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(12) 18. November 1989

Heute zwei Stunden in der Stadt herumgelaufen, in der dreimal so viele Menschen unterwegs waren als gewöhnlich um diese Zeit. Es war sehr eindrucksvoll: Massen von neugierigen DDR-Bewohnern überall, besonders um Hauptbahnhof und Rathausmarkt, aber auch in allen Geschäftsstraßen. Als ich um sechs morgens mit der Taxe nach Hause fuhr, hatten sie schon die meisten Parkplätze rund um den Hauptbahnhof belegt. Das sah so sonderbar aus, auch rührend, wo mochten sie um diese Zeit sich aufhalten? Überhaupt hatte ihr Auftreten etwas leicht Kindliches, etwas, das Rührung nahebrachte. Im Ganzen war mir ihre Erscheinung durchaus sympathisch. Ihr massenhaftes Auftreten, das schon wieder ein wenig an Züge von Lemmingen erinnert, ist ja nur zu verständlich: Dreißig Jahre waren sie eingesperrt. Übrigens ist das, was da begonnen hat, ein hochinteressantes massenpsychologisches Experiment.

Ich hörte zu, wie ein Rostocker Paar bei Tchibo am Stehtisch mit einem Hamburger sprach, beide durchaus sympathisch. Sie brauchten vier Stunden herüber und standen dicht gedrängt in einem völlig überfüllten Zug. Im Sommer wollen sie eine Radtour durch Schleswig-Holstein unternehmen.

Sehr unangenehm ist mir, wie jetzt jede Gruppe oder Meinung, die bei uns existiert, ihr bisschen Geltung auch auf die DDR zu erstrecken sucht. Das gilt von allen Teilen der Wirtschaft über die Kulturindustrie bis zur politischen Linken. Ja, diese treibt es besonders heuchlerisch. Unter dem Vorwand der Nichteinmischung werden doch nur die eigenen hiesigen Utopien nach drüben projiziert. Dieses Vakuum, das sich da in Mitteleuropa aufgetan hat, ist zu verführerisch; der Wille zur Macht verschafft sich schonungslos Geltung. Naiv zu glauben, die da drüben hätten angesichts der ökonomischen und der Größenverhältnisse tatsächlich eine Chance, ihre eigene Identität zu wahren oder sich eine neue eigene zu schaffen. Um dies glauben zu können, abstrahiert die Linke flugs von jeder Ökonomie. Da wird mal wieder gegen die Sachzwänge gewettert und geschwafelt, bloß noch idealistisch geschwafelt.

Die Rostocker meinten auch, dass sich alles ändern müsse, vor allem wirtschaftlich. Und es müssten eben Kredite aufgenommen werden. Fragt sich nur, zu welchen Bedingungen und mit welchem Erfolg.
 

petrasmiles

Mitglied
Unter dem Vorwand der Nichteinmischung werden doch nur die eigenen hiesigen Utopien nach drüben projiziert.
Das habe ich so nicht erlebt - aber ich war auch nicht sehr aufmerksam zu dieser Zeit. Das kam erst später.
Ich habe 1994-96 ein Aufbaustudium gemacht an der Dresdner Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie - berufsbegleitend im Blockunterricht. Ich war die einzige aus dem Westen - meine Studienkollegen (m/w/d) waren alle beruflich im Kulturmanagement integriert und teilweise seit langen Jahren dabei. Sie mussten diesen Studiengang machen, um ihren Job zu behalten. Es waren Menschen wie Du und ich; sie haben mich gut aufgenommen und mit einer bin ich heute noch in Kontakt. Anfangs waren das noch sieben Stunden Zugfahrt - von Mainz aus. Wahnsinn.

Ich finde Deinen Beitrag wieder sehr hellsichtig!

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, Petra, für deine Reaktion und die Auskünfte. Dann haben wir ja etwa zur gleichen Zeit den Raum Dresden erlebt. Ich war auf drei Reisen insgesamt gut sechs Wochen da (1993, 1994, 1996). An meine Gastgeber in Stadt Wehlen habe ich sehr angenehme Erinnerungen. Wenn ich mit der S-Bahn nach Dresden rein- oder von dort zurückfuhr, sah ich im Süden der Stadt eine große Industriezone vorbeiziehen, lauter alte Werke, die zumeist stillgelegt und zum Teil schon im laufenden Abriss waren - nur ästhetisch großartig wirkend, sonst bedrückend. Du hast diesen Umbruch in Dresden während deines viel längeren Aufenthaltes gewiss noch intensiver und detaillierter wahrnehmen können.

Schönen Abend!
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Du hast diesen Umbruch in Dresden während deines viel längeren Aufenthaltes gewiss noch intensiver und detaillierter wahrnehmen können.
Leider nicht - weil wir außerhalb in Hosterwitz im Keppschloss untergebracht waren.
Ich habe mir das mal auf Wikipedia angesehen - es wurde 2009 restauriert und total aufgehübscht. Als ich dort war, war das wohl eine 'Zwischennutzung' durch die Akademie, denn es hatte früher zu Lehrgängen zur Zivilverteidigung gedient. Dass es tatsächlich mal ein 'hochherrschaftlicher' Landsitz gewesen war, wusste keiner der Teilnehmer - die ja auch aus ganz Sachsen kamen - und innen ließ das auch nichts vermuten. (https://de.wikipedia.org/wiki/Keppschloss)

Aber ich habe die Aufenthalte sehr genossen. Es war sehr, sehr schön, die 'Dresdner Straße' (ob sie damals so hieß?) in Richtung Pillnitz zu spazieren. Und dann erst das Pillnitzer Schloss mit dem tollen Garten ... wir kamen am Haus des Carl Maria von Weber vorbei, wenn ich ich recht entsinne und es fühlte sich an, als würde gleich Goethe aus der Tür treten. Es gibt da so eine Zeichnung oder eine Gemälde von ihm und genau so sah das Haus aus. Die alte Bausubstanz war traumhaft!
Nach Hosterwitz kommt man übers 'Blaue Wunder' Richtung 'Weißer Hirsch', aber dann Richtung Pillnitz. Im Weißen Hirschen ist meines Wissens nach Tellkamps Der Turm angesiedelt.
Ich war sehr traurig als ich in der Zeitung las, dass für den Garten des Pillnitzer Schlosses EIntritt verlangt werden sollte.
Das muss für die Dresdner eine Zumutung gewesen sein - für das zahlen zu müssen, was einem doch gehört!

Aber was das anbelangt, ist ein Staat ja immer erfinderisch - auf die eine oder andere Weise.

Es war eine gute Zeit und ich denke gerne daran zurück.

Liebe Grüße
Petra
 

John Wein

Mitglied
Jo ho! Tralalalala! ..

Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen,
Wem sprudelt der Becher des Lebens so reich?

Beim Klange der Hörner im Grünen zu liegen,
Den Hirsch zu verfolgen durch Dickicht und Teich
Ist fürstliche Freude, ist männlich Verlangen,
Erstarket die Glieder und würzet das Mahl.
Wenn Wälder und Felsen uns hallend umfangen,
Tönt freier und freud'ger der volle Pokal!
Jo ho! Tralalalala! .........

Der Freischütz, den die Petra im Kommentar erwähnte, hat mich zu diesen dünnen Zeilen angeregt. Die Oper war in der letzten Saison mit ihrem grandiosen Bühnenbild auf der Seebühne in Bregenz zugast. Ich war in der Zeit auch am See in Radolfzell zur Kur, aber die Aufführung habe ich nur im TV gesehen. Sie war spektakulär!

Mit Jo ho! Tralalalala, lieber Arno...
melde ich mich von längerer Abwesenheit hier bei der LL zurück. Ich hab meine alten Knochen in der Türkei ein bisschen aufgewärmt.
Von Weber war, was man wissen sollte, auch ein musikalischer Protagonist des Vormärz in der Zeit der Romantik (Biedermeier) und hat bis zum Tod in Dresden am Hoftheater lange gewirkt.
Jo ho! Tralalalala!
LG, John
 
Danke für Ergänzungen und Assoziationen, liebe Petra und lieber John. Ja, Pillnitz ist wundervoll. Ich weiß nur nicht mehr, auf welchem Weg ich dorthin gelangt bin. Hosterwitz habe ich jetzt erst auf einer Karte suchen müssen. An den Weißen Hirsch erinnere ich mich dagegen gut, bin auch mit der Bergbahn hinaufgefahren. Sie spielt sogar in Tellkamps "Der Turm" eine Rolle, wenn ich mich recht erinnere. Bei Webers "Freischütz" machen sich ja zwei Schluchten als inspirierende Orte Konkurrenz. Ich kenne nur den Uttewalder Grund bei Stadt Wehlen.

Dresden sollte man wieder einmal besuchen ...

Liebe Grüße
Arno
 
(13) Mai 1981


21. Mai


Frühstück mit K ... . Dann mit ihm in die Stadt gefahren. Abschied. Lud ihn ein, nach Hamburg zu kommen. Im Volksgarten Zeitung gelesen. Durch die Innere Stadt gebummelt. Vorbereitungen für die Abreise. Beim Packen nachmittags beginnende Zahnschmerzen. Abends mit P ... rumänisch essen im I. Bezirk. Trotz Schmerzmittel nachts nur wenig geschlafen.


22. Mai

Abschied von P ... in der Frühe. (Zum Glück nicht für lange: Er kommt am 18. Juni zu mir.) Abfahrt von Wien um acht Uhr. Schmerzensreiche Fahrt. In München gewisse Besserung. Daher am Nachmittag einige Stunden geschlafen. Fuhr dann aber abends doch zur Zahnklinik, wo der Backenzahn kurzerhand gezogen wurde. Ging dann bald zu Bett und schlief fest bis zum Morgen.


23. Mai

Wollte mich zunächst im Hofgarten ausruhen und zur Abrüstungskundgebung um 11.30 Uhr am Marienplatz gehen. Stieß dann jedoch am Odeonsplatz auf den sich bildenden Demonstrationszug der „Bürgerinitiative für Frieden und Abrüstung“ (Jusos, Judos, SPD, DKP, Grüne etc.). Trug auch ein Plakat und ging mit, teils bei der DKP, teils bei den Grünen. Dann die Kundgebung. Redner: Schöfberger (sehr gute Rede), Strasser, ein Soldat in Uniform (bemerkenswert hübsch und forsch, sprach erstaunlich gut), ein Vertreter der US-Friedensbewegung. Ich unterschrieb dort den Krefelder Appell. Nach dem Essen noch einmal eine Stunde auf dem Friedensfest auf dem Marienplatz gewesen. Lange einem DKP-Redner zugehört, der einen sehr detaillierten Vortrag über den militärisch-industriellen Komplex in Südbayern hielt.

Abends enttäuschend im Ochsengarten. Voll, hektisch, oberflächlich. Kaum Leute, die mich anzogen.


24. Mai

Vormittags in der Neuen Pinakothek. Sollte besser Deutsches Spießermuseum heißen. Wird erschreckend deutlich, welch niedriges Niveau die deutsche Malerei im vorigen Jahrhundert hatte. Es herrscht vor das Niedliche, Süßliche oder von hohlem Pathos Triefende. Man illustriert Ideen, streicht sie grell an. Wohltuend die ausländischen Maler der Zeit (z.B. Géricault, Delacroix, Courbet: was für ein Abstand!) Das massenhafte Publikum in diesem Musentempel: kuhäugig und tief befriedigt. Was sie sagen, lässt erkennen: Sie haben nur Sauerkraut im Kopf. – Zur Erholung ins Kino und Heidi Genées Film „Stachel im Fleisch“ gesehen. Die Geschichte einer auseinanderbrechenden Familie bei ihrem sechswöchigen Sardinienurlaub. Einleuchtend, erhellend, sympathisch.

Abends noch einmal im Ochsengarten und bis drei im Frisco. *** getroffen, der mit mir haderte, weil ich ihn nicht angerufen hatte. Versuchte vergeblich, ihm klarzumachen, dass ich an diesem Wochenende zu gemeinsamen Aktivitäten nicht imstande gewesen wäre. Er war erheblich alkoholisiert, verwickelte sich auch in gewisse Widersprüche. Hatte keinen so günstigen Eindruck mehr von ihm, bereute es nicht, ihn nicht angerufen zu haben. Zum Schluss noch von einem Rechtsanwalt angesprochen worden, der mich seit Jahren hartnäckig verfolgt, mit dem ich aber nie schlafen könnte. Finde ihn absolut unerotisch, war aber fasziniert von seinem Spleen an mir. Wirkt übrigens auch unabhängig von mir wie eine seltsame Romanfigur früherer Zeiten: düster, vereinzelt.


25. Mai

Wie geplant Rückfahrt um 12.15 ab München. War dann um zwanzig nach acht am Abend wieder in meiner Wohnung. R ... , der neun Tage davor nach N.Y. geflogen war, hatte meine Pflanzen besser versorgt als die Kollegen im Büro die dortigen Exemplare.
 

petrasmiles

Mitglied
Was ist die Jugend doch manchmal arrogant :)
Ich war noch nie in der Pinakothek und kann das Museum nicht beurteilen, aber dass es gut besucht ist, könnte auch Anlass zur Freude sein.
Ich glaube, es war damals comme il faut, sich an Spießern zu reiben. Das waren natürlich immer die anderen.

Danke, dass Du uns an dieser Fundgrube teilhaben lässt.

Liebe Grüße
Petra
 
Was ist die Jugend doch manchmal arrogant
Da muss ich wohl noch ziemlich unreif gewesen sein? (Heute würde ich mich natürlich vorsichtiger ausdrücken.) Tatsächlich hat mich damals der Qualitätsunterschied zwischen ausgestellter deutscher und französischer Malerei im Durchschnitt frappiert und die Masse zweit- und drittrangiger Bilder aus heimischer Produktion stark ermüdet. Heute ist mir klar, dass das Bild dadurch verzerrt war, dass aus Frankreich wahrscheinlich nur die besseren Sachen Chancen hatten, vom bayerischen Staat erworben zu werden, während der gezielte Ankauf von Bildern einheimischer Maler auch Kunstförderung, also Kulturpolitik war. Da waren dann die Anforderungen wohl niedriger.

Danke, Petra, für dein interessiertes Lesen.
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Da muss ich wohl noch ziemlich unreif gewesen sein?
So würde ich da nicht nennen. Es bekommt halt durch das Veröffentliichen so ein Gewicht. Wir denken zig Mal am Tag solche abwertenden Sachen, bevor sie dann in eine Art Reflexionsschleife geraten und abgeschmirgelt werden - bevor wir es niederschreiben und z.B. in einem Tagebuch differenzierter werden.
Bitte lass' Dich durch meinen Kommentar nicht davon abhalten, diese unredigierten Zeitzeugnisse einzustellen. Sie sind kostbar.

Liebe Grüße
Petra
 
(14) 2. November 1983

Am 17. Oktober fuhr ich von Wien in die Obersteiermark, wollte bis zum Ende der zweiten Urlaubswoche bleiben. An diesem Tag war das Wetter sehr schlecht. An der oberen Mur füllten Regenwolken die Täler, die Schneefallgrenze sank auf 1300 Meter. In Murau fühlte ich mich so fehl am Platz, dass ich das Hotel überhaupt nicht mehr verließ, obwohl ich schon vor vier angekommen war und das Städtchen so viel zu bieten hat. Am andern Morgen war der Himmel heiter. Die Landschaft sprach mich jetzt stark an. Ich riskierte es, doch auf die Stolzalpe zu gehen. Es wurde einer der anstrengendsten Tage in meinem Leben. Mit so viel Schnee hatte ich nicht gerechnet. Häufig sank ich für längere Abschnitte immer bis zum Knie ein. Es war um oder unter null Grad. Die Wege waren nicht zu erkennen. Aber ich schaffte es. Der Rundblick war außerordentlich schön: Seetaler und Gurktaler Alpen, die Karawanken und die Nockberge, die gewaltige Kette der Niederen Tauern, alles ganz plastisch in frischem Weiß gegen den blauen Himmel. Aber den Abstieg schaffte ich kaum noch. Ich pflügte den tiefen Schnee, fand die Wege überhaupt nicht mehr, entging knapp einem niederstürzenden Baum, musste auf den Almen Bullen ausweichen, immer wieder über Stacheldrahtzäune klettern, in denen ich dann auch hängen blieb. Völlig erschöpft und ausgekühlt kam ich in St. Peter an, genoss dennoch den Blick auf den herrlichen Greim; auf ihn möchte ich auch einmal.

In St. Peter nun quartierte ich mich in einem Gasthof ein, dessen Küche mir nicht bekam. War das Essen zu fett oder tatsächlich verdorben, ich zog mir einen schweren Magen- und Darmkatarrh zu. Zum Hauptübel entwickelte sich ein fataler Durchfall. Am Mittwoch wanderte ich, schon sehr geschwächt, durch eine herbstlich-schöne Berglandschaft über Schöder nach Krakaudorf. Hier wohnte ich in einem neuen Haus, das mir zuerst sehr zusagte. Abends aber stellte ich überrascht fest, dass offenkundig kurzfristig das Restaurant einen Ruhetag einlegte. Da auch der zweite Gasthof geschlossen war und die Geschäfte schon geschlossen hatten, musste ich mit den wenigen Süßigkeiten, die ich noch hatte, vorliebnehmen. Meine Leidensfähigkeit war erschöpft. Ich rief P. an und sagte ihm, dass ich so schnell wie möglich nach Wien zurückkehren möchte. Am nächsten Morgen lief ich in meinem miserablen Zustand die siebzehn Kilometer bis Murau in drei Stunden. Ich wollte unbedingt abends noch in Wien sein. Jetzt hasste ich die Berge, da ich krank war. Dennoch waren die Tage dort lohnend und ich möchte wieder hin. Um halb sieben abends, nach neuneinhalb Stunden, kam ich in der Bandgasse an. P. pflegte mich in sehr lieber Weise. Ich verbrachte die nächsten beiden Tage fast ganz im Bett. Der Durchfall besserte sich nur sehr langsam. Vorübergehend musste ich daran denken, vorzeitig nach Hamburg zurückzukehren, um dort zum Arzt zu gehen. Am Samstagabend hatte ich das erste ordentliche Essen seit Montag. Abends konnte ich sogar ausgehen ...
 
(15) 9. Dezember 2002

Sehr beeindruckt von Herlihys „Midnight Cowboy“, erst das zweite Mal von mir gelesen. Seit April 71 habe ich dieses wunderbare Buch bei so vielen Umzügen eingepackt und wieder ins Regal gestellt und dabei gedacht, es sei wohl etwas Halbseidenes. Es hat hohe Qualität und kommt meinen eigenen Vorstellungen von interessantem Stoff und angemessener und ansprechender Bearbeitung recht nahe. Ich war sogar ein wenig betroffen über die innere Verwandtschaft meines „Cousins“ mit Joe Buck. Dabei hatte ich keine nennenswerte Erinnerung mehr an Details, es ist vielmehr der Typ, bei dessen Gestaltung man dann zu ähnlichem Ergebnis kommen kann. Ich fand jetzt sogar textliche Übereinstimmungen, die fast schon einen Plagiatsvorwurf rechtfertigen könnten. Herlihy spricht, wenn es um die Kleidung junger Homosexueller geht, in der Übersetzung von Hasenclever von „gewollter Jungenhaftigkeit“ – mir ist im Oktober dabei „gewollt Knabenhaftes“ eingefallen. Das kann doch nicht über dreißig Jahre so im Hintergrund des Gedächtnisses vorhanden gewesen sein. Nein, es sind der Stoff und die Art seiner Behandlung, die zum gleichen Ausdruck führen. Dann ist es wenig originell? Gerade dieser Vorwurf erscheint mir am allerwenigsten originell. Das Leben wiederholt sich selbst in unzähligen Varianten. Produktiv sein, das heißt: aus Vorgegebenem etwas Neuartiges zusammenzufügen. Die Tradition kennen und benutzen und sie immer wieder variieren, das scheint mir eine mit dem Leben in innerem Zusammenhang stehende Kunst zu sein. Man ist Glied in einer ununterbrochenen Evolution. Meine Anreger waren übrigens nur ausnahmsweise deutsche Schriftsteller: Jean Paul, Robert Walser, Doderer und Jahnn. Autoren aus Frankreich, Italien und gerade jetzt wieder aus den USA sind in der Überzahl: Gide, Proust, Pavese, Svevo, Dos Passos usw. Es ist also eine Mischung aus auf die Gesellschaft bezogenem Realismus und individualpsychologischer Analyse. Das Individuum und die Gesellschaft, gegen die Gesellschaft, ohne die Gesellschaft. Vielleicht ist das der gemeinsame Nenner dieser Autoren: wie sich das Individuum gegenüber der Gesellschaft behauptet oder unterliegt.
 

John Wein

Mitglied
Lieber Arno,
Du schreibst eine Rezenzion über ein Buch ohne Anmerkung zur Geschichte. Ich kannte den Schrifsteller bis dato nicht und bin wahrscheinlich auch nicht der Einzige hier.
Aber es war für mich Ansporn zur Recherche und da tat sich ein Fenster auf. Ich habe vor vielen (!) Jahren den Film über diesen Titel gesehen und erinnerte mich aus der Tiefe meine Gedächtnisses an die Handlung. Unser Held, war das nicht der der Badehosen-Cowboy mit Klampfe auf dem Times Square? Diese Szene ist wie ein Ewigkeits-Label für den Film, wie Marilyn auf dem U-Bahn Schacht und bis heute gibt es da viele Nachahmer, die ein Geschäft mit der Nostalgie machen. (Ich hab das selbst erlebt!)
Der Film von John Schlesinger hatte damals in Hollywood sogar einige Oskars abgeräumt, Dustin Hoffman und Jon Voight spieltendie Hauptrollen.
Ja ich erinnere mich jetzt gut! Jon Voigt ( und da schließt sich ein Kreis zur filmischen Gegenwart) ist im Übrigen der Vater von Angelina Jolie.
Toller Film! Vlt. mal wieder im TV oder im Programmkino.
Danke fürs Perlentauchen!
Gruß, John
 
Genau, lieber John, Herlihys Roman war die Vorlage für den bekannten Film. Ich sah ihn selbst, als er erstmals in deutschen Kinos lief. Das Buch las ich erst danach. Beide sind einander wert und weisen auch Unterschiede auf.

Schöne Sonntagsgrüße
Arno
 
Zuletzt bearbeitet:
(16) 10. April 2005

In der eben zurückliegenden Zeit konnte man erleben, wie heutzutage ein Heiliger fabriziert wird. Faszinierend und bedrohlich erscheint an diesem Papstrummel die Verbindung zwischen billiger religiöser Massenhysterie und den weltumspannenden modernen Medien. Die Massenmedien erzeugen Massenhysterie, es kann nicht anders sein. Millionen Polen reisen von Warschau und Krakau nach Rom, um zwölf Stunden vor dem Petersdom anzustehen, damit man sie im Laufschritt an einer Leiche vorbeiführt, die sie zu Hause am Fernsehen gründlicher betrachten könnten. Aberwitzig und real. Hört man die Begründungen, die diese sonderbaren Individuen – genau genommen sind es keine – für ihr Handeln in die Mikrophone sprechen, läuft es meist auf eine innerlich als zwingend empfundene Verpflichtung hinaus. Er (der Vater, der heilige) hat so viel für uns getan … Das musste ich jetzt tun, ich hätte es mir nie verzeihen können … Er ist so viel gereist, also müssen wir es jetzt auch tun … - Überhaupt das Reisen: Er war der Eilige Vater, sie sind nun die eiligen Pilger und fordern sofortige Heiligsprechung.

Am fürchterlichsten die Gleichschaltung der Medien. Man entging diesem widerlichen Spektakel nicht, auf keinem Kanal. (Und am folgenden Tag war es die Hochzeit von London, die der übrigen Welt auf die gleiche Weise aufgezwungen wurde.) Drewermann hat ganz zu Recht den Vergleich mit Khomeinis Beerdigung gewählt. Im Büro las ich am PC die wütenden elektronischen Reaktionen, die bei der Rheinischen Post einliefen: Er, Drewermann, verdiene, wie ein toter Hund am Straßenrand liegen gelassen und von der Müllabfuhr entsorgt zu werden. Oder, auch als Gegenargument: Hätte ihn, nicht Drewermann, sondern den Vater, den eiligen Heiligen, stattdessen die Putzfrau in einen Müllsack stecken sollen? Auch mir war, vor Kenntnis des Drewermannschen Zitats, die offenkundige Parallelität mit gewissen orientalischen Gebräuchen aufgefallen. Die Wallfahrt nach Rom erinnerte verdammt an die jährliche nach Mekka oder an Massenaufläufe von Hindus. Nur glaube ich, dass im Osten viel mehr Spiritualität im Spiel ist, viel weniger Technik und geschickte Massenmanipulation. Und eben aufgrund dieser zeitgemäßen Zusätze (des Handlings) fühlt sich der Westen überlegen. So sieht heute Verblendung aus.

Von den Fakten, die berichtet wurden, hat mich nur eine wirklich berührt: Während dieses Pontifikats hat die Weltbevölkerung um fünfzig Prozent zugenommen, in nur 27 Jahren, und der Anteil der Katholiken hat sich nur wenig vermindert. Das ist der Grund, aus dem die neuartigen Phänomene sich erklären. Es gibt viel, viel mehr Menschen, die Massen formen können. Wenn Stalin noch einmal fragen könnte: Wie viel Divisionen hat der Papst, so müsste man ihm antworten: Viel mehr als früher.
 

petrasmiles

Mitglied
Wieder ein sehr pointierter Kommentar zum Zeitgeschehen, lieber Arno, und ja, diese 'Gleichschaltung' der Medien bei diesen Großereignissen ist kein jüngeres Phänomen.
Ich tue mich allerdings ein bisschen schwerer mit der Verdammung der polnischen 'Reisenden' als Du damals; obwohl ich mich als Agnostikerin bezeichnen würde, rührt mich dieses Aufgehen in einer Religion irgendwie - und als Ex-Katholikin stand ich eher bass erstaunt vor der Tatsache, wie viel Auftrieb des Nationalstolzes dieser Papst in Polen bewirkte. Ich glaube, den haben sie wirklich 'persönlich' genommen.
Und bei dem Thema 'Massen' möchte ich noch hinzufügen, dass dies eine Eigenschaft unserer Spezies zu sein scheint, die einem tiefen Bedürnis entsprechen muss - das ich nicht teile. Ich denke, zuerst waren die Massen, und dann ihre Beeinflussung. Darum fand ich auch den Ausspruch der 'Schwarmintelligenz' für den Menschen immer unfreiwillig komisch, denn in der Masse wird der Mensch an sich immer dümmer und das, was die Schwarmintelligenz ausmacht, bekommt er ja gar nicht hin, physisch nicht und psychisch schon gar nicht.
Bei Deinem Urteil darüber, was der Westen sich als Überlegenheit einbildet, bin ich vollkommen bei Dir.

Liebe Grüße aus einer schlaflosen Nacht
Petra
 
stand ich eher bass erstaunt vor der Tatsache, wie viel Auftrieb des Nationalstolzes dieser Papst in Polen bewirkte. Ich glaube, den haben sie wirklich 'persönlich' genommen.
Genau, liebe Petra, und gerade das hat mich damals auch schon leicht befremdet. Die religiösen Aspekte wurden vermengt mit aktuellen innen- und außenpolitischen Tendenzen, die ich weiter wirksam und ziemlich kritisch sehe. In einem Textarbeitsforum sollte ich das aber nicht ausführlich darlegen. Jedenfalls habe ich mir inzwischen den sehr langen Artikel über Johannes Paul II. angesehen. Besonders die Abschnitte über Selig- und Heiligsprechung sind sehr interessant.

(Deine Schlaflosigkeit lag doch hoffentlich nicht an meinem pointierten Text? Auf jeden Fall wünsche ich für kommende Nacht schon mal angenehmes Durchschlafen.)

Liebe Grüße
Arno
 

John Wein

Mitglied
Lieber Arno
Wahrscheinlich ist es das menschliche Bedürfnis, sich in einer Masse mit Gleichgesinnten bestätigt und eingebunden zu fühlen. In einer Gemeinschaft sind Interessen, Gefühle, Werte, Unterstützung, Kommunikation und Interaktion ein bindendes Element. Es sind in heutiger Terminologie Blasen in denen man sich nicht nur geborgen fühlen, sondern sich auch nach außen prima abschotten kann. Glaube, Vorstellung, Idee, Erwartung, Bestreben u. m. im Gleichklang sind die Motivation sich in einer Menge stark oder bestärkt zu fühlen.

…und als Anmerkung zu deinem Urteil über die Gleichschaltung: Nach 30 Jahren RP Abonnement, habe ich das mittlerweile „halböffentliche“ Medium 2015 gekündigt und stelle fest, dass ich es nicht vermisse. Aber vielleicht bin ich ja ebenfalls gefangen in einer Blase. Wer weiß das schon, außer ich selbst?!
Gruß im kommunikativen Gleichklang,
John
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber John,

da fällt mir noch etwas zu ein:

Wahrscheinlich ist es das menschliche Bedürfnis, sich in einer Masse mit Gleichgesinnten bestätigt und eingebunden zu fühlen.
Es gibt nicht nur Vorteile und darum gibt es die Adoleszenz - man kann da raus wachsen und das hat seinen Sinn. Das Festhalten an der 'Blase' spricht eine eindeutige Sprache. Vor allem ist es ja nicht nur 'heimelig' - da gibt es ja den Gruppendruck - man soll nicht nur mitmachen, man muss es. Wenn dann bei 'Widerworten' Sanktionen folgen, sind wir eher bei Sekten.

Liebe Grüße - und schöne Ostertage
Petra
 
(17) 30. Dez. 1987

Ich hatte sehr viel Zeit und Ruhe und las vor allem in Dostojewskis „Idiot“. Ein mühsames und lohnendes Buch zugleich. Einerseits typisches Lesefutter des 19. Jahrhunderts und d.h. für uns Heutige umständlich und weitschweifig und allzu sehr mit Erzählschleifen ausgeschmückt – und andererseits immer wieder zu typischen Existenzformen und Grundsituationen des modernen Menschen vordringend. Eigenartig: Myschkin, die Jepantschins, Nastassja Filippowna, der alte Iwolgin, Kolja usw. sind alles ausgesprochen moderne Charaktere. Wir finden ihre Doppelgänger auch heute mit Leichtigkeit. Wie aber Dostojewski als Erzähler mit ihnen umgeht, wie er sie in der Abfolge der Erzählung immer einen altmodischen Tanzschritt nach dem anderen vollführen lässt, das ist ganz zeitbedingt und macht uns die vertrauten Charaktere wieder fremd. Das ist es eben, was an Dostojewski für mich Reiz und Irritation ausmacht: zerrissene Figuren vor einer Kulisse ungeheurer Behaglichkeit. Diese Welt ging schon längst in Stücke, aber ihre Menschen haben überlebt.
 



 
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