Zwei

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Das Wesen, das wie ein Hund aussah, stand ganz oben auf dem Berg, der aus Schnee bestand und wirbelte mit den Hinterpfoten weiße Fontänen aus Eiskristallen in die Luft. Er schien etwas zu suchen.
Darunter lag ich. Das Übliche. Skianfänger. Lawinengefahr unterschätzt. Leichtsinn. Jedenfalls war es mir noch gelungen, als die Lawine über mich hinwegfegte, im letzten Moment einen kleinen Hohlraum um mich herum zu formen, wie ich es mal im Fernsehen gesehen hatte.

Das Tier hielt inne. Der vermeintliche Hund schien etwas gefunden zu haben. Er kratzte mit den Vorderpfoten mein bärtiges Gesicht frei. Es war blau angelaufen, und ich weilte schon in anderen Sphären. Irgendwie musste aber doch noch Leben in mir gewesen sein, denn das Tier gab nicht auf.
Er leckte und leckte wieder und wieder mit seiner rauen Zunge über mein kaltes Gesicht. So ging das lange Zeit. Endlich zeigte sich etwas Röte auf meinen Wangen. Ich schlug die Augen auf . Das Erste, was ich erblickte, waren die braunen Augen meines Retters. Seine feuchte Nase stupste gegen meine. Es war Liebe. Nie wieder würden wir uns trennen, war mir klar.

Wo waren eigentlich die tüchtigen Männer von der Bergrettung, die im Fernsehen immer so´n Harten machen und sich halsbrecherisch im Dienste der Menschheit zu denen, die in der Klemme steckten, abseilten? Und warum setze der Bergdoktor nicht eigenhändig seinen Spaten an, um mich auszubudeln? Im Gegenteil. Anstatt nach Lawinenopfern zu graben, nahm er sich lieber seine Sekretärin vor.
Im Eifer des Gefechts passierte ein Missgeschick. Ein Penisbruch. Damit Schlimmeres verhindert wurde, flog man ihn mit dem einzigen Hubschrauber, der zur Verfügung stand, der andere war defekt, zur Behandlung in die nächste Stadt. Da stand für mich kein Heli mehr zur Verfügung, und zu Fuß konnte die Bergrettung mich nicht erreichen.

Ich klopfte den Schnee von meinen Sachen, und mein vierbeiniger Retter, der mir nicht mehr von der Seite wich, und ich machten uns zu Fuß auf ins Tal. Ich besah ihn mir näher und stellte fest, dass ich keinen Hund, sondern einen Wolf vor mir hatte. Seine Hingewandtheit zu den Menschen konnte ich mir nur so erklären, dass er wahrscheinlich als junger Wolf in einer Tierauffangstation aufwuchs und ausgewildert wurde. Ich beschloss, ihn mit in meine Wohnung zu nehmen.

Das war schwieriger als gedacht. Meine Freundin zog aus. Aber viel schlimmer waren die Leute auf der Straße. Jemand muss mich angezeigt haben, da es verboten war, Wildtiere zu halten. Ich bekam eine Aufforderung, meinen grauen Freund im Tierheim abzuliefern.
Von da würde er in einen Zoo kommen. „Vielleicht war das das Beste“, dachte ich. Als ich die Formalitäten besprach, winkte mich das junge Mädchen, dass im Büro vom Tierheim nebenan am Schreibtisch gesessen hatte, und aufmerksam dem Gespräch mit ihrer Chefin gelauscht hatte, beiseite. „Glauben sie ihr nicht. Es gibt keinen Zoo, der Wölfe aufnimmt. Sie wollen ihn einschläfern.“ Sie war bei einer Organisation, die Tiere rettete und gab mir einen Zettel mit einer Adresse.

Jetzt war mir alles egal. Ich ließ mir das gesamte Geld von meinem Konto auszahlen. Man sollte meinen Weg nicht nachverfolgen können. Mein grauer Freund und ich stiegen ins Auto. Es sollte erst mal nach Spanien gehen. Das hatte ich mit den Leuten von der Organisation vereinbart.
Über die Grenzübergänge durfte ich nur zu bestimmten Zeiten, wenn welche von uns dort Dienst taten. Es ging auch glatt. Bloß bei der Einreise nach Spanien gab es Probleme. „Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm KO-Tropfen in seinen Café con leche zu tun“, sagte mir der Grenzbeamte, ebenfalls einer von uns, als ich mich darüber wunderte, dass sein Kollege fest schlief. „Hoffentlich hat er die richtige Dosierung genommen“, dachte ich.

Als nächstes landeten wir auf einem iberischen Filmset. Der dortige Regisseur gehörte auch zu uns. Er hatte vier Kinder von drei Frauen, von denen noch keins je einen Pfennig Unterhalt von ihm gesehen hatte. Sein Herz schlug einzig und allein für einen weißen Tiger, der ebenfalls eingeschläfert werden sollte wie mein Wolf.
Er wollte ihn zurück nach Afrika bringen. „Das ist aber nicht das größte Problem“, sagte er zu mir. „Wenn er in Afrika angekommen ist, muss man ihn auch in einem Gehege halten. Er kann nicht ausgewildert werden, da er zu sehr an Menschen gewöhnt ist.“ Das hörte sich nach sehr viel Geld an.

„Wie machst du das mit dem Unterhalt für deinen Nachwuchs?“, fragte ich ihn, der als Leiter der Filmcrew Geld scheffelte. „Ganz einfach. Ich bin in Privatinsolvenz.“ Er hatte einen Offenbarungseid geleistet. „Meine Kohle geht auf das Konto von jemandem, der auch zu uns gehört.“

Genau das, was er vor seinen Exen zu verstecken trachtete, ging mir langsam aus. Ich musste Bares verdienen. „Ich habe eine Idee“, sagte der Regisseur. „Die eine aus unser Kuppelshow ist wegen Schwangerschaft ausgefallen. Nimm du doch ihren Platz ein.“ „Aber ich bin doch ein Mann und werde außerdem gesucht“, erwiderte ich ihm. „Das kriegen wir schon hin. Wir stecken dich einfach in Frauenkleider. Keiner bei Interpol vermutet dich in Frauenklamotten in einer Kuppelshow im Fernsehen.

Es kam mir zu pass, dass ich klein und zierlich war. Die Maskenbildnerin, auch sie eine von uns, die ein Krokodil im Keller versteckte, machte aus mir eine ganz akzeptable Frau. Sie färbte auch den Grauen um, der jetzt eher ins Hellbraune tendierte. Ich verdiente bombig.
So hätte erst mal alles gut gehen können. Bis zu diesem einen Tag. Sie verlangten ernsthaft von den Teilnehmern, dass sie sich unten rum entblößt ihren vermeintlichen Interessenten präsentierten. Der Oberkörper dagegen wurde verhüllt, „Und so was machst du mit?“, frage ich meinen Freund, den Regisseur. „Mir wäre das peinlich“.
Er erwiderte darauf: „Was bleibt mir. Der Unterhalt für den Löwen kostet mich monatlich zehntausend Euro. Ich darf nicht wählerisch sein beim Geldverdienen.“

Eine Lösung für das Problem mit der halbseitigen Nacktheit war schnell gefunden. Die Kollegin, die ich ersetzte, und die ihre Schwangerschaft bei der Bewerbung verborgen hatte, stellte sich einfach für mich mit den anderen Kandidatinnen hinter die Trennwand. Sie befand sich auch bei uns im Team und arbeitete jetzt statt als Darstellerin im Catering, da man sie als eine werdende Mutter nicht kündigen konnte.

So hatte ich auch diese Klippe umschifft. Mir wurde aber klar, dass ich und seine graue Eminenz weiterziehen mussten. Besonders, als mir Jelena, ein gutgewachsenes Mädchen, dessen Bikiniunterteil hinten nur aus einem Streifchen bestand, erzählte, was der schöne Willi, ein tätowierter Muskelprotz, der meist, nur mit Badehose bekleidet und ein Cocktailglas in der Hand haltend, am Pool stand, und dessen Hand schon mal leicht zu zittern begann, wenn er Jelenas wohlgeformte Rückseite betrachtete, wobei sein Getränk überschwappte, zu ihr gesagt hatte.

Man muss erwähnen, dass Jelena auch eine von uns war. Ihr Schützling war ein Delphin. „In meiner Kindheit in Dnepropetrowsk war eine Aquashow bei uns zu Gast. Abends überredeten die anderen Kinder mich, über den Zaun auf das Gelände zu steigen und die Delphine zu streicheln.“ Seit dem Moment, als sie die dicke Fischhaut an den Händen fühlte, war sie diesen Tieren verfallen. So beteiligte sie sich auch an der Rettung eines von ihnen aus einem zu engen Bassin.

Jelena erzählte mir: „Obacht vor Willi. Er hat eine Meldung im Netz gefunden, dass ein Mann mit einem Wolf verschwunden ist. „Die Beschreibung trifft auf den Neuen zu. Außerdem kommt mir das Tier, das er als afghanischen Hirtenhund verkauft, merkwürdig vor“, sagte er zu ihr, denn Willi wusste natürlich, dass ich ein Mann war, da ich außerhalb des Drehs ungeschminkt rumlief

Auf abenteuerlichen Wegen, bei denen uns die Organisation half, gelangten der Graue und ich in einen Waggon der Transsib. Wir fuhren durch tiefverschneite Wälder. Das Mädchen, das Schaffnerin war, rüttelte mich, der fest eingeschlafen war. „Hier müsst ihr raus.“ Es war abgesprochen mit dem Lokführer, der genau wie das Mädchen zur Organisation gehörte, dass er hier die Fahrt verlangsamte, so dass wir bequem rausspringen konnten.
Sie öffnete die Tür, und wir fielen in den tiefen Schnee. „Machts gut ihr Beiden“, hörte ich noch rufen, dann wurde die Zugtür geschlossen. Der Graue und ich stapften Seite an Seite durch den Schnee einer ungewissen Zukunft entgegen. Ich hatte eine Flinte und ein Proviantpaket bei mir. Beides hatte die Schaffnerin mir gegeben. Welches Tier sie wohl versteckte. Ich tippte auf einen Eisbären.

Im Wald trafen wir auf Verwandte meines Freundes. Ein Rudel Wölfe. Ich kletterte auf einen Baum. Dorthin konnten sie mir nicht folgen. Aber was war, wenn ich einschlief. Dann würden ich runterfallen. Das wussten sie und warteten unten.
Plötzlich entstand Tumult im Rudel. Mein Grauer kämpfte für mich. Nach einiger Zeit gaben die Anderen auf. Als ich vom Baum runterkletterte, stand nur noch er allein da. Überall waren Blutspuren im Schnee. Auch er hatte Bisse abbekommen. Aber wir Beide lebten. „Hat hier einer zu viel Jack London gelesen“, werden jetzt manche denken.


Asche auf mein Haupt. Ich geb´s ja zu. Ich habe mich beim Meister bedient. In meiner Kindheit gab es bei uns an den Zeitungskiosken auf dem Bahnhof immer diese billigen Hefte mit einem bunten Bild auf der Vorderseite. Sie trugen den Aufdruck: "Spannend erzählt". Darin waren Auszüge aus berühmten Abenteuergeschichen. Sie endeten meist mittendrin, wenn es gerade am spannendsten war. So auch die Wolfsgeschichte, so dass ich nicht erfuhr, ob der Held den Wölfen, die ihm schon bedenklich nahe waren, entkommen konnte. Erst als mir Jahre später "Wolfsblut" von Jack London in die Hände fiel, erkannte ich die Handlung wieder und erfuhr endlich mal, wie die Geschichte ausging.

Eigentlich war mir klar, dass mein Grauer nur in der Verbotenen Zone frei sein könnte. Das Gelände rund um das explodierte Atomkraftwerk in der Ukraine. Dort gab es fast keine Menschen, und die Wölfe hatten keine Feinde.

Auf verschlungenen Wegen, wir wanderten durch die Tundra, und wir trieben sogar tagelang auf einem Floß auf der Wolga, kamen wir dort endlich an. Auf Anraten der Leute von der Organisation hatte ich reichlich Wodka für die Bewacher der Verbotenen Zone mitgebracht. Igor und Wladimir, mit denen ich kurz vorher noch: "Durch die Wiesen kam hurtig Katjuscha", gesungen hatte, sie auf Russisch, ich auf Deutsch, schliefen im Gras. Und ich schwöre euch: "Hier waren keine KO-Tropfen dran schuld."
So bekam keiner mit, dass ich und mein grauer Freund die Grenze überschritten und uns in ein Gebiet mit hoher Strahlenbelastung begaben. Was scheinbar den Tieren nichts ausmachte.

Nach einer Weile wollte ich umkehren. Der Graue stand da und sah mich an. Was sollte ich machen. Ich wendete mich ihm wieder zu und wir beide gingen tiefer in die Verbotene Zone hinein. Ich hatte mal von jemandem gehört, dem eine fünffach tödliche Dosis nichts ausgemacht hatte. Das war übrigens der, der später das ganze Atomkraftwerk in die Luft gejagt hat.
Es gab anscheinend Leute, die dagegen resistent waren.
 
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Das ist witzig. werte Friedrichhainerin, sowohl in der Grundidee wie auch in den meisten Details. Den Titel finde ich nicht ganz so mitreißend. Der Text weist hier und da kleine Fehler auf, die leicht auszumerzen wären. Beispiele: Die erwähnte Stadt im Osten schreibt sich Dnepropetrowsk oder ukrainisch Dnipropetrowsk. Die Transsib hat korrekt zwei "s". Im allerletzten Satz halte ich anstelle von "scheinbar" "anscheinend" für eher zutreffend.

Schönen Abend
Arno
 
Hallo Arno,
Dank für Deine Meinung zu meiner Nonsensstory. Der Gedanke, so was zu verfassen, ist mir während meiner vergeblichen Bemühungen, irgendwas Sinnvolles im Fernsehen zu finden, gekommen. Ständig haben sie für den "Bergdoktor" geworben und Ausschnitte aus der Serie gezeigt. Was für ein Oberschleimi.
Und immer diese merkwürdigen Sendungen bei RTL, wo alle ständig in Badezeug am Pool stehen, Getränke in der Hand halten und Quatsch reden.
Sogar, wenn man auf der Suche nach Zerstreuung, seine Ansprüche nicht allzu hoch hängt, kann man nur abkotzen bei soviel Sinnlosigkeit auf einmal.
Ich habe sogar eine Show gesehen, wo die Kandidaten sich tatsächlich unten ohne präsentieren mussten. Ihr Oberkörper war durch einen Vorhang verdeckt. Wer denkt sich soviel Sch... aus. Mir fällt kein anderes Wort dafür ein. Ist sowas nicht sittenwidrig?
Der Titel soll die Zusammengehörigkeit zwischen dem Wolf und mir hervorheben. Er ist zwar unattraktiv aber doch passend.
Gruß Friedrichshainerin
 



 
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