Hey wirena!
Tut mir Leid, dass sich die Fadenwiederaufnahme auf meiner Seite etwas in die Länge gezogen hat... jetzt versuche ich mich also daran, aus meinem gerade etwas unaufgeräumten Enzephal-Zettelkasten etwas herauszufischen, mit dem man womöglich etwas anfanhen kann (???).
Also, wenn wir jetzt nach obigem Abgleich davon ausgehen, dass die Prämisse lautet:
- Der Text soll ein im weitesten Sinne literarischer Versuch sein
und
- Das Grundthema lautet: Zeit
, dann stellen sich m. E. zunächst einmal zwei Fragen:
Erstens: Warum beschäftigt Dich das Thema Zeit gerade? Und
zweitens: Wie unterscheidet sich ein literarischer Versuch über die Zeit von einem Sachtext zum selben Thema?
Bei der
ersten Frage dreht es sich weniger um den akuten Auslöser des Schreibimpulses (das könnte z. B. ein kurzer Radiobeitrag zum Thema Zeit gewesen sein), sondern es geht um die Frage, warum der Impuls gerade bei diesem Thema bei Dir "gezündet" hat. Vielleicht geht es um eine biographische Reflexion zu diesem Thema, weil Deine Eltern langsm "alt" werden oder Du selbst irgendwelche "Zipperlein" verspürst (Du musst auf diese Überlegungen nicht antworten

). Vielleicht hat es aber gar nichts Biographisches mit dem Thema auf sich, vielleicht geht es eher um die aktuellen "Zeitläufe", wie sie sich in den Nachrichten spiegeln. Oder es geht um noch etwas anderes, meinethalben Alltagserfahrungen, dass verschiedene Menschen Zeitdauern ganz unterschiedlich erleben. Oder es ist doch eher ein abstraktes Interesse, gespeist von der Frage, wie es eigentlich sein kann, dass jeder Mensch einen gewissen intuitiven Zugang zur physikalischen Grösse "Zeit" hat, dem aber die Modelle der Physik telweise recht fundamental widersprechen.
Letztlich ist es ziemlich egal, welche Antwort Du auf die erste Frage, also die nach der Schreibmotivation, findest, aber in irgendeiner Weise solltest Du das für Dich geklärt haben, damit Du erkennen kannst, wenn der Text eine Art Eigenleben entwickelt und sich von dieser Ausgangsmotivation entfernt. Wohlgemerkt: Es geht nur drum, das zu bemerken - "zurückpfeifen" musst Du den Text keineswegs, wenn er plötzlich, Du weisst auch nicht warum, einen oder mehrere Haken schlägt und sich (teilweise) Deiner Kontrolle zu entziehen beginnt. Oft sind solche Texte die wertvollsten! Allerdings verlangen sie nicht selten eine gewisse Nachreifzeit, in der man das Endprodukt auf sich wirken lässt, um zu sehen, ob man dem Text bei seiner "Emanzipation" noch etwas helfen kann. Es hat dann ein bisschen was von Kindern, die Flügge werden.
Für die "Technik" des Schreibens ist die
zweite Frage die wichtigere: Bei einem Sachtext geht es ja darum, Fakten verständlich rüberzubringen. Aber worum geht es in der Literatur? Es gibt hier sehr viele Antworten und je nach Literaturgattung existieren dann auch nochmal schwerpunktmässige Unterschiede, aber zumindest für die Lyrik ist m. E. eine der kürzesten (wenn auch unvollständigen) Antworten: Es geht um Schönheit. Entweder im altmodischen Sinn, dass man tatsächlich versucht, einen
"schönen" Text zu schreiben (etwas in zeitgenössischer Lyrik Unerhörtes, weshalb es in neuerer Zeit wieder vermehrt versucht wird) oder im "klassisch-modernen" Sinn, indem man den
Verlust von Schönheit "besingt" oder in noch etwas modernerem Sin, indem man einen Text schreibt in dem Wissen, dass "Schönheit" etwas Unerreichbares ist, dem man sich am einfachsten im
gescheiterten Annäherungsversuch zuwenden kann.
Wie gesagt, dieser "Schönheitskomplex" umfasst noch nicht alles und man kann ihn auch in Prosa-Literatur und im Drama durchaus dingfest machen, er ist also noch nicht Lyrik-spezifisch. Was bei der Lyrik noch hinzukommt, ist dass bei dieser Literatur-Art eigentlich immer (meist) eine gewisse subjektive Schwingung mit an Bord ist, eine gewisse "Ich-haftigkeit". Das heißt (natürlich!) nicht, dass ein Gedicht immer in der ersten Person geschrieben sein muss (Erlkönig, Mondlied von Claudius, Panther von Rilkeusw. usf.), aber i. d. R. hat man beim Lesen eines Gedichts irgendwie im weitesten Sinne meist den Eindruck einer Art Augenzeugenbericht beizuwohnen oder tatsächlich eine Tauchfahrt in ein lyr. Ich zu unternehmen. Und als letzten Punkt kann man ins Feld führen, dass Gedichte immer auch ein kleines bissel eine Sagbarkeitserforschung betreiben, dass sie sich also für Bereiche der Sprache interessieren, die neben dem reinen Mitteilungscharakter noch irgendetwas (aus Sicht der Normalsprache) "Unkonventionelles" bieten, z. B. einen Reim oder ein Metrum oder Metaphern oder Neologismen oder ungrammatische Formulierungen oderoderoder.... einige dieser "Ungewöhnlichkeiten" finden wir natürlich auch ab und zu mal in der Normalsprache, etwa in Redewendungen oder in der Werbung oder in Fachsprachen, aber es ist in unserem normalen Reden nicht so bestimmend wie in der Lyrik.
Wenn ich jetzt diese meine (diskutablen) Ausführlichkeiten auf Deinen Text anwende, so finde ich, dass er keinen besonderen Willen zur Auseinandersetzung mit dem Aspekt der Schönheit besitzt, keine besonders subjektive Einfärbung aufweist und abgesehen von den von mir oben schon erwähnten Zeilenumbrüchen auch keine ambitionierten Sprachgestaltungsmittel beinhaltet. Insofern ist es für mich eher eine zeilenumbruchsbetonte und stichpunkthafte Notiz ohne literarischen Anspruch, aber kein Gedicht. Um den Text zu "lyrifizieren" könnten z. B. subjektive und konkrete (!) Alltagserfahrungen (die durchaus fiktional sein dürfen) eingebunden werden und der Text könnte entweder sprachlich unkonventioneller gestaltet werden oder inhaltlich die Sphäre des Altbekannten verlassen (dabei darf er auch den Bereich des Logischen und Möglichen hinter sich lassen).
LG!
S.