Blumenberg
Mitglied
Bilder im Kopf
Nun hatten sie ihn doch gekriegt. Werner Fäßler saß wie zur Salzsäule erstarrt auf seinem standardisierten Bürostuhl und blickte auf das kleine Kofferradio, das in der Mitte der beiden aneinandergeschobenen Schreibtische stand. Außerstande sich zu rühren, lauschte er der Stimme, die ihn über die Einzelheiten der spektakulären Ergreifung in einem nüchtern-sachlichen Ton informiert hatte. Sie hatten ihn also gekriegt. Aber nicht irgendwie gekriegt, nicht über den offiziellen Dienstweg, über eine von Diplomaten in irgendeinem argentinischen Hinterzimmer arrangierte Vereinbarung zur Auslieferung, obwohl kein offizielles Auslieferungsabkommen bestand. Am 11. Mai war er in einem Stadtteil von Buenos Aires heimlich verhaftet und neun Tage später nach Israel verschleppt worden. An sich nichts Unerwartetes, war es doch ein offenes Geheimnis, dass sich ehemalige Nazi-Kader in Südamerika verbargen und Israel alles daran setzte, diese ausfindig zu machen. Am 3. Juni schrieb der israelische Premierminister Ben Gurion an den argentinischen Präsidenten. Keine Entschuldigung, sondern vielmehr eine Art Rechtfertigung. Man habe zwar argentinisches Recht verletzt, es handele sich aber schließlich um jenen Mann, der „den Massenmord in gigantischem und beispiellosem Maßstab über ganz Europa organsiert hat“. Sie hatten ihn sich einfach genommen und wer wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, ihnen das Recht dazu abzusprechen. Bei jedem anderen der untergetauchten Parteimitglieder wäre Fäßlers Leben wohl in den geordneten Bahnen weiterverlaufen, die es nach dem plötzlichen Ende des tausendjährigen Reiches gerade einmal 12 Jahre nach seinem Beginn und der anschließenden Entnazifizierung eingeschlagen hatte. Doch als der Name Eichmann fiel, spürte Fäßler, dass etwas in seinem Inneren begann, an die Oberfläche zu drängen, etwas, das er zusammen mit diesen unrühmlichen Jahren durch die Weigerung, sich zu erinnern, mühsam ganz tief nach unten in sein Bewusstsein geschoben hatte.
„Ist dir nicht gut, Werner? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Wie aus weiter Ferne drang die Stimme seines Bürokollegen zu ihm. Nur zögerlich breiteten sich die Worte in seinem auf einmal wie leergefegten Verstand aus. „Gehört!“, stieß er nach einem Moment der Stille hervor und ergänzte, als er das verdutzte Gesicht sah: „Ich habe von einem Geist gehört.“
„Ach, du meinst den Eichmann … War doch klar, dass sie den, sollte er den Krieg überlebt haben, irgendwann bekommen. Immerhin hat er es geschafft, sich fünfzehn Jahre lang dünne zu machen. Wenn du mich fragst, wird es Zeit, dass wir mit dem finsteren Kapitel abschließen. Sollen sie ihn doch ruhig vor Gericht stellen, dann wird man schon sehen, dass wir in der BRD dieses Kapitel endgültig überwunden haben und die alten Poltergeister nur noch in Südamerika herumspuken. Meinst du nicht auch?“ Fäßlers Kollege hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er während der NS-Zeit im niederen Beamtenrang im Verwaltungsarchiv des Ministeriums gearbeitet hatte. Natürlich hatte er ein Parteibuch gehabt, das hatte schließlich jeder in der Verwaltung. Nazi sei er aber nie gewesen.
Auch wenn er damit dem im Nachkriegsdeutschland so gängigen Klischee des Mitläufers ohne tiefere ideologische Bindung entsprach, glaubte Fäßler ihm seine Geschichte. Er hatte ihn in den letzten zehn Jahren gemeinsamer Arbeit als völlig desinteressiert gegenüber der Tätigkeit, die er verrichtete, kennengelernt, ebenso zeigte e sichr gegenüber dem politischen Tagesgeschehen vollständig interesselos.
Insgeheim hatte er ihn sich sogar zum Vorbild für seine eigene Rolle genommen, in die er mittlerweile so hineingewachsen war, dass sie wie eine zweite Haut seinen ursprünglichen Lebensgang überlagerte. Die Zeit zwischen dreiunddreißig und fünfundvierzig hatte er in den letzten Jahren dem Zugriff seines eigenen Bewusstseins entzogen. Er war vollständig zu Werner Fäßler, dem Archivar im Bundesministerium des Inneren, geworden, der an fünf Tagen in der Woche von acht bis siebzehn Uhr mit einer einstündigen Mittagspause seiner Arbeit nachging und in seiner eigenen Erinnerung nie etwas anderes als das gemacht hatte. Sonst gab es nur das Kind Fäßler, ein früheres, ihm fremd gewordenes Ich, das seine Kindheit und Jugend in der Weimarer Republik der 1920er-Jahre verlebt hatte. Was dazwischen lag, war eine Geschichte, die in seinen Erzählungen der seines Berufskollegen formal wie ein Ei dem anderen glich. Niedere Beamtenstelle ohne größere eigene Verantwortung und Mitglied der NSDAP. Als einer der letzten sei er, wie er damals auf Nachfrage den US-Beamten mitgeteilt hatte, in die Partei hineingerutscht. Er hatte darauf bestanden, dass ins Protokoll aufgenommen wurde, dass das Drängen seines Vorgesetzten und anderer Kollegen bei der Entscheidung eine Rolle gespielt habe, und daran glaubte er irgendwie auch. Freud hat dieses Phänomen in seinem Aufsatz zur Verneinung beschrieben. Im psychoanalytischen Verfahren wird die Verneinung als Methode der Verdrängung von traumatischen oder unliebsamen Ereignissen aus dem Bewusstsein erläutert; sie werden schlicht negiert. Er gibt uns dafür folgendes Beispiel: Ein Patient wird nach den in seinen Träumen auftauchenden Personen befragt und antwortet mit Nachdruck: „Bestimmt nicht die Mutter!“, womit er nichts anderes sagt als: „Natürlich ist es die Mutter.“ Bei dem klassischen Rechtfertigungsgang der ehemaligen NSDAP-Mitglieder ist in den meisten Fällen ein ähnliches Phänomen zu beobachten. Wenn man die Frage danach stellt, warum der Betreffende Mitglied in der Partei geworden ist, wird die Antwort lauten: „Bestimmt nicht, weil ich ein Nazi war!“ Was das eigentlich aussagen soll, wissen wir, Freud sei Dank, ja nun. Es besteht sogar Hoffnung auf Heilung in Form einer Negation der Negation. Davon wusste Werner Fäßler freilich nichts, aber er spürte sehr wohl, dass die oberflächliche Fassade des kleinen unwissenden Beamten einen Riss bekommen hatte, als der Name Eichmann so unvermittelt in den Raum hineingeklungen war. Ein Frösteln überlief ihn und gleichzeitig spürte er, dass er begann zu schwitzen.
„Werner! Verflucht! Was ist denn heute bloß los mit dir?“ Sein Arbeitskollege riss ihn wieder aus seinen Gedanken.
Fäßler sah ihn einen Augenblick lang gehetzt an, gewann aber schließlich seine Fassung wieder. „Entschuldige! … Ich … Ich weiß selbst nicht, was los ist.“
„Kanntest du den Eichmann etwa?“, hakte sein Kollege nach. „Den habe ich bestimmt nicht gekannt [s.o.]. Ein kleiner Beamter wie ich hatte doch mit den Oberen nichts zu tun“, sagte Fäßler und spürte zum ersten Mal seit Jahren wieder das Unbehagen, welches damit einherging, dass sich der Satz in seinen Ohren wieder wie eine Lüge anhörte.
„Ich frag ja bloß … und auch nur, weil du dich so sonderbar aufführst“, sagte Winkelmann und sah ihn etwas verlegen und entschuldigend an. Das Thema war gesellschaftlich dünnes Eis und Winkelmann achtete offensichtlich darauf, nicht gegen den bei seiner Generation allgemein geltenden Grundsatz zu verstoßen, nicht genauer nachzufragen, wenn das jeweilige Gegenüber nichts von sich aus über diese unselige Zeit preisgeben wollte.
„Ich meine, das ist doch jetzt sowieso Vergangenheit. Die wirklich Schuldigen haben sie erwischt und was wussten wir denn damals schon.“
„Ja, … da hast du wohl recht“, antwortete Fäßler ohne rechte Überzeugung und spürte, dass tief in ihm die verschütteten Erinnerungen ihre ganze Kraft zusammengenommen hatten und wütend danach verlangten, aus einem bloß schemenhaften Etwas auf dem Grund wieder zu einem scharfen Bild zu werden.
Er musste raus aus dem engen Büro und das möglichst, bevor die Bilder wieder über ihn hereinbrachen. Er kannte sie, aber ähnlich seinen Jugenderinnerungen waren es in den letzten Jahren die Gedanken eines früheren, anderen Ich geworden und in die Köpfe anderer Leute konnte - in Fäßlers Fall wollte - man bekanntlich nicht hineinsehen.
Fäßler sah auf die Uhr. Es war zwar erst halb fünf, aber er entschloss sich dennoch zu handeln. „Karl-Heinz, mir langt‘s für heute, ich geh heim!“, verkündete Fäßler und erhob sich von seinem Stuhl.
„Ist wohl besser so, du siehst grauenhaft aus!“, stellte sein Kollege nach einer kurzen visuellen Prüfung fest und zwinkerte ihm dann verschwörerisch zu. „Wenn mich bis fünf einer nach dir fragt, bist du irgendwo im Haus unterwegs.“
„Dank dir Karl-Heinz, du hast was gut bei mir.“ Kaum gesagt, war Fäßler auch schon zur Tür heraus und eine Minute später passierte er die Pforte des Verwaltungsarchivs. Die Erinnerungen brachen hervor, kaum dass er die Pforte passiert hatte. Ziellos lief er durch die Straßen Bonns, ohne wahrzunehmen, wo er sich gerade befand, bis er schließlich vor einer Polizeiwache stehenblieb. Er rang einen Augenblick mit sich, dann trat er durch die Tür in den Eingangsbereich der Wache ein. Ein Beamter in Uniform sah, als er eintrat, von seinen Papieren auf und bedachte ihn mit einem gelangweilten Blick. Zielstrebig marschierte er auf den Mann mittleren Alters zu. „Ich möchte mich selbst anzeigen“, kam Fäßler, ohne zu grüßen, direkt zu dem Anliegen, das ihn in die Wache hingetrieben hatte. Der Beamte musterte ihn einen Augenblick. „Wegen was für einem Delikt wollen Sie sich denn anzeigen?“, fragte er ohne sonderliches Interesse. „Beihilfe zum Völkermord“, entfuhr es Fäßler, „glaube ich“, fügte er dann kleinlaut an.
Von einem Augenblick auf den anderen wechselte der Gesichtsausdruck des Wachtmeisters von Desinteresse zu professioneller Aufmerksamkeit. „Dann schildern Sie mir doch einmal genauer, worum es geht“, forderte er Fäßler auf, der schon wieder in die plötzliche Bilderflut versunken war, die sich in sein Bewusstsein drängte.
„Es muss 1942 gewesen sein, kurz bevor wir nach Lemberg kamen, Eichmann und ich.“ Er sah sie vor sich, die Bahnhofshalle von Lemberg. Ein prachtvolles, großes Gebäude, erbaut zum sechzigjährigen Regierungsjubiläum des kaiserlich-königlichen Monarchen des Habsburgerreiches Franz Josef. Dies hatte ihm die neben ihm stehende, kleine und etwas unscheinbare Gestalt, deren Augen durch die dicken Gläser der Brille hindurch groß aussahen, ein paar Minuten zuvor erklärt. „Wir waren davor in Minsk gewesen zu einer Inspektion. Eichmann sollte einen Bericht schreiben.“ Fäßler beugte sich vor und bedeutete auch dem Beamten näherzukommen: „Über die Juden dort und wie sie erschossen werden. Wir wurden wegen irgendetwas aufgehalten und deshalb fuhr ich ihn direkt an den Platz, direkt an die Grube heran. Als wir ankamen, war die Sache schon vorbei, fast vorbei – worüber ich selbst heilfroh gewesen bin. Als ich hinkam, sah ich aber gerade noch, wie junge Schützen … mit dem Totenkopf auf den Spiegeln hier in die Grube schossen … Schossen hinein und ich sehe noch eine Frau. Arme rückwärts - und dann sind auch mir die Knie abgewankt und ich bin weg. Dann sind wir auf der Rückreise nach Lemberg gefahren und haben uns den Bahnhof angeschaut. Das Fürchterliche durch ein freundliches Bild vertreiben, hat Eichmann gesagt, also sind wir zum Bahnhof gegangen. Dann weiter zur örtlichen SS-Kommandantur und dabei gleich in die nächste Fürchterlichkeit gekommen. Obwohl man, wie der Kommandant Eichmann stolz versicherte, das Judenproblem bereits befriedigend gelöst hatte, habe ich eine andere, furchtbare Sache gesehen. Da war eine Grube gewesen, die war aber schon zu. Da quoll wie ein Geiser … ein Blutstrahl heraus. Eichmann hat‘s damit auch gereicht, also sind wir wieder nach Berlin zurückgefahren.“ Der Beamte hatte Fäßlers Schilderungen aufmerksam und staunend gelauscht. „Was haben Sie denn mit Eichmann zu tun gehabt?“, erkundigte er sich dann. „Ich war sein Fahrer bei dieser Reise“, gab Fäßler zu. „Haben Sie dort denn auch wen erschossen?“ fragte der Beamte streng und Fäßler erbleichte. „Um Himmels willen! Niemals! … Ich war doch bloß der Fahrer.“
„Sind Sie entnazifiziert worden?“, kam die nächste Frage des Wachtmeisters. „Ja, aber das hat doch nichts mit dem, was ich Ihnen erzählt habe, zu tun.“
„Doch, hat es, Sie sind entnazifiziert und damit in den Schoß der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt. Alles andere geht mich nichts an. Sie haben ja niemanden umgebracht. Das müssen Sie dann schon mit Ihrem Gewissen ausmachen“, sagte der Wachtmeister und wies auf die Tür.
Grußlos ließ Werner Fäßler den Wachtmeister stehen und ging nach Hause.