Zeitgeistkrankheit

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Tim Weber

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Nachtrag zu deinem Mittelstück: Dass so Superman- bzw. Superwomen Träume recht typisch für unsere Zeit sind, würde mich nicht überraschen. Man lebt halt zunehmend überall und gleichzeitig im nirgendwo. Man könnte sagen: Im synchronen Dasein, der digitalen Zeit, muten die Distanzen an wie Hirngespinste aus vergangenen Epochen. :)
 

petrasmiles

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Lieber Tim,

den Begriff des 'synchronen Daseins' habe ich schon beim ersten Lesen nicht verstanden und was die 'digitale Zeit' mit dem Menschsein zu tun hat, auch nicht. Vielleicht hat das was mit der Lebenswirklichkeit von Dir und mir zu tun, die sich stark unterscheiden.
Vielleicht hatten die Digital Natives keine Chance, sich dem zu entziehen, was Du 'digitale Zeit' nennst und als 'synchrones Dasein' empfindest. Ich schon. Ich habe darauf geachtet, wer sich alles in meinem Dunstkreis aufhalten darf, welche Werbebotschaften verschiedenster Couleur, welche Informationsschnipsel, die als Nachrichten von Weltgeltung oder 'Freunden' stammen, meine Aufmerksamkeit erregen und binden dürfen.
Darum habe ich auch nicht das Gefühl, 'überall und gleichzeitig im nirgenwo' zu leben.
Der Mensch ist 'analog', er kann gar nichts anderes sein, ohne sein Menschsein zu verlieren. Man sollte nicht von seinen Lebensumständen - die in diesem Zusammenhang offenbaren, wie wenig sie dem Menschen dienen - auf seine Natur schließen.
Du kratzt noch an der Oberfläche, mein Guter.

Liebe Grüße
Petra
 

Tim Weber

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Nun ja, wenn man schon mit dem Begriff synchrones Dasein Schwierigkeiten hat, dann weiß ich auch nicht weiter. P.S. Nur zwei bekannte Leute hierzu: Ein Hauptthema von Peter Sloterdijk war/ist der Synchronisierungsprozess in der Moderne bzw. Postmoderne. Oder aber Harald Welzer. Der wird auch nicht müde darauf hinzuweisen, dass die Welt nicht vielfältiger sondern immer homogener wird. Kritiker dieser Prozesse gibt es mittlerweile allerdings recht viele. Daniel Feige z.B., um nur einen weiteren zu nennen. Es geht soweit, dass einige sogar denken, dass die Ängst der Leute (die du ja auch in deinem Mittelstück thematisiert hast) z.B. nicht auf den Krieg in der Ukraine oder aber auf den Klimawandel zurückzuführen sind, sondern mit dem Digitalisierungsprozess (soziale Medien und so) korrelieren (genauer: nicht nur korrelieren sonder ursprünglich damit zusammenhängen). Der New Yorker Sozialpsychologe Jonathan Haidt ist so seiner. LG, Tim
 
Zuletzt bearbeitet:

trivial

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... ging mir so spontan durch den Kopf, als mein: "da mach ich nicht mit Reflex" ...

Der Begriff Synchronisierungsprozess der Moderne setzt in sich bereits eine Vergleichbarkeit voraus – ein gemeinsames Maß, von dem aus überhaupt synchronisiert werden kann, und eine prinzipielle Angleichbarkeit der Beteiligten. In diesem Sinne ist er normativ: Er setzt bereits das voraus, was er zu beschreiben vorgibt.

Ich las letztens den Begriff Inkommensurabilität, der Unvergleichbarkeit, den ich mal ganz intuitiv und provokant als Gegenthese zu einer Synchronwelt setzen würde – als renitenten Aufruf, das scheinbar Offensichtliche nicht als zwingend gegeben hinzunehmen; als etwas, das sich nur mit Gewalt synchronisieren lässt.

Das ist nicht so provokant gemeint, wie es eventuell klingen mag, sondern richtet sich gegen die Selbstverständlichkeit, dass aus Vernetzung notwendig Synchronität entstehen müsse.

Liebe Grüße
Rufus
 

petrasmiles

Mitglied
Nun ja, wenn man schon mit dem Begriff synchrones Dasein Schwierigkeiten hat, dann weiß ich auch nicht weiter.
Schade, dass Du Dich jetzt nur zu Wort gemeldet hast zu dem, was ich nicht 'verstanden' habe, aber meine ganz andere Sicht auf die Dinge und meine Argumente unberücksichtigt gelassen hast. So setzt sich doch eigentlich Nachdenken in Gang.
Was soll mir Sloterdijk oder Welzer and all the rest - von beiden finde ich manches gut, manches weniger. Macht es mich zu einem besseren Menschen, wenn ich mich auf sie beziehe? Weiß ich dann mehr, außer, was sie denken? Die Gefahr, dass man so in selbstbespiegelnde Thesenhuberei verfällt, sehe ich durchaus.
Aber wenn die Oberfläche von so bekannten Namen flankiert wird, dann kann man sich da auch wohlfühlen, und das gönne ich jedem!

Liebe Grüße
Petra
 

Tim Weber

Mitglied
... ging mir so spontan durch den Kopf, als mein: "da mach ich nicht mit Reflex" ...

Der Begriff Synchronisierungsprozess der Moderne setzt in sich bereits eine Vergleichbarkeit voraus – ein gemeinsames Maß, von dem aus überhaupt synchronisiert werden kann, und eine prinzipielle Angleichbarkeit der Beteiligten. In diesem Sinne ist er normativ: Er setzt bereits das voraus, was er zu beschreiben vorgibt.

Ich las letztens den Begriff Inkommensurabilität, der Unvergleichbarkeit, den ich mal ganz intuitiv und provokant als Gegenthese zu einer Synchronwelt setzen würde – als renitenten Aufruf, das scheinbar Offensichtliche nicht als zwingend gegeben hinzunehmen; als etwas, das sich nur mit Gewalt synchronisieren lässt.

Das ist nicht so provokant gemeint, wie es eventuell klingen mag, sondern richtet sich gegen die Selbstverständlichkeit, dass aus Vernetzung notwendig Synchronität entstehen müsse.

Liebe Grüße
Rufus
Hallo trivial,

nein, Provokation lese ich aus deinen Zeilen nicht heraus. Eher Leidenschaft. Bei Petra lässt es sich allerdings darüber streiten. Denn wie soll man ihren Hinweis (Kratzen an der Oberfläche) bei diesem Thema (Auswirkungen der digitalen Vernetzung) anders deuten? P.S. Ja, ich denke, dass Sprache, Vorstellungen und Gedanken sich zunehmend angleichen. Ein Satiriker könnte sagen: Selbst der indigene Umweltaktivist aus dem tiefsten brasilianischen Urwald spricht mittlerweile mit einer Selbstverständlichkeit über den intersektionalen Sexismus als den eigentlichen Grund für die Umweltzerstörung, als lägen die Wurzeln seiner Identität nicht im Regenwald, sondern in einem Internetseminar mit Luisa Neubauer. :) Gruß, Tim
 

petrasmiles

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Lieber Tim,

aber mitnichten war das als Provokation gedacht.

Ich denke nur, wie grenzt man sich ab, Teil dieses Stromes zu sein, der diese Nivellierungen bewirkt, wenn man mit ihm argumentiert. Das mag banal klingen, aber ich sehe das auf einer sehr viel persönlicheren Ebene als Du, nämlich, wo trage ich bei bzw. bin Teil davon. Und wie sehe ich andere?
Ich glaube, der Satiriker hätte Unrecht und einen schlechten Scherz gemacht, denn der brasilianische Umweltaktivist hat andere Themen, die ihn beschäftigen - wenn er überhaupt Teil dieser Blase wäre. Schon im thematisch vernetzten 'Westen' werden Themen, die im eigentlichen Interesse der Menschen wären, ausgeblendet zugunsten künstlich gehypter Aufregerthemen. Der Hintergrund dieser Vernetzung sind wirtschaftliche Interessen - am Anfang von Facebook stand die Absicht, eine Platform zu generieren, in der Menschen zusammengeführt werden, um Daten zu generieren und gezielte Werbung platzieren zu können. Dann kamen die Inhalte, weil die Menschen nun einmal oberflächliche Plaudereien lieben, die möglichst wenig mit ihrem Alltag zu tun haben. Dann kam die political correctness und die cancel culture - da haben sich also der Stammtisch und die Kaffeekränzchen und der Mob ins Internet begeben. Wie ernst möchte ich das nehmen? War ich je Teil von Stammtisch, Kaffeekränzchen oder habe ich öffentlichen Hinrichtungen beigewohnt?
Rein philosophisch beschreibend dieses Thema zu begleiten - oder seine Gedankensplitter zu verschriftlichen - ist für mich an der Oberfläche zu kratzen. Das ist keine Bewertung, sondern eine Schlussfolgerung. Man bleibt im System - das ist mein Ansatz. Vielleicht ist das auch die Ursache für Deine Diagnose mit der schwindenden Distanz, weil man sie nicht hat, wenn man Teil des Systems ist. Lese Letzteres bitte als Frage.

Liebe Grüße
Petra
 

trivial

Mitglied
Genau an deinem Beispiel würde ich – wenn es denn so ist; da fehlt mir die Erfahrung – sagen, dass nur die Oberfläche angeglichen wird, während die Substanz inkommensurabel bleibt. Gerade deshalb muss Synchronität immer wieder aktiv hergestellt werden, und genau dabei spaltet sich Substanz vom Pseudo-Subjekt, von dieser ausgelagerten Identität.
Die Beobachtung von Homogenisierung macht in meinen Augen den Fehler, dass ihre empirisch saubere Induktion auf einer impliziten subjektphilosophischen Deduktion beruht.
Sie beobachtet Muster und überführt sie in gesellschaftliche Phänomene, sieht dabei aber das einzelne Subjekt als kleinsten Teil der Gesellschaft – und nicht die Gesellschaft als Emergenzphänomen des Individuums.
Diese Deduktion setzt Vergleichbarkeit und Angleichbarkeit voraus
und macht Inkommensurabilität nur als Abweichung sichtbar,
nicht als konstitutive Substanz des Sozialen.

Deshalb denke ich, dass es instabile Oberflächenphänomene sind, die sich an ihren eigenen Widersprüchen und Spannungen selbst zersetzen.
 

Tim Weber

Mitglied
Genau an deinem Beispiel würde ich – wenn es denn so ist; da fehlt mir die Erfahrung – sagen, dass nur die Oberfläche angeglichen wird, während die Substanz inkommensurabel bleibt. Gerade deshalb muss Synchronität immer wieder aktiv hergestellt werden, und genau dabei spaltet sich Substanz vom Pseudo-Subjekt, von dieser ausgelagerten Identität.
Die Beobachtung von Homogenisierung macht in meinen Augen den Fehler, dass ihre empirisch saubere Induktion auf einer impliziten subjektphilosophischen Deduktion beruht.
Sie beobachtet Muster und überführt sie in gesellschaftliche Phänomene, sieht dabei aber das einzelne Subjekt als kleinsten Teil der Gesellschaft – und nicht die Gesellschaft als Emergenzphänomen des Individuums.
Diese Deduktion setzt Vergleichbarkeit und Angleichbarkeit voraus
und macht Inkommensurabilität nur als Abweichung sichtbar,
nicht als konstitutive Substanz des Sozialen.

Deshalb denke ich, dass es instabile Oberflächenphänomene sind, die sich an ihren eigenen Widersprüchen und Spannungen selbst zersetzen.
Ja, ich beobachte. Auch Prozesse an mir selbst. In dem Sinne sehe ich mich als Phänomenologe. Und klar gibt es Oberflächenphänomene, die auch wieder verschwinden werden. Aber mit philosophioschen Spielereien auf Sprachebene kommt man bei diesem Thema wohl nicht weiter. Homogenität (räumliche Translationsinvarianz) lässt sich als Entwicklung über längere Distanzen beobachten. Nimm alleine die Architektur als Beispiel. (Weiß man noch, wenn man in einem Hotel in einer City aufwacht und auf die Skyline schaut in welcher Stadt oder welchem Land man sich befindet?) Synchronität (zeitliche Translationsinvarianz) ebenfalls. Ich bleibe beim Beispiel des Indigenen. Wie viele wirklich grundverschiedene Welt- bzw. Kulturmodelle gibt es denn eigentlich noch. Hat z.B. der Afrikaner heute noch eine andere Sichtweise als beispielsweise noch vor 100 Jahren?
 

trivial

Mitglied
Aber mit philosophioschen Spielereien auf Sprachebene kommt man bei diesem Thema wohl nicht weiter.
Unser einziges Mittel, diese Oberfläche zu durchdringen und etwas aus der Tiefe an den Tag zu fördern, ist die Sprache – neben den reinen Ausdrucksformen Musik und Kunst, die aber nur katalytisch wirken. Sprache ist das einzige Medium, das durch sein notwendiges Verfehlen Tiefe erzeugt.

Was ist die Skyline einer Stadt anderes als die geronnene Oberfläche einer Gesellschaft? Sie geht emergent aus aus ihr hervor, ist aber normierbar, formbar, angleichbar – wie die Persona einer Stadt.

Ob diese so ununterscheidbar ist, kann ich nicht beurteilen – dafür bin ich zu wenig Kosmopolit.

Du schreibst: „Nimm alleine die Architektur als Beispiel. (Weiß man noch, wenn man in einem Hotel in einer City aufwacht und auf die Skyline schaut, in welcher Stadt oder welchem Land man sich befindet?)“

Dass man „nicht mehr weiß, wo man ist“, sagt wohl mehr über den Beobachter als über die Stadt selbst.

Die wenigen deutschen Städte, die ich kenne, sind unverwechselbar.

Man findet Homogenität da, wo man sie sucht: funktionale Räume wie Einkaufszentren, Flughäfen, Ferienresorts etc. Dort ist Homogenität die Funktion. Es handelt sich um eine selektive Wahrnehmung, die Substanz nicht erkennen kann – daraus den Rückschluss einer Translationsinvarianz zu ziehen, halte ich für unzulässig.

Den Begriff musste ich nachschauen und finde ihn etwas unglücklich gewählt, da nicht die Städte, sondern Ideen räumlich und zeitlich verschoben werden. Der Begriff entspräche im übertragenen Sinn eher der Vorstellung einer Identität, der Beständigkeit des Ichs durch Raum und Zeit, welches dasselbe bleibt.

Da würde ich mich sogar bestätigt sehen: Die Fassade wird angeglichen, die Substanz bleibt unangleichbar.

Dass „der Indigene“ anders denkt als vor 100 Jahren, scheint mir folgerichtig und allgemeingültig. Dass alle Afrikaner denken wie Europäer oder Chinesen, halte ich für eine gewagte und spekulative These.
Vielleicht ist der online- oder mediale „Standard“ genau diese ausgelagerte Identität, die als universelle Norm zum Maßstab erhoben wird, ohne die Substanz der Menschen zu berühren.

Es ist immer zum Scheitern verurteilt, das Bekannte seiner Welt als Maßstab für unbekannte Welten zu nehmen.

Wenn alle Menschen zu einem homogenen Brei verrührt wären, gäbe es doch keine kulturellen Integrationsprobleme. Selbst unterschiedliche Sprachen derselben Familie produzieren unterschiedliche Perspektiven und Arten zu denken.

Dass Tiefe nicht mehr wahrgenommen wird, sagt zunächst nichts über ihr Verschwinden aus – sondern über den Modus, in dem wir der Welt begegnen.

Abwesenheit von Beweisen ist kein Beweis für die Abwesenheit.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Tim,

was trivial auf einem hochkomplexen und abstrakten, aber doch nachvollziehbarem Niveau ergründet hat, möchte ich aus meiner Sicht ergänzen.

Du hast als Beispiel die Architektur angesprochen. Nun ist aber kaum ein gesellschaftlicher Bereich traditionell so stark vernetzt wie der Wissenschaftsbetrieb. Hier ganz besonders besteht in der globalisierten Welt immer die Gefahr der Blasenbildung. Ganz besonders, wenn es weniger um naturwissenschaftliche Forschung geht, ist der Output rückbezüglich. Ich habe den Eindruck, dass zum letzten Mal in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts für 'die Menschen' gebaut worden war, dass sich also ein Architekt oder Bauherr Gedanken machte, was die Menschen brauchten. Vielleicht gab es solche Überlegungen auch in der DDR, das weiß ich nicht, könnte ich mir aber vorstellen.
Ansonsten folgen die Bautätigkeiten dem Geld oder der Notwendigkeit. Die Wohntürme der Megastädte Chinas bringen dabei etwas anderes zum Ausdruck als die Skylines der 'Weltstädte'. Dort ist es pure Notwendigkeit, um den Massen an Menschen Wohnraum zu geben, hier ist es tradierte Egomanie der hervorragendsten Vertreter des Kapitalismus.
Und das ist auch der Ursprung der zunehmenden Homogenität: Die Optimierung von zunächst Produktion und dann Vertriebswegen. Sie ist die Folge machtvoller Interessen, die zwar das Sein des Individuums beeinflussen, aber dennoch nicht konstitutiv sind.
Für meine Begriffe kommt man den Kulturleistungen des Menschen nicht auf die Spur, wenn man seine Beobachtungen als konstitutiv nimmt. Oft genug bilden sie nur Machtverhältnisse ab.

Ich könnte mir vorstellen, dass wir von der Beurteilung der Auswirkungen gar nicht so weit voneinander entfernt sind - allenfalls darin, wie sich das Individuum dazu verhält.

Das ist hier ein interessanter Diskurs geworden.

Liebe Grüße
Petra
 

Tim Weber

Mitglied
"Die Optimierung von zunächst Produktion und dann Vertriebswegen." Dakor, Optimierung ist bei all dem wohl sehr wichtig. Mal als blasphemischen Gedanken hier in diese humanistische Runde hineingeworfen. Nur so aus Spaß :) Die Grenzen des Wachstums sind ja seit geraumer Zeit in aller Munde. Wenn jegliches Wachstum aber Grenzen hat/hätte, dann etwa auch das Wachstum des Wissens? Als gedankliche Spielerei gedacht: Was könnten wohl die Gründe sein, dass das Wachstum des Wissens, ähnlich vielleicht wie der Kapitalismus, in der Zukunft irgendwann einmal kollabiert? P.S. Falls du dich fragen solltest..... Meine spekulative Antwort auf diese spekulative Frage hat zunächst einmal nichts mit digitaler Vernetzung zu tun.
 

petrasmiles

Mitglied
Spielen wir jetzt Argumente verstecken? :D
Von einem vom Menschen gemachten Wachstum auf biologisches zu schließen, kommt mir nicht ganz sauber vor. Limitierte Ressourcen und Mangel an Verteilungsgerechtigkeit kann man sich an fünf Fingern abzählen. Es gibt da den wunderbaren Volker Pispers, der hier den Kapitalismus erklärt


und an anderer Stelle vorrechnet, welche Milchmädchenrechnung bei den Ressourcen über unseren Häuptern dräut ...



Das ist mit dem Hirn doch etwas anders, denn man sagt ja, wir würden dessen Kapazität gar nicht ausschöpfen.
Wo das Problem liegt bei der Begrenztheit von Wissen ist 1. das Wollen - muss man nicht nur noch wissen, wo was steht? und 2. die Ressource Zeit erlaubt uns, entweder vertieftes Wissen zu erwerben oder Katzenvideos zu schauen (mal ein bisschen übertrieben). Es scheint, man muss sich da entscheiden, denn wenn man einmal mit dem Daddeln anfängt, ist die Zeit weg, die man für ein paar Seiten eines guten Buches oder Selbstdenken verwenden könnte.
Bist Du sicher, dass das nichts mit digitaler Vernetzung zu tun hat?

Liebe Grüße
Petra
 

trivial

Mitglied
Wirtschaftswachstum verbraucht Energie und erzeugt Entropie und ist somit unmittelbar an sein System gebunden.

Natürlich könnte man sagen, von der Schrift zur Datenspeicherung bis zu Rechenzentren – damit wäre Wissenskomprimierung und Abstrahierung derselben Systemlogik unterworfen, da Rechenzentren nicht unerheblich Energie verbrauchen. Begeht man dabei aber nicht den systematischen Fehler (ich entnehme deinen Worten eine gewisse Kapitalismuskritik), stillschweigend genau dieser Logik zu folgen und Wissen als absolute Ressource zu behandeln, die vollständig erschlossen werden kann?

Angenommen, diese Rechenzentren würden ähnlich kollabieren wie ein Wirtschaftssystem, so würde selbst dies neues Wissen erzeugen. In einer Post-Rechenzentrum-Zeit könnten Menschen diesen komplexen Zusammenhang vielleicht als „den großen KI-Kollaps“ bezeichnen – und mit diesem einen Begriff bereits einen extrem komplexen Zusammenhang verbinden.

Ist Wissen nicht eher – metaphorisch gesehen – eine intensive Größe, wie Temperatur oder Druck, während Wirtschaft eine extensive Größe ist, wie Volumen oder Gewicht?

Während Wirtschaftswachstum Ressourcen verbraucht und Entropie erzeugt, kann Wissenswachstum im Gegenteil neue Ressourcen schaffen – in Form von Ideen, Konzepten und Abstraktionen. Bei beiden Prozessen ist die Erschließung von Ordnung, also negative Entropie, notwendig: Wirtschaft ordnet materielle Systeme, Wissen ordnet Informationen.

Auf den ersten Blick könnte man denken (zumindest dachte ich das zunächst), dass beide Prozesse strukturell zusammenfallen und denselben Gesetzmäßigkeiten des Wachstums unterliegen. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der Ebene der Ordnung: Die Ordnung des Wissens ist grundsätzlicher – sie entsteht durch die Erschließung selbst und bildet die ontologische Basis des Systems. Die Ordnung der Wirtschaft liegt davon abgeleitet eine Ebene darunter; sie ist spezifisch, instrumentell und dient primär der Transformation von Ressourcen. Hier ist Ordnung Mittel zum Zweck.

In diesem Sinne ließe sich sagen: Wissen ist Ordnung erster Ebene, Wirtschaft Ordnung zweiter Ebene.

Die Qualität von Wissen – gut, relevant, wertvoll – ist dabei kein ontologisches Merkmal, sondern ein konstruiertes, perspektivisches Bewertungsmaß. Nicht jedes Wissen ist gleich sinnvoll, doch die Kriterien seiner Bewertung sind historisch, kulturell und zweckgebunden.

„Limitierte Ressourcen und mangelnde Verteilungsgerechtigkeit“ sind damit keineswegs bestritten. Die Frage ist eher, ob das Ziel darin bestehen sollte, möglichst alle in ein gegebenes System zu integrieren – oder ob nicht die Logik des Systems selbst zur Disposition stehen müsste.

Auch ein Katzenvideo ist nicht ohne Informationsgehalt. Seine Relevanz erschließt sich jedoch nur innerhalb eines bestimmten Kontextes – etwa dann, wenn Katzen tatsächlich die Weltherrschaft übernommen hätten. Information wird erst durch Relation zu Wissen.

Wissensordnungen sind nicht dadurch subjektiv, dass sie die Welt verändern, sondern dadurch, dass sie Prioritäten setzen. Physikalische Relationen gelten unabhängig vom Beobachter; doch auf einem Planeten, auf dem es dauerhaft -100 °C ist, spielt der Dampfdruck von Wasser kaum eine Rolle – so wie es für Inuit sinnvoll ist, zahlreiche Begriffe für Schnee zu unterscheiden.

Die subjektive Ordnung verändert nicht die physikalischen Bedingungen, sie konstruiert Sichtbarkeit und Relevanz. Wissen ist diese selektive Ordnung der Dinge – das Wissenswerte, aus dem heraus Information überhaupt erst Bedeutung, Verhältnis und Zusammenhang gewinnt.

Also ist Wissen und sein Wachstum ein progressiver Selektions- und kein materieller Transformationsprozess. Kapitalistisches Wirtschaftswachstum nährt sich an seiner Substanz, wenn die Ressourcen verbraucht sind. Wissen wächst in die Breite und erschafft substanzielle Bedeutung, indem Information in der Tiefe transformiert wird.

Digitalisierung verändert den Ort und die Dynamik des Wissenswachstums, nicht seine Beschaffenheit.

Wirtschaft wächst durch Verbrauch,
Wissen wächst durch Verdichtung.

Es gibt keine Grenze des Wissens, sondern Horizonte und Phasenübergänge.

Eine Wissensordnung, die keine Welt mehr trägt, verliert ihre Selbstverständlichkeit und damit ihren Anspruch und ihre Berechtigung, aber es gibt keine Welt ohne Wissensordnung. Jegliche Ordnung kann und muss kollabieren. Der Wandel ist der Erkenntnis immanent, ihr Kollaps ist der Erkenntnisprozess.

Was ist Fortschritt außer der Blick zurück,
Transformation eine weitere retroaktive Konstruktion.

Sorry, der Text ist etwas wirr geworden. Ich wollte nur intuitiv widersprechen: Ich denke nicht, dass Wissen denselben Wachstumsregeln unterliegt wie ein kapitalistisches Wirtschaftssystem – das ließ sich scheinbar nicht mit einem Satz eindeutig ausdrücken.
Jetzt habe ich wieder einen Knoten im Kopf und bin mir nicht sicher, ob es nicht doch ein anthropologisches Wachstum ist und mehr Ähnlichkeiten besitzt, als mir lieb ist, oder ob die Ähnlichkeiten vielmehr daraus rühren, dass Wissen in der Moderne zur Ressource verklärt wurde ???

Liebe Grüße
Rufus
 



 
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