ich. Sag‘ mir dann wo du bist. Ich habe von deiner Sache gehört und es tut mir so leid. Kopf hoch, es wird schon werden. Ich komme dann, denn hier im Keller rennt mir ja nichts davon.«
Peter hatte irgendwie sein Lebensziel erreicht. Er sprach schon damals in der Studienzeit davon irgendwann in der Prosektur arbeiten zu wollen denn die Ruhe in der Abteilung faszinierte ihn und man konnte kaum etwas irreparabel falsch machen, meinte er immer von einem Lächeln begleitet.

DH und Peter kannten sich recht gut und ER bat sie, mit ihm einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Vor dem Haus war ein kleiner Park gelegen, durch den sie wandern konnten. »Es geht um die Tumor-Resektion, die Morgen bei mir stattfinden soll. Leider liegt das blöde Ding sehr ungünstig und ich möchte euch daher um etwas bitten. Uns ist wohl allen bewusst, welche Probleme bei der OP auftreten könnten. Es wird zwar ein erfahrener Spezialist Hand anlegen, aber man weiß ja nie was letztendlich passieren kann. Sollte irgendwas in die Binsen gehen, bitte ich euch jetzt um einen großen Gefallen.«
Er sah beiden abwechselnd und ernst in die Augen. Sie verstanden schon, worauf ER hinaus wollte und warum Peter dabei war. »Ich möchte niemanden und ganz besonders meiner Frau auf keinen Fall zur Last fallen. Ich würde Dich daher bitten, dass Du mir, sollte es Probleme geben, Pentobarbital verabreichst. Das klingt jetzt auf den ersten Blick extrem aber unter Kollegen und nach etwas Nachdenken stellt es die einzig sinnvolle Konsequenz in einem solchen Fall dar. Das würde sogar meine Frau verstehen, würde sie rationell darüber nachdenken können. Ich kann ihr das aber momentan nicht zumuten.
Deine Rolle dabei ist klar, Peter? Als Kollege möchte ich euch wirklich darum bitten, denn ich würde das Gleiche selbstverständlich auch für euch tun. Bitte versprecht es mir und gebt mir die Hand darauf.«
»Ich vertraue dabei voll auf dich, Peter.« meinte Dr. Hofer.
»Ja, ja« lautete die kurze Reaktion.

Die Operation

Elisabeth und die Elfen waren am Abend zu Besuch, doch es kam kein vernünftiges Gespräch zwischen ihnen auf. Es schien ihm so, als würde die Situation alle heillos überfordern. Es gab so viel Unsicherheit; so viel Ungeklärtes. Morgen am Abend würde doch einiges klarer sein.
Alle waren angespannt und sie sahen ein, dass sie in die Sache, in den Verlauf, keinen Einfluss nehmen konnten. Es blieb ihnen einzig die Hoffnung.
Juli nahm sich vor, in der Nacht zu beten, obwohl Religion in ihrer Familie nie eine besondere Rolle gespielt hatte. Sie spürte aber irgendwie, dass es das Einzige war, das sie tun konnte und sie fühlte sich furchtbar machtlos.

Der Termin war am Vormittag. Schon um neun kam die Schwester und verabreichte die Injektion, die für ihn alles leichter machte. Er hatte nie gewußt, wie sich die Wirkung dieser Prä-Operations-Injektion anfühlte. Sie machte alles leicht und irgendwie auch egal. »Mein Gott, ja. Sollen sie halt tun. Vielleicht hilft es ja und wenn nicht, dann halt nicht.« dachte ER noch, als ER auf den Gang hinaus geschoben wurde.
Der Weg zum OP-Raum wirkte endlos und ewig fuhr ER, in seinem Bett liegend, durch Gänge und fuhr auch mit dem Aufzug um das Stockwerk zu wechseln. Aber das war ihm irgendwie alles egal und nach einer schier endlosen Fahrt erreichten sie letztendlich den OP-Trakt.
Der Anästhesist bat ihn noch, sich auf den Bauch zu legen und er bekam einen Polster unter die Brust geschoben, atmete tief durch die Gesichtsmaske ein und aus und dann war es plötzlich finster um ihn.

Vier Stunden später dämmerte ER langsam wieder zurück in die Welt. Sein Kopf schmerzte stärker als je zuvor und er hätte, hätte ER gekonnt, eine ganze Packung Schmerztabletten geschluckt. ER fühlte eine kleine Pumpe in der Hand und erinnerte sich, dass dies wohl die Morphiumpumpe sein müsse, von der ihm der Anästhesist zuvor erzählt hatte. ER konnte damit die Morphiumzufuhr steuern, um die Schmerzen erträglicher zu machen.
Was ihm aber jetzt irgendwie positiv auffiel war, dass seine Gedanken recht klar und vernünftig klangen, aber es war ihm auch klar, dass dies eine absolut subjektive Beobachtung war und absolut nichts bedeuten müsse. Jedenfalls ließ ER ein Gedankenexperiment zu und überlegte, wie es wäre, wenn ER nur für sich selbst vernünftig und völlig ‚normal‘ war und für die Menschen in seiner Umgebung komplett ausgelöscht erschien. Völlig debil, anormal, reaktionslos, gehirntot und Dr. Hofer würde das Versprechen, dass er ihm gegeben hatte einlösen. - Seltsame Gedanken.

ER wurde dann wieder zurück in sein Zimmer gebracht und zum Glück konnte er die Morphiumpumpe steuern und tat das ausgiebig. Die endlose Fahrt zurück war unerträglich laut und das Rollgeräusch der Betträder erinnerte an einen startenden Düsenjäger. ER konnte sich also daran erinnern, wie Düsenjäger klingen? Na immerhin, dachte er sich. Sowas wie Humor schien es auch noch zu geben, in seiner misslichen; ja elenden Lage. So ritt ER also, auf dem Bauch liegend, auf einem Düsenjäger durch die endlosen Gänge der Klinik und das mit unbekanntem Ziel. Ein Ziel gab es vermutlich schon, aber es war für ihn nicht fassbar. und ER wollte nicht und konnte auch nicht daran denken, wo er jetzt hin gebracht werden würde. ER war völlig ausgeliefert.
Als der Lärm dann plötzlich endete, erschrak ihn das beinahe. Eine beinahe schmerzhafte Stille war plötzlich um ihn, und es schien ihm, als würde das Bett vibrieren. Er hatte sich schon so an den elenden Lärm gewöhnt, dass ihm die nicht mehr vorhandene Geräuschwelt um ihn herum ganz fremd erschien.

Er verabreichte sich noch einen ordentlichen Schuss Morphium und schlummerte weg. Viele Träume waren da, aber wozu? ER sah nirgends Sinn, Inhalt und fühlte, dass keine Kraft da war um Bedeutung in dem Trubel zu erkennen.

Erwachen.

ER hatte seine Augen schon lange nicht mehr offen gehabt und öfnete sie. Es war furchtbar hell und Es schmerzte. <Schuss Morphium> Langsam tauchten aus dem grellen Weiß Schattierungen auf. Elisabeth. Sie saß neben seinem Bett und hielt seine Hand. ER lag noch immer unverändert auf dem Bauch und wollte sich unbedingt zur Seite drehen und etwas sagen. Sein Körper war schrecklich schwer und es war ihm absolut unmöglich, auch nur einen kleinen Finger zu bewegen, geschweige denn, auch nur ein einziges Wort zu sagen.
Wie lange das so ging, konnte er nicht einschätzen.

Elisabeth saß lange bei ihm, fuhr dann aber am späten Abend nach Hause und nahm sich vor, am nächsten Morgen, gleich wenn die Kinder aus dem Haus waren, zur Klinik zurück zu kehren.

Am nächsten Tag, saß sie den ganzen Tag an seinem Bett. Es tat sich nicht viel und ihre Gedanken schweiften weit durch ihre Vorstellungen und Befürchtungen.
»Mein Gott. Hoffentlich geht diese Geschichte gut aus.« dachte sie ganz intensiv in sich hinein.

Erst am späteren Abend begann ER sich langsam zu bewegen und wollte sich unbedingt zur Seite drehen. Es erforderte einen riesigen Kraftaufwand sich überhaupt zu bewegen. Nach einer Weile schaffte er es tatsächlich und es war, als würde eine riesige Last von ihm abfallen.
Er öffnete die Augen und sah Elisabeth. Er versuchte etwas zu sagen, es gelang ihm nicht gleich. und erst nach mehrfachem Versuch, kam ihm ein Gruß über die Lippen.
Das war ja schon ein gutes Zeichen, dachte Elisabeth.
Sie beruhigte ihn und mahnte ihn, sich nicht zu sehr anzustrengen. Sie küsste ihn auf die Stirn und hielt seine Hand fest. Tatsächlich war ER von seinem Kurzexkurs in die reale Welt so erschöpft, dass er gleich wieder einschlief.

Am nächsten Tag erwachte er recht früh und war alleine im Zimmer; alles erschien ihm unwirklich. Elisabeth kam erst am späteren Vormittag zu ihm und zum Glück hatte er sich schon so weit regeneriert, dass er tatsächlich mit ihr sprechen konnte. Sie konnte es kaum fassen. Die Operation war scheinbar ohne Komplikationen geglückt. Er sprach nicht viel, aber was er sagte klang ganz nach ihm. Am Nachmittag kam DH um zu sehen, in welchem Zustand sich der Patient befand. Er war sehr zufrieden, sogar ein wenig erstaunt darüber, wie lebendig ER war. Der Eingriff war ja kein Spaziergang gewesen und er war froh darüber, dass er sein Versprechen nicht einlösen mußte.

Wichtig war jetzt, die weitere Vorgehensweise zu klären. Sie waren sich alle drei recht bald einig darüber, dass mittels einer Chemotherapie schnellstmöglich etwaige Überbleibsel des Tumors bekämpft werden mußten. Laut Pathologiebericht handelte es sich leider um ein bösartiges Gewächs.
Sie setzten den Therapiestart schon für den nächsten Tag an.

Den Abend verbrachten sie entspannt im Krankenzimmer und ER konnte endlich wieder etwas essen und das Bad aufsuchen.

Die Therapie

‘Adjuvant nennt man eine Chemotherapie, die zur Erfolgssicherung nach einer vollständigen operativen Beseitigung des Tumors dienen soll’.
Am nächsten Morgen schon, wurde die Infusion verabreicht. Es war die erste von vielen. ER nutzte die erste Pause dazu, sich die Haare zu rasieren. ER wollte sie nicht unkontrolliert verlieren und telefonierte deshalb auch extra mit Elisabeth. Sie befand es für Okay. Irgendwie unterstrich es aber auch, wie ernst die Lage war und sie werde ihm eine Mütze mitbringen wenn sie dann um die Mittagszeit zu ihm kommen würde. Es war nicht mehr viel da, das abrasiert werden mußte. Die OP-Leute hatten schon sehr großzügig den Operationsbereich kahl geschoren gehabt.
Als Elisabeth kam, war bereits die dritte Ladung am laufen und alles wäre halb so schlimm gewesen, wenn er nicht dauernd ins Bad gemusst hätte. Es war ihm schrecklich übel und Durchfallanfälle peinigten ihn. Er erinnerte sich daran, irgendwann, vermutlich im Zuge seines Studiums, von eben solchen Nebenwirkungen gelesen zu haben.
Ein Honiglecken war so eine Therapie nicht, das war schon klar. Es ging ja immerhin darum, etwaige bösartige Überbleibsel nach der Operation zu eliminieren.
Sein Befinden war elend und ER konnte sich kaum ernsthaft mit Elisabeth über irgendetwas unterhalten. Alle paar Momente mußte er mit dem Infusionsständer umständlich ins Badezimmer poltern.

Elisabeth wirkte sehr still und bedrückt und sie überlegte, ob es überhaupt sinnvoll sein würde, mit den Kindern herzukommen. Sie würden ihren Vater nur in äußerst schlechtem Zustand antreffen und die Nebenwirkungen der Therapie würden Gespräche verhindern. Sie beschloss, entgegen ihrem ursprünglichen Plan, noch das Ende der Therapie abzuwarten. Es wäre für alle besser so, erkannte sie für sich selbst.

Dr. Hofer kam am Nachmittag und Elisabeth war froh, mit ihm ein paar Worte über den weiteren Therapieverlauf wechseln zu können. Drei Tage solle es noch so weiter gehen, meinte er, doch die Erfolgsaussichten waren positiv und er wünschte ihr Mut und Geduld.
Elisabeth war zwar keine Neuroonkologin aber sie war ebenfalls Ärztin und konnte die Ernsthaftigkeit der Situation einschätzen.Solche Therapien waren extrem und sie verlangtem dem Körper alles ab. Es war beinahe unheimlich, in welch kurzer Zeit er abmagerte und irgendwie plötzlich einen vergreisten, ja fremden Eindruck machte.
Die Kinder werden schockiert sein, fürchtete sie und sie mußte sie auf jeden Fall darauf vorbereiten.

Das kam ihr im Moment wichtig vor, obwohl das wirklich Wichtige hier vor ihr im Bett lag. Sie fühlte sich dermaßen machtlos und es gab einfach keinen Weg, um irgendwie zu helfen. Es gab keine Möglichkeit, ihm etwas von dem, das er jetzt durchmachte, abzunehmen.

Sie fuhr am Nachmittag nach Hause. ER wollte das auch so, da sie ihm, wie ER selbst meinte, damit mehr helfen würde. Es war ihm endlos schlecht und ER mußte sich mehrmals übergeben und es war ihm unangenehm, dass Elisabeth das so hautnah miterlebte. ER fühlte, allein sein zu müssen.

Am späteren Nachmittag, als alle Elfen zu Hause waren, saß Elisabeth mit ihnen zusammen. Sie erzählte ihnen davon, wie weit der Körper ihres Vaters durch die Chemotherapie reduziert wurde. ER war kein erbaulicher Anblick und jeder, der ihn besucht solle sich darauf einstellen.
Im Zuge der Therapie war es absolut notwendig, die Vitalfunktionen auf das absolute Minimum zu reduzieren. Je weiter, desto erfolgreicher würde die Therapie sein.

Juli verstand nicht alles, sie wollte ihn einfach sehen. Es war ihr egal, ob er nun Haare am Kopf hatte oder nicht. Ob er dick war, oder dünn. Für sie war sein Wesen wichtig und das vermisste sie sehr stark.

Am Abend trafen alle Vier in der Klinik ein und Elisabeth warnte die Kinder nochmal davor, sich nicht allzu sehr zu erschrecken. Tatsächlich war es noch viel ärger, als sie es erzählt hatte und sie erkannten ihren eigenen Vater einfach nicht mehr. Erst nachdem er sie ansprach, dämmerte es ihnen langsam.
Eine Art Schockstarre durchfuhr die drei Mädchen. Keine davon war resistent gegen ‚nach Aussen sichtbare Gefühlsregungen‘.
Einzig Juli stürzte sofort auf ihn los und umarmte ihn. Sie hielten sich eine Zeit lang und zwischen ihnen floss etwas unbeschreibliches. Vereinfacht könnte man es einfach Liebe nennen. Es war sowas und es war auch nicht wichtig, dafür eine Bezeichnung zu finden. Tränen flossen bei beiden. Sie hatten seit je her eine besondere Beziehung zu einander.

Sie beschlossen, einen gemeinsamen Abendspaziergang zu unternehmen. ER mußte sich dazu in einen Rollstuhl setzen, da er zu schwach war, um weitere Gehstrecken bewältigen zu können.
Sie sprachen über dies und das.
»Zwei Tage werde ich noch aushalten müssen.« meinte ER.
»dann geht es wieder aufwärts, OK?« »wenn Du wieder zu Hause bist, Papa, möchte ich einmal mit dir in der Früh zum See schwimmen gehen. Machen wir das?« fragte Juli. »Ja, mein Goldschatz, wir werden schwimmen.« antwortete ER und spürte eine Träne, die aus den Augen treten wollte, aber nicht konnte. Zu wenig Flüssigkeit vielleicht? Zu wenig Kraft. Einfach zu wenig von Allem, dachte ER.

Die Mädchen hatten sich zum Glück beruhigt. Sie sprachen nicht viel und genossen einfach seine Nähe.
Sogar die Zeit hatte ihre Macht verloren und es war schon stockdunkel, als sie zur Station zurückkehrten.
Der nächste Tag war ein normaler Tag, wie es ihn schon so oft gegeben hatte, und wie es derer noch ganz viele geben werde. Sie beschlossen dann, wieder nach Hause zu fahren. Niemand sprach, während der Autofahrt ein Wort.

Am nächsten Tag fuhr Elisabeth am Abend in die Klinik. Es gab ein langes Händehalten und Schweigen. Es gab keine Sprache mehr und in beiden war ein völlig unbekanntes Gefühl. Jeder war für sich damit beschäftigt, es einordnen zu können, doch es gelang niemanden.
Sie verabschiedete sich mit einem Kuss und drückte ihn sanft.

Das Ende

Am nächsten Tag, sie war mit der Wäsche beschäftigt, es lenkte sie wunderbar ab, Alltägliches zu verrichten, läutete plötzlich das Telefon.
Es war Dr. Hofer und er bat sie, dringend in die Klinik zu kommen. Sie war verwirrt. Sie verstand nicht richtig und fragte nach. DH wiederholte. Sie ließ liegen, was sie eben tat und eilte zum Wagen. Sie fuhr schneller als sonst, es dauerte dennoch eine dreiviertel Stunde, bis sie in der Klinik war.
DH kam ihr am Gang entgegen, nahm ihre Hand und führte sie in den Warteraum, der menschenleer war. Irgendwo an der Wand stand ein Bett.
Er bat sie, sich zu setzen. Voller Ungeduld setzte sie sich auf das Bett, das neben ihr stand und wollte fragen.

»Es tut mir leid, Elisabeth. Dein Mann ist heute in der Nacht verstorben.« Was? Es war, als hätten alle grausamen Vorstellungen, alle schlimmen und negativen Gedanken sich vereinigt und würden mit geballter Wucht über sie hereinbrechen.
Was verstorben, wie? Alles in ihr sackte ab. »Ich bin draußen.« sagte er. Er ging und schloss die Tür hinter sich.

Elisabeth verstand nicht, was eben mit ihr geschah. Was war passiert? Was passierte jetzt? Die Wand, die einfach nur weiß war, schien zu schreien, obwohl es ganz still war.
»Sie soll doch nicht schreien!« , dachte Elisabeth.
Sie soll doch einfach nur sein und dazu einfach weiß. Da begann sich die Wand zu wölben und färbte sich an den Ausbuchtungen gelb. Leer, der Kopf war so leer. Nein, nein. So konnte das ja wohl nicht gehen. Was soll das. Was ist das für ein Theater. Wo war sie denn hier gelandet? fragte sie sich. Sie war überzeugt, dass dies nicht sein konnte. Welchen Sinn hätte denn das alles? Sie, die Kinder, der See, der Garten, das Leben.
Leere und auch keine Schwerkraft mehr. Die Knie waren plötzlich aus Gummi. Würde man ihr jetzt einfach mit einer Machete die Beine abtrennen, würde sie es nicht spüren.
Die Kinder. Was jetzt?

Elisabeth ging dann, vorbei an der Stationszentrale. DH stand dort mit ein paar Krankenschwestern zusammen, aber sie beachtete sie nicht. Sie ging zu ihrem Auto und fuhr los. Erstaunlich, wie das alles funktioniert, dachte sie. Gehen, Atmen, Autoschlüssel finden, Starten, Gas, Bremsen, Blinker betätigen. Sie wusste nicht wohin sie fuhr. Die Straße leitete sie. Einmal links, dann wieder rechts. Egal. Irgendwann kam sie dann zu einem Parkplatz. Warum sie da parkte, wußte sie nicht und stellte den Wagen ab. Vor ihr war ein Baum mit grünen Blättern. So extrem grün, wie sonst selten, doch das war jetzt egal. Was tat der Baum mit all den Blättern bloß? Plötzlich brach ein Schrei aus ihr aus. Tränen schossen aus ihren Augen. Noch ein Schrei. Schluchzen. Hätte jemand die Laute gehört, hätte er sie nicht für menschlich gehalten. Manchmal war es ihr, als müsse sie ersticken. Wenn das letzte Stückchen Luft aus ihrer Lunge für das Schreien aufgebraucht war folgte ein geräuschvolles Einatmen, das ihr zwar das Überleben sicherte, aber derartig laut und unmenschlich klang, dass sie erschrocken wäre, hätte sie Platz für eine derartige Gefühlsregung gehabt. Irgendwann öffnete sie die Türe. Kühle Luft umströmte sie und irgendwie merkte sie, dass die Welt um sie in völliger Dunkelheit lag und vor allem überhaupt noch da war.

Sie mußte zu den Kindern, fühlte sie. Sie fing also schon wieder an, irgendwas zu müssen. Das war eine Entwicklung in Richtung Realität, doch Sie wußte nicht, wo sie war. Ihr Telefon half ihr bei der Orientierung und das Weinen brachte ihr etwas Erleichterung. Das Herumdrücken auf ihrem Telefon hob sie ebenfalls aus dem tiefen Schwarz, das sie umgab. Es hat etwas reales, etwas von dieser Welt. Die Welt um sie schien unverändert, doch ein großes Stück war fort und das verursachte eine Lücke, die schmerzte. Tatsächlich verursachte diese Leere physischen Schmerz.

Der Rest von ihr fand den Weg nach Hause, wo ihre Kinder schon sorgenvoll warteten. »euer Vater ist heute in der Klinik gestorben.« sagte sie ganz ohne ‚Hallo‘. Erst dann ging sie ins Haus und setzte sich in den Schaukelstuhl.

Die Aussage bedurfte keinem Nachfragen. Sie sahen es Elisabeth an, dass etwas fehlte. Alle schwiegen plötzlich und gingen auf ihre Zimmer. Dort tat wohl jeder irgendwas mit dem Umstand und jeder auf seine Weise.
Erst viel später kam Juli herunter und setzte sich auf Elisabeths Schoß. Sie umarmten sich ganz intensiv und niemandem kam ein Wort über die Lippen.
Es gab einfach nichts, das man sagen konnte. Juli sah sehr verweint aus und Elisabeth hatte auch keine Flüssigkeit mehr in sich um weinen zu können. Sie fühlte sich ganz schwer und wußte auch, dass Weinen kaum Erleichterung bringen würde. Es war schon alles verweint.
Das Weinen hatte sie auch auf eine eigentümliche Art erschöpft.

Sie wollte nicht mehr denken und sie wollte auch nicht mehr sein. Sie wollte einfach nur noch schlafen. Nach einiger Zeit, Juli war wieder in ihrem Zimmer verschwunden, ging auch sie ins Bett.
Die Stille und die Dunkelheit und vor allem das leere Bett neben ihr waren bedrückender, als sie sich das vorgestellt hatte. Sie glaubte nicht daran Schlaf zu finden, so sehr sie ihn sich auch herbeiwünschte. Irgendwann aber mußte sie dann doch eingeschlafen sein.

Sie erwachte ganz früh am Morgen. Der Tag begann erst langsam sich zu entfalten. Sie stand auf und machte sich auf den Weg zum See. Dort angekommen zog sie sich aus.
Sie wollte den See spüren. Sie wollte, dass er sie umhüllt, wie er es auch mit ihm getan hatte. Sie sah die Sonne über dem Hügel aufblitzen und schwamm. Sie schwamm, bis keine Kraft mehr da war.

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Lektorat: Vanessa W.
 
A

aligaga

Gast
Hallo Hudriwurz,

schau mal:
Der See war glatt wie ein Spiegel und Nebel hatte sich, einen halben Meter hoch, über ihn gelegt [blue]Hoppala - wenn das so ist, wie könnte man da den "Spiegel" erkennen?[/blue]. Die Sonne, die sich erst [blue]wieso "erst"? [/blue]zaghaft über dem Hügel zeigte, begann den Nebel zu verzehren. Sie schaffte Platz für den neuen Tag, den Trubel, der, wie in den Sommermonaten üblich [blue]echt jetzt?[/blue], bald über den See herein brechen würde.
Jetzt war von dem Wirbel und der Unruhe noch nichts zu bemerken [blue]schau an![/blue]. Der Tag war jungfräulich unberührt [blue]echt jetzt?[/blue].
Es kostete [blue]ihn[/blue] beinahe [blue]wieso nur "beinahe"?[/blue] Überwindung, mit den Händen [blue]geht er auf den Händen ins Wasser?[/blue] die makellose Wasseroberfläche zu verletzen. Mit allen Sinnen, mit jedem Stückchen seiner Haut [blue]wie sollte man sich diese "Stückchen" denn vorstellen?[/blue] nahm ER [blue]wie albERn![/blue] die Kühle auf.
Und so geht's, gängige Klischees doppelt und dreifach bemühend, weiter und weiter - aber eine Kurzgeschichte wird daraus nicht.

Berufliche Werdegänge, Familienalltage, plötzliche Krankheiten und der Tod sind eo ipso Banalitäten, die jedes Durchschnittsleben mit sich zu bringen pflegt. Berichte darüber langweilen oft sogar die nächsten Angehörigen; nur der Autor wähnt seinen Alltag als einen besond'ren.

Diesen grässlichen Fehler machen viele, ja fast alle Schreibanfänger. Sie übersehen, dass die Leserschaft kein Interesse an Rapporten über persönlichen Werdegänge, Krankenberichte, familiäre Zuwächse oder Abgänge Dritter haben kann, sondern stets das Besondere sucht.

Leider findet sich in diesem schlichten Text nichts, was den Leser vom Hocker risse, mag der Autor auch noch so ergriffen sein von dem, was er da schreibt. Das liegt nicht nur daran, dass die gewählten Klischees so abgenudelt sind, sondern auch daran, dass der Text sprachlich nichts hergibt und nirgends reflektiert wird. Alles bleibt hübsch an der Oberfläche; unter die Haut geht nichts.

@Ali rät dir, vor der Abfassung eines nächsten Textes erst mal innezuhalten und dich zu fragen, was du deinen Lesern denn vermitteln möchtest. Wenn du willst, dass sie sich über den Tod eines Proatgonisten grämen, müsstest du ihn so zeichnen, dass ihn die Leser zuvor liebgewinnen konnten, und wenn der Verlustschmerz der Hinterbliebenen für Dritte fühlbar werden soll, müssen letztere davor erkannt haben, was an der Beziehung denn so wertvoll gewesen ist.

Deine "kurze Geschichte" ist ein elend langer Bericht, voller überflüssiger Requisiten, Dopplungen und Selbstverständlichkeiten. Über Metaphern wie Seen, über Schlussakkorde, über Leben und Tod ließe sich wesentlich kürzer unendlich viel mehr sagen: Literatur beginnt erst dort, wo die Gesschwätzigkeit aufhört.

TTip: Viel von anderen Autoren lesen. Das meiste hier ist zwar nicht viel besser als dein Versuch, aber ab und zu finden sich Goldstücke unter dem vielen Blech. Du erkennst sie sofort am Glanz. An denen orentier dich! Dann könnz sein, dass es am End' doch noch was wird. Ansätze, meint der böhse @ali, wären ja durchaus vorhanden.

Heiter

aligaga
 

Hudriwurz

Mitglied
wir werden schwimmen

Es muß aber auch nicht immer knallen, rauchen und pfeifen. Nicht für jeden Leser zumindest. Für mich persönlich knallt, raucht und pfeift die Geschichte allerdings (aber das ist natürlich extrem subjektiv. Ich entschuldige mich bei allen Lesern). Das Schicksal hat (vor 2 Jahren etwa) Elisabeth tatsächlich ihren Lebenspartner unter'm Arsch weg gezogen. Nur 6 Wochen nach der Diagnose. Meine nächste Geschichte ist bald fertig und sie ist wieder furchtbar langweilig (fürchte ich). Es geht wieder um eine 70% wahre Geschichte, die das Leben schrieb. Das Leben ist voller Klischees...
 
A

aligaga

Gast
wir werden schwimmen

Es muß aber auch nicht immer knallen, rauchen und pfeifen. Nicht für jeden Leser zumindest. Für mich persönlich knallt, raucht und pfeift die Geschichte allerdings (aber das ist natürlich extrem subjektiv. Ich entschuldige mich bei allen Lesern). Das Schicksal hat (vor 2 Jahren etwa) Elisabeth tatsächlich ihren Lebenspartner unter'm Arsch weg gezogen. Nur 6 Wochen nach der Diagnose. Meine nächste Geschichte ist bald fertig und sie ist wieder furchtbar langweilig (fürchte ich). Es geht wieder um eine 70% wahre Geschichte, die das Leben schrieb. Das Leben ist voller Klischees...
Die meisten Geschichten, die das Leben schreibt, sind nicht furchtbar spannend, sondern furchtbar langweilig. Subjektiv sind Geburten, gehobene Berufsbaschlüsse, Pleiten, Lottosechser, Krankheiten und der Tod natürlich immer was ganz Dolles; Leser gähnen aber, wenn sie nur das aufgetischt bekommen - das kennen sie, wie gesagt, alles schon selbst bis zum Abwinken.

Banale Inhalte können durchaus interessant werden, wenn der Autor sie reflektiert, statt sie nur darzustellen; wenn er aus den Niederungen von "Setzen, Stellen, Legen" in eine höhere Ebene kommen und uns Sichten zeigen kann, von denen wir vorher gar nichts wussten.

Du machst den gleichen Anfängerfehler wie der guhte kinAski, der wie du dachte, mit seiner Bio-Grafie an eine Leserschaft zu gelangen. Jetzt schau, wer den Schmarren noch liest ...

TTip: Nicht bloß davon plappern, was war. Sondern uns erkennen lassen, dass du dir dabei was gedacht hast.

Heiter

aligaga
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Hudriwurz,

es ist leider ein weit verbreiteter Irrtum, dass Geschichten nur deshalb gut sind, weil sie (fast) wahr nacherzählt werden. Trotz des tragischen Inhalts finde ich Deine Geschichte sehr langweilig und dieses permanent groß geschriebene ER nervt.

Die Tragödie verschwindet dahinter völlig.

Du solltest Dich auf einen Ausschnitt konzentrieren und diesen so präsentieren, dass seine Wucht den Leser umhaut und ein unerhörtes Ereignis spüren lässt.

Viele Grüße,

DS
 
A

aligaga

Gast
Schlechter Ratschlag, @Hudriwurz.

Krankheiten und der Tod sind, wie schon gesagt, keine Tragödien eo ipso, sondern werden nur subjektiv so empfunden - Ärzten und PfelgerInnen, den Bestattern und Sterbeanzeigen-Akquisitören und, gehen sie am Allerwertesten vorbei. Und ganz besonders dem Publikum, wenn du es mit deinem Geschreibsel nicht betroffen machen kannst. Mit Texten wie dem Gegenständlichen wird das nix!

In der Literatur geht's ebengerade nicht um das möglichst laute Geräusch. Kunst bemisst sich nicht in Kilogramm und Dezibel, wie manche wähnen. Laut furzen kann jeder Elefant, jeder Affe und sogar die da.

Literatur langweilt nicht, auch wenn sie ganz leise daherkommt. Aber Vorsicht: sie kann süchtig machen!

Nochmal der TTip: Lesen. Lesen! Es gibt sogar hier ein paar G'schichterln, die gar nicht schlecht sind. An denen halt dich fest!

Heiter

aligaga
 

MicM

Mitglied
Hallo Hudriwurz,

die Kritik der Voranmerkenden ist aus meiner Sicht (leider) berechtigt. Dennoch gibt es aus meiner Sicht auch Positives:
- Die Geschichte hat ein sehr plausibles und stimmiges Korsett (vermutlich weil sie biografisch orientiert ist). Das Problem bei frei erfundenen Geschichten (gerade bei Anfängern) ist ja häufig, dass die Ideen sprudeln, nicht ausreichend recherchiert wird und schon bald vorne und hinten nichts mehr zusammenpasst (falsche Zeitabläufe, logische Brüche, fehlerhafte Fakten etc.). Hier ist bspw. die Abfolge der medizinischen Untersuchungen, die Befunde u.ä. aus meiner (Laien-)Sicht sehr plausibel. Nach meinem Geschmack sind es zwar etwas zu viel medizinische Details, was aber nur stört, weil die Geschichte dazwischen sehr dürftig ist (siehe Voranmerkende). Jedenfalls hast du schon ein Korsett, um die "richtige" Geschichte zu entwickeln.
- Ich finde, dass der Text keine reine "Nacherzählung" ist, sondern durchaus das Bemühen spürbar ist, aus einer Lebenserfahrung eine Geschichte zu basteln. Dass das noch nicht beim ersten Mal gelungen ist, ist ja nicht so schlimm. Der erste Schritt ist gemacht.
- Es gibt einiges Potenzial in den Figuren. Es sind ja bspw. wohl zwei passionierte Mediziner mit Medizinerfreunden. Sie verhalten sich gegenüber der Krankheit und dem Tod aus meiner Sicht aber sehr "laienhaft". Müsste das nicht anders sein? oder eben doch nicht? Es gibt wohl einen sehr liebvollen Umgang miteinander in der Familie (Stichwort meine "Elfen") - wie gehen sie also mit der Situation um (außer einmal feste in den Arm nehmen)?

Was aus meiner Sicht beim Lesen aber störte (neben dem bereits Gesagten):
- Das permanente ER ist wirklich sEhR (!) nervig. Das passt als Stilmittel vielleicht zu einer Psycho-Geschichte oder sonst etwas, wo der Prot gesichtslos bleiben soll. Hier aber braucht der Prot ganz dringend ein "Gesicht".
- Auch das Abkürzen der Doktoren als "DH" etc. finde ich nicht gelungen.
- Dein ausdrücklich genanntes "Lektorat" hat leider (ebenfalls) nur halbe Arbeit verrichtet. Es sind noch viele Flüchtigkeitsfehler im Text (Groß-/Kleinschreibug, Interpunktion etc.). Bspw. wenn die direkte Rede mit einem Punkt endet, kann danach kein Komma und ein Verb kommen (entweder Punkt oder Komma).

Soweit einige der Dinge, die mir aufgefallen sind. Vielleicht hilft es dir.

Auf bald,
MicM
 
A

aligaga

Gast
Es macht wenig Sinn, das bisher schon Gesagte nochmal nachzuplappern und in dem Autor die Hoffnung erwecken zu wollen, es läge wesentlich an der (ja auch schon beanstandeten) Form denn am drögen Inhalt.

Hudriwurz sollte erkennen können, das dass es weniger an der Art, denn am Inhalt fehlt. Er braucht einen besseren Ansatz, und er muss lernen, wie man reflektiert. Das geht nur, wenn er viel liest und offen für Beispiele ist.

Sonst ist ihm nicht zu helfen.

Heiter wieder weiter

aligaga
 

Hudriwurz

Mitglied
Wi werden schwimmen

Vielen herzlichen Dank für Deine Kritik, MicM

Ich bin unheimlich dankbar, für jede Meinung dazu. Bin ja komplett neu in der Welt hier.
 

MicM

Mitglied
Sehr gerne, Hudriwurz. Es kann nie schlecht sein, offen für jedwede Kritik zu sein, das zu nehmen, was einem hilft, und anderes zu ignorieren. Denn vom Allwissenden bis zum Anfänger, vom einfachen Leser bis zum erfahrenen Lehrmeister sind hier allerlei Leut' unterwegs...

Also, nur Mut und vor allem viel Freude bei deinem Weg!

Auf bald,
MicM
 
A

aligaga

Gast
Beschreibe ein privates Weltereignis so, dass es andere auch interessiert, lieber Hudriwurz.
Wow! Was für genialer, noch nie ausgeteilter Rat-Schlag! Jetzt musst du dem Adepten nur noch erklären, wie genau man das denn machte. Warum empfiehlst du ihm nicht @alis "Häuser am FLuss II"? Da wird gelitten und gestorben, dass es eine Art hat - und das Publikum lief nicht davon, sondern bleibt immer noch am Ball.

Natürlich könntest du @Hudriwurz auch Kafkas "Verwandlung" ans Herz legen, wo aus der Depression das Ungeheure wächst, "Schuld und Sühne", wo man lernt, dass man der Erbsünde nicht entkommen kann, oder Spyris "Gritlis Kinder", wo's kein Happy End gibt wie bei "Heidi".

Aber das ist altmodisches Zeugs. Da leiden sterben die Leuz noch daheim, in einer vergangenen Zeit. Bei @ali tun sie's in der Gegenwart und zeigen dir, dass im Leid und im Tod nicht nur Jammer liegt, sondern oft noch was ganz anderes.

Heiter in die Sonne blinzelnd den Schmähungen ob der ungeheuerlichen "Eigenwerbung" entgegensehend

aligaga
 

ahorn

Mitglied
Wow!
Der Autor von Häuser am Fluss auf Augenhöhe mit Dostojewski und Kafka!
Da blieb ich lieber auf dem Niveau von Benjamin Blümchen, sonst treffen mich die Schriftsteller, wenn sie sich im Grabe umdrehen.

Wer nichts zu lachen hat, ist ein armer Wicht, denn er lacht nicht über sich.
Ahorn
 
A

aligaga

Gast
Kann dem böhsen @ali mal jemand verraten, wie man nicht nur aus fremden, sondern auch aus eig'nen Werken ungehindert zitieren könnte, wenn's der Sache diente? Was hätte das mit "Eigenwerbung" zu tun? Bei wem denn und wofür? @Ali bekommt von niemandem Geld für seine Bemühungen und hat auch sonst keine Vorteile dadurch.

Bei dem hier in Rede stehenden Text handelt sich's, wie schon ausführlich gesagt, um einen unbeholfen geschriebenen, drögen und unreflektierten Krankenbericht.

Wie anders man so etwas darstellen und wie aus einem schlichten Bericht lesbare Literatur werden könnte, haben nicht nur Kafka, Dostojewski und Spyri gezeigt, sondern auch der böhse @ali bewiesen - offenbar sehr zum Missfallen einiger "Kollegen".

Daher nochmal die Frage: Wie weist @ali ungestraft drauf hin, dass etwa in "Das Seezeichen 22" ff der "Häuser am Fluss II" genau das Thema ist, worum es hier geht? Dass dort exemplarisch gezeigt wird, wie man sich diesem schwierigen Thema nähern könnte, ohne bloß mit den Krankenakten zuzuschlagen? Dass der Tod zum Leben gehörte und dass auch da der Moment zählte, nicht bloß irgendein Grundsatz?

@Ali glaubt, dass der (berechtigte) Hinweis auf eigene Werke keinen Missgriff darstellte, sondern ein sehr wirksames Adjuvans sein könnte, wenn tatsächlich jemand an sinnvoller, substanzieller Kritik seines Werkes interessiert wäre.

Offenbar hat man hier kein Interesse daran. Welches vertritt man denn dann?

Heiter wie je

aligaga
 

Hudriwurz

Mitglied
wws

Die Dinge die wahr sind:

Er war dabei eine Kinderarztpraxis einzurichten.
Sie hatten 3 Töchter.
Der Garten war tatsächlich verwildert.
Sie wohnten in der Nähe eines Sees.
Ganz in der Nähe des Hauses befand sich eine Seilbahn.
Er starb 6 Wochen nach der Diagnose
 

Hudriwurz

Mitglied
Elisabeth

Ich treffe in 3 Wochen auf Elisabeth und bin extrem gespannt.
Wird sich eine neue Geschichte finden? 'Das Leben danach?'
Ich werde wieder schreiben.
 

Hudriwurz

Mitglied
wir werden schwimmen

Danke für die Kritiken. Es war meine erste Geschichte und ich freue mich trotzdem, dass sie von so vielen Leuten gelesen wurde. Vielen Dank nochmals an Alle.
 



 
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