Das Märchen vom freien Willen

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TaugeniX

Mitglied
Das Erdloch, in dem sie auf die Auspeitschung warten, ist nur vier Schritte breit. Der Alte sitzt am feuchten Lehmboden und stützt seinen Kopf nachdenklich auf die Hände. Vor ihm dreht der Junge rastlos seine Runden, - rennt im Kreis als könnte er sich so hochdrehen und die Flucht ergreifen.

„Wird Ihnen nicht langsam übel, junger Mann“, fragt der Alte, „mir wird schon beim Zusehen schwindlig, wie Sie kreisen.“

„Übel? Unerträglich ist es! Wir sind wie Tiere eingesperrt, wie Ratten in einem Loch, man kann doch nicht…“

„Also, eingesperrt haben sie uns tatsächlich“, unterbricht ihn der Alte, „doch ob man wie ein Tier ist, liegt immer noch an einem selbst. Ich sitze auf jeden Fall wie ein Mensch hier und versuche mich auf eine durchaus menschliche Sache zu konzentrieren: ein lieber Kollege hat mir bevor ich herkam ein kleines Schachrätsel gegeben und ich möchte es endlich mal lösen.“

„Was reden Sie? Ist Ihnen jetzt nach Schachrätseln? Wissen Sie nicht, was sie mit uns morgen tun werden?“

„Natürlich weiß ich das. Der Vormittag wird morgen wahrlich unangenehm, aber das ist noch kein Grund sich bereits den heutigen Abend zu verderben.“ – Der Alte grinst und seine Augen verschwinden in Tausend Lachfalten.

„Haben Sie denn gar keine Angst?“ Der Junge hat inzwischen aufgehört zu laufen, er setzt sich hin und schaut seinen Mithäftling mit Staunen an.

„Nein. Sie können sich in Ihren jungen Jahren die Aufregung noch leisten. Mir hat aber mein Doktor zur tunlichsten Stressvermeidung geraten. Also halte ich mich daran und erspare meinem schwachen Herzen zumindest heute das böse Adrenalin, gerade wenn es morgen so eh… so anstrengend wird.“

Der Junge wirkt ein wenig beschämt, aber auch aufgeheitert. Er will nicht als Feigling stehen vor dem alten Mann. „Bei mir geht es ja auch nicht um Angst, aber es ist so ungerecht! Verstehen Sie, ich habe nichts getan!“

„Wie meinen Sie das, mein Freund? Haben Sie etwa ihre - wie alt sind Sie denn? - siebzehn - achtzehn Lebensjahre schuldlos in seraphischer Reinheit verbracht?“

„Ich bin schon einundzwanzig Jahre alt“, korrigiert ihn leicht beleidigt der Junge.

„Oh, Verzeihung, ganze einundzwanzig Jahre haben Sie also gelebt ohne, wie Sie es ausdrücken, etwas getan zu haben?“

„Nein, das wollte ich nicht sagen. Aber das, was mir vorgeworfen wird, habe ich nicht getan. Ich kann schwören, dass ich es nicht getan habe!“

„Ich glaube Ihnen auch ohne Schwur“, der Alte winkt nachlässig ab, „aber darum geht es gar nicht. Diese Leute draußen, die wissen doch grundsätzlich nicht, was sie tun und warum. Sie halten es doch nicht für einen Rechtsstaat, was wir da haben, - diesen Chaos? Sind Sie politisch interessiert? – Wohl nicht. Auch besser so. Also, vergessen Sie es, glauben Sie mir einfach, diese Leute wissen nicht, was sie tun. Aber wir werden es bald wissen. Sie bekommen also… was bekommen Sie denn eigentlich?

„Siebzig Peitschenhiebe für Diebstahl.“

„Halt! Nicht für Diebstahl. Sie haben doch nichts gestohlen, nicht wahr? Sie bekommen also siebzig Peitschenhiebe und wir Zwei wollen überlegen, für was die Strafe gelten soll. Entscheiden müssen Sie ohnehin alleine, aber ich helfe Ihnen ein wenig, wenn Sie möchten.“

„Kann ich das wirklich so entscheiden?“ Der Junge ist noch recht skeptisch.

„Natürlich können Sie das. Sie sind ein freier Mensch, Ihr Körper gehört Ihnen und Schmerzen, die Sie haben werden, gehören Ihnen auch. Damit können Sie abrechnen, was Sie für richtig halten. Schmerz ist ein universelles Zahlungsmittel und zudem ein sehr faires, denn jeder Mensch kann davon so viel aufbringen, wie er bereit ist zu geben.“

„Naja... Ich weiß es nicht. Ich habe etwas getan, was sehr Schlimmes… Aber es ist lange her, sind schon fast zehn Jahre. Darf ich Ihnen erzählen?“ Der Junge fasst den Alten schutzsuchend am Ärmel und schaut ihm ins Gesicht. Der Alte nickt und neigt den Kopf lauschend zur Seite.

„Mein Hund, mein guter Cäsar, mit dem ich wie mit einem Bruder aufgewachsen bin, er war so alt wie ich und mit vierzehn Jahren schon ganz grau und krank. Er hat alle seine Zähne verloren und konnte kaum noch fressen. Außerdem bekam er einen dicken Tumor in der „Achsel“ und ihm tat jeder Schritt weh. Da hat mir mein Vater ein Jagdgewehr in die Hand gedrückt und befohlen, ich soll mit Cäsar in den Wald gehen, wie auf die Jagd, die er als junger Hund so liebte, und ihn dort erschießen. Hingegangen bin ich mit ihm, aber ich konnte nicht abdrücken. Ich habe es einfach nicht geschafft. Wie soll man nur schießen, wenn er so ruhig da sitzt und treuherzig in die Augen schaut? Ich hab ihm dann einen Stock geworfen und er ging ganz langsam hinkend ihn zu holen, da hätte er mir den Rücken gekehrt. Ich konnte wieder nicht. Ich brachte es einfach nicht. Und heimzugehen mit dem Cäsar habe ich mir auch nicht getraut. Und da hab ich was Schreckliches getan. Ich hab ihn an einen Baum angebunden und lief einfach davon. Ich lief bis nach Hause ohne mich einmal umzudrehen, ohne Halt. Ich hab meinen alten Freund mitten im Wald stehen lassen, damit er dort an Durst und Hunger stirbt. Bloß, weil ich so feige war, so elend feige…“

„Ja… Das ist tatsächlich sehr schlimm.“ – Die sarkastische Leichtigkeit ist aus der Stimme des Alten gewichen. „Es ist sehr schlimm und Sie müssen dem Schicksal danken, dass Sie morgen diese Chance bekommen. Dass Sie überhaupt bezahlen dürfen. Viele kommen ihren Lebtag gar nicht dazu. Was Sie morgen leiden müssen, wird reichen. Schließlich waren Sie mit vierzehn Jahren noch ein Kind.“

„Aber es hilft doch meinem Cäsar nichts mehr.“

„Nein. Aber für Sie schafft es ein Gleichgewicht, eine Nullbilanz, - wissen Sie, was das ist? So dürfen Sie einen Neuanfang machen. Hören Sie mir ganz gut zu, merken Sie es sich für morgen: Sie sind kein Opfer. Den Grund, wofür Sie da sind, wissen wir nun. Und Sie werden dazu stehen, mit aller Entschlossenheit und aller Kraft. Nehmen Sie diese Strafe nicht als Zwang! Gehen Sie morgen hin und holen Sie die siebzig Schläge, die Ihnen zustehen. Keine Angst! Wenn Sie schreien müssen, schreien Sie, aber verzweifeln Sie nicht, zweifeln Sie nicht daran, dass Gutes geschieht mit Ihnen.“ Dann lächelt der Alte wieder, wie halb im Scherz fügt er hinzu: „Und vergessen Sie nachher nicht dem armen Peitschenmann zu danken, - sein Job ist wirklich nicht zu beneiden und ein dankbares Wort hört er dafür wohl nie.“



***



Der Junge hat seinen Kopf auf den Schoss des Alten gelegt, er klammert sich an seinem Ärmel und schläft. Der Alte traut sich gar nicht zu rühren, er betrachtet in Sorge den schmächtigen Körper des Jungen und hütet seinen Schlaf. „Was für eine schreckliche Welt! Es ist fast noch ein Kind, wie kann man so einen jungen Menschen unter die Peitsche schicken? Wie kann man überhaupt einen Menschen schlagen… Und was ich ihm da erzählt habe… Hält es überhaupt? Reicht es, dass er diese Grausamkeit überlebt, dass er nicht gebrochen wird? Ich bin kein guter Rhetor, aber ich hab mich bemüht, mehr konnte ich ihm nicht geben. Götter, vergebt mir, wenn es nicht das Richtige war. Götter, steht dem Jungen bei…“



Im Morgengrauen holt ein Wächter den Häftling ab, sieht ihn kurz an und ruft gleich nach Verstärkung: der Wächter ist erfahren und der Blick des Jungen kommt ihm gefährlich vor, - überlegen und wissend, als würde dieses halbe Kind ein Geheimnis mit sich tragen. So schaut ein Gefangener nur, wenn er einen sicheren Fluchtplan hat und Hilfe von außen erwartet. Doch der Wächter hat sich getäuscht. Der Junge geht bereitwillig mit. Er erspart seinen Henkern die verzweifelte Abwehr und das Betteln um Gnade und legt sich ganz ruhig auf die Pritsche. Unter den Schlägen ist er nicht besonders tapfer, - sein Körper bäumt sich auf, er schreit und weint wie jeder gewöhnliche Mensch, der große Schmerzen leiden muss. Doch als es vorbei war, passiert das Unfassbare. Der Junge steht langsam auf und schaut zu seinem Peitschenmann: „Danke für Deine Mühe, Du Armer! So ein Job ist nicht zu beneiden. Ich danke Dir!“ Auf seinem verweinten Gesicht nistet sich ein kleines Lächeln ein. Fast überheblich klopft er seinem Henker auf die Schulter. So etwas hat der Henker noch nie erlebt. Vor lauter Staunen bringt er nicht mal einen Zorn über diese Frechheit auf. Er bleibt einfach mit dem offenen Mund stehen…
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo TaugeniX, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Deine Geschichte hat mir gut gefallen!!


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

TaugeniX

Mitglied
Danke für den freundlichen Empfang, lieber DocSchneider!

Ich bin ein wenig um die Dosis der Moralinsäure in meiner Geschichte besorgt. Aber vielleicht habe ich es noch irgendwie im verträglichen Rahmen halten können.
 

Wipfel

Mitglied
Moralin hin oder her - handwerklich sauber geschrieben. Und auch mir gefällt es. Immerhin aus einer anderen Welt und/oder aus einer anderen Zeit. Ja, guter Einstand!

Grüße von wipfel
 
A

aligaga

Gast
Bei Gerichten, in denen Moralin mitgebacken wird, heißt’s aufpassen – da ist man rasch mit zu viel Salz oder zu viel Zucker unterwegs, und der Kuchen wird am Ende ungenießbar.

Diesen hier würde @ali zwar als sorgfältig gebacken ansehen, aber mehr als ein oder zwei Scheibchen bringt er davon nicht hinunter. Hauptgrund dafür sind die Zutaten, an die sein europäischer Gaumen nicht gewöhnt ist.

Er kann sich zum Beispiel nicht vorstellen, als junger Mensch mit einem alten in einem unwürdigen Loch auf eine ungerechte Strafe zu warten und dabei dessen weisen Sprüchen zu lauschen, ohne ihn zu fragen, was dieser denn angestellt habe, dass ihm nun auch Prügel drohten. Vielleicht hat er sich ja an einer Minderjährigen vergriffen? Oder er ist ein „Politischer“?

Und mal ehrlich – fändest du wirklich Trost, wenn dir ein Wildfremder im Warteraum des Todes weismachen wollte, du habest die Strafe auf jeden Fall verdient, weil es die „Erbsünde“ gäbe? Jenen Makel, unter dem schon die Babys litten und für die sie, wofern nicht rechtzeitig getauft, schnurstracks zur Hölle führen, falls sie noch im Brutkasten stürben?

Warum sollte der Umstand, dass offenbar völlig verrohte Eltern ihr Kind zum Töten eines geliebten Haustieres zwingen wollten und dieses damit komplett überforderten, „Schuld“ bedeuten, die nun aus dem Kind herausgeprügelt werden müsse? Wenn, dann verdienten doch die Eltern Dresche und nicht der Knabe.

Folglich nimmt man dem Buben auch nicht ab, dass er nach 70 Peitschenhieben noch so bei Bewusstsein wäre, dass er seinem Peiniger die Hände küssen könnte. Sorry, aber das ist heillos übertrieben und klingt wie eine der biblischen Geschichten, die einem schon im Kindergottesdienst auf die Nerven gegangen sind.

Die Nummer ist durch und durch „altmodisch“, lieber @Taugenix. Mag sein, dass in anderen Kulturkreisen als den unsrigen „Erbsünden“ noch angesagt sind und den „Alten“ unreflektiert alles geglaubt wird – unsere Alten haben u. a. sechs Millionen Juden umgebracht und sich danach aus der Verantwortung dafür stehlen wollen. Die Jungen mussten sie zwingen, Farbe zu bekennen.

TTip: Jemandem, der’s wirklich verdient hat, mal 70 Peitschenhiebe verpassen und abwarten, was der gleich darauf noch zu sagen hat. Sei versichert: Da kommt nicht mehr allzuviel.

@Ali braucht jetzt ein Pfefferminzbobon.

Gruß

alilgaga
 

TaugeniX

Mitglied
Ich danke herzlich für die kritische Auseinandersetzung, @ali!

Wirklich überraschend und sogar etwas unheimlich ist für mich, dass Du mich sofort als dem anderen Kulturkreis zugehörig identifizierst, denn ich gehöre tatsächlich nicht dem "post-christlichen Abendland" an. Ich bin Russin, also eine Mischung aus dem düsteren byzantinischen Geist und sowjetischer Spießrutendisziplin.

Oder sind es die Russizismen in meinem Text, die ich schon wieder übersehen und nicht ausgemerzt habe, die meine Herkunft verraten?

In dieser kleinen Geschichte wollte ich eine Welt zeigen, wo die von Dir kritisch angezweifelten Dinge eben selbstverständlich sind, - das immerwährende diffuse Schuldbewußtsein, die schuldbefreiende Wirkung der Schmerzen, aber auch die Selbstverständlichkeit der geistigen Freiheit unter jeglichen äußeren Umständen: eine Verbindung vom stoischen und christlichen Gedankengut.

Es ist mir offensichtlich nicht gelungen. Ich nehme es als Hinweis und Herausforderung.

Nochmals Danke für den Skalpelschnitt.

Lieben Gruss
Darja
 

TaugeniX

Mitglied
Und jawohl, dass mein Junge den Alten nicht nach dem Grund fragt, warum er auch da ist, - das ist ein Fehler, den ich eher aus Faulheit einschleichen habe lassen.

Ich werde diese Stelle entsprechend korrigieren.
 
G

Gelöschtes Mitglied 16391

Gast
Hallo Taugenix,

für einen Einstand ein wahrlich gelungenes Stück Prosa, das zum Denken anregt und sprachlich solide und flüssig geschrieben ist. Die Ausgangssituation, zwei Männer (ein Junger und ein Alter) vor der Bestrafung, animiert zum Weiterlesen. Die Gefahr, dass der alte Mann in seiner Weisheit auf den Leser herablassend wirken könnte, hast du durch den letzten Absatz verhindert. Dennoch finde ich, dass der Text nach den drei Asterisken an Kraft verliert. Vorher war ich bei neun Punkten, letztendlich sind es acht geworden. Was mich genau an den letzten beiden Paragraphen stört, kann ich noch nicht in Worte fassen. Vll später.

Gruß und willkommen,

CPMAn
 

Wipfel

Mitglied
Liest man die Geschichte als Kurzgeschichte, stellen sich all die ali-Fragen. Doch der Schlüssel liegt in der Überschrift. Märchen. Nichts anderes will das Stück sein. Ob es sein kann, dass einer nach 70 Schlägen noch aufsteht? Im Märchen immer.

Fragt die Müllerstochter das Rumpelstielzchen, was ihn denn zum Zwerg macht? Fragt - um aktuell zu bleiben - die Goldmarie Frau Holle, warum sie denn tagaus tagein die Betten über diese unsägliche Welt und all ihren liebenswerten Kindern ausschütteln muss? Das Märchen wäre sofort kaputt.

Ich halte deine aliKritik an der Stelle für nicht genügend durchdacht.

Was macht dann das Stück bei den Kurzgeschichten? Eine Frage an dich TaugeniX.

Grüße von wipfel
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo TaugeniX,
ja, der Junge haette den Alten bei der "Gelegenheit" wohl mal fragen muessen wieso er ueberhaupt da ist. Ansonsten hat mir Deine Geschichte sehr gut gefallen! Das mit den Hieben sehe ich so wie Wipfel.
Herzlich willkommen!
Ji
 
A

aligaga

Gast
Das einzig "Märchenhafte" an dem Stück, in dessen Kern die altmodische Schuld- und Sühne-Nummer steckt, ist das Bild, ein halbtot Geschlagener wäre am Ende in der Lage, sich "erlöst" zu fühlen und seinem Peiniger die Hände zu küssen. Im Mittelalter und in einer Zeit, als noch von Amts wegen viehisch gefoltert wurde, hat man manchmal wohl wirklich so gedacht.

Aber das hat @ali ja alles oben schon mal ausführlich erklärt. Offenbar sind nicht alle bibelfest, die hier mitreden; sie wissen nichts von einer Erbsünde und haben Hiob nie zugehört.

@Taugenix hat alles andere als ein Märchen erzählen wollen. Sondern gesagt, dass freier Wille nur ein Märchen sei. Sie kommt zwar ganz offenbar aus einem anderen Kulturkreis, ist den meisten westlichen Kindsköpfen aber um ein paar Lichtjahre voraus.

Heiter

aligaga
 

FrankK

Mitglied
Hallo, TaugeniX

Auch von mir nachträglich ein "herzliches Willkommen" im grünen Haifischbecken der Leselupe.

Einen ganz hervorragenden Einstand hast Du uns hier abgeliefert, vor lauter Lesen bin ich nicht zur Erbsenzählerei gekommen.
Die Schilderungen sind mit wenigen Worten so plastisch, dass ich förmlich das Erdloch "riechen" konnte. Ich fühlte mich mit den beiden "Anwärtern" eingespert und von der Rede des Alten angesprochen.
Wirklich Unschuldig? Nie irgendeine Verfehlung in all den Jahren? Definitiv - wir alle sind keine Heiligen. Auch der Junge nicht.

Der Alte hat in seinem Bemühen, die "Last" des jungen zu mildern, reichlich Sympathie-Punkte verdient.
Der "Junge" fühlte sich zu unrecht verurteilt, er empfand seine Strafe für ungerecht. Der "Alte" eröffnete ihm eine Erkenntnis, die "Strafe" als angemessen zu betrachten. Offensichtlich bereute der "Junge" seine Tat, als er damals seinen Hund hat elendiglich verdursten und / oder verhungern lassen. Man könnte fast von einer "göttlichen Gerechtigkeit" sprechen. Er (der Junge) muss es aber in seinem Inneren selbst mit sich ausmachen, wie angemessen die Peitschenhiebe für diese Tat wären. Das geschieht auch und wird deutlich, indem er dem "Henker" für die erlittene Bestrafung (und damit Vergebung, er hat für seine Sünde gezahlt) dankt.

Kleines Manko: Eben diese Dankesszene empfinde ich als geringfügig überzeichnet. Die vielen Worte des Ausgepeitschten (siebzig Hiebe!) sind etwas zu viele Worte.
Auch das angedeutete Lächeln ist möglicherweise etwas zu pathetisch.

Noch zum Thema:
Warum fragt der Junge nicht nach dem Grund für die Anwesenheit des Alten?
Ich glaube, es könnte daran liegen, dass der Junge viel zu sehr damit beschäftigt ist, mit seinem Schicksal und der vermeintlichen Ungerechtigkeit zu hadern, die ihm hier vermeintlich widerfährt. Als der Alte ihn zu einer anderen Denkweise brachte, wurde diese Frage nach dem Grund hinfällig. (Indirekt hat der Alte sie ja auch beantwortet, finde ich)


Fazit:
Sauber und flüssig geschrieben, dem Namen Deines Avatars "TaugeniX" wirst Du nicht gerecht. Ein "TaugeWohl" wäre passender. ;)

Danke für dieses kurzweilige und nachdenklich stimmende Stück.


Grüßend aus Westfalen
Frank
 

TaugeniX

Mitglied
Ich wollte zwar selbst kein Märchen erzählen, aber ich wollte, dass der Alte ein Märchen erzählt und der Junge ihm glaubt.

Ich denke, dass es Situationen gibt, wo eine provisorische Sinngebung völlig ausreicht. Ein Mensch in auswegloser Lage, direkt vor dem großen Leiden oder dem Tod ist oft um jeden Sinn dankbar und willig zu glauben.

Der Spruch, Religion sei Opium für das Volk, hat schon seinen wahren Kern. Aber Opium kann eine Wohltat sein, jedenfalls in der palliativen Phase. Ich möchte nicht in einer Welt ohne Opiate leben.

Was den Zustand direkt nach der Auspeitschung anbelangt, muss ich zustimmen, dass ich mit der Redseligkeit des Jungen übertrieben habe. Ich werde seine Tiraden auch der situationsbedingten Kurzatmigkeit anpassen.

Für kritische Bemerkungen und natürlich auch für Lob und Unterstützung möchte ich euch, Kollegen, herzlich danken!

Lieben Gruss
Darja
 

TaugeniX

Mitglied
Das Erdloch, in dem sie auf die Auspeitschung warten, ist nur vier Schritte breit. Der Alte sitzt am feuchten Lehmboden und stützt seinen Kopf nachdenklich auf die Hände. Vor ihm dreht der Junge rastlos seine Runden, - rennt im Kreis als könnte er sich so hochdrehen und die Flucht ergreifen.

„Wird Ihnen nicht langsam übel, junger Mann“, fragt der Alte, „mir wird schon beim Zusehen schwindlig, wie Sie kreisen.“

„Übel? Unerträglich ist es! Wir sind wie Tiere eingesperrt, wie Ratten in einem Loch, man kann doch nicht…“

„Also, eingesperrt haben sie uns tatsächlich“, unterbricht ihn der Alte, „doch ob man wie ein Tier ist, liegt immer noch an einem selbst. Ich sitze auf jeden Fall wie ein Mensch hier und versuche mich auf eine durchaus menschliche Sache zu konzentrieren: ein lieber Kollege hat mir bevor ich herkam ein kleines Schachrätsel gegeben und ich möchte es endlich mal lösen.“

„Was reden Sie? Ist Ihnen jetzt nach Schachrätseln? Wissen Sie nicht, was sie mit uns morgen tun werden?“

„Natürlich weiß ich das. Der Vormittag wird morgen wahrlich unangenehm, aber das ist noch kein Grund sich bereits den heutigen Abend zu verderben.“ – Der Alte grinst und seine Augen verschwinden in Tausend Lachfalten.

„Haben Sie denn gar keine Angst?“ Der Junge hat inzwischen aufgehört zu laufen, er setzt sich hin und schaut seinen Mithäftling mit Staunen an.

„Nein. Sie können sich in Ihren jungen Jahren die Aufregung noch leisten. Mir hat aber mein Doktor zur tunlichsten Stressvermeidung geraten. Also halte ich mich daran und erspare meinem schwachen Herzen zumindest heute das böse Adrenalin, gerade wenn es morgen so eh… so anstrengend wird.“

Der Junge wirkt ein wenig beschämt, aber auch aufgeheitert. Er will nicht als Feigling stehen vor dem alten Mann. „Bei mir geht es ja auch nicht um Angst, aber es ist so ungerecht! Verstehen Sie, ich habe nichts getan!“

„Wie meinen Sie das, mein Freund? Haben Sie etwa ihre - wie alt sind Sie denn? - siebzehn - achtzehn Lebensjahre schuldlos in seraphischer Reinheit verbracht?“

„Ich bin schon einundzwanzig Jahre alt“, korrigiert ihn leicht beleidigt der Junge.

„Oh, Verzeihung, ganze einundzwanzig Jahre haben Sie also gelebt ohne, wie Sie es ausdrücken, etwas getan zu haben?“

„Nein, das wollte ich nicht sagen. Aber das, was mir vorgeworfen wird, habe ich nicht getan. Ich kann schwören, dass ich es nicht getan habe!“

„Ich glaube Ihnen auch ohne Schwur“, der Alte winkt nachlässig ab, „aber darum geht es gar nicht. Diese Leute draußen, die wissen grundsätzlich nicht, was sie tun und warum. Sie halten es doch nicht für einen Rechtsstaat, was wir da haben, - diesen Chaos? Sind Sie politisch interessiert? – Wohl nicht. Auch besser so. Also, vergessen Sie es, glauben Sie mir einfach, diese Leute wissen nicht, was sie tun. Aber wir werden es bald wissen. Sie bekommen also… was bekommen Sie denn eigentlich?

„Siebzig Peitschenhiebe für Diebstahl.“

„Halt! Nicht für Diebstahl. Sie haben doch nichts gestohlen, nicht wahr? Sie bekommen also siebzig Peitschenhiebe und wir Zwei wollen überlegen, für was die Strafe gelten soll. Entscheiden müssen Sie ohnehin alleine, aber ich helfe Ihnen ein wenig, wenn Sie möchten.“

„Kann ich das wirklich so entscheiden?“ Der Junge ist noch recht skeptisch.

„Natürlich können Sie das. Sie sind ein freier Mensch, Ihr Körper gehört Ihnen und Schmerzen, die Sie haben werden, gehören Ihnen auch. Damit können Sie abrechnen, was Sie für richtig halten. Schmerz ist ein universelles Zahlungsmittel und zudem ein sehr faires, denn jeder Mensch kann davon so viel aufbringen, wie er bereit ist zu geben.“

„Naja... Ich weiß es nicht. Ich habe etwas getan, was sehr Schlimmes… Aber es ist lange her, sind schon fast zehn Jahre. Darf ich Ihnen erzählen?“ Der Junge fasst den Alten schutzsuchend am Ärmel und schaut ihm ins Gesicht. Der Alte nickt und neigt den Kopf lauschend zur Seite.

„Mein Hund, mein guter Cäsar, mit dem ich wie mit einem Bruder aufgewachsen bin, er war so alt wie ich und mit vierzehn Jahren schon ganz grau und krank. Er hat alle seine Zähne verloren und konnte kaum noch fressen. Außerdem bekam er einen dicken Tumor in der „Achsel“ und ihm tat jeder Schritt weh. Da hat mir mein Vater ein Jagdgewehr in die Hand gedrückt und befohlen, ich soll mit Cäsar in den Wald gehen, wie auf die Jagd, die er als junger Hund so liebte, und ihn dort erschießen. Hingegangen bin ich mit ihm, aber ich konnte nicht abdrücken. Ich habe es einfach nicht geschafft. Wie soll man nur schießen, wenn er so ruhig da sitzt und treuherzig in die Augen schaut? Ich hab ihm dann einen Stock geworfen und er ging ganz langsam hinkend ihn zu holen, da hätte er mir den Rücken gekehrt. Ich konnte wieder nicht. Ich brachte es einfach nicht. Und heimzugehen mit dem Cäsar habe ich mir auch nicht getraut. Und da hab ich was Schreckliches getan. Ich hab ihn an einen Baum angebunden und lief einfach davon. Ich lief bis nach Hause ohne mich einmal umzudrehen, ohne Halt. Ich hab meinen alten Freund mitten im Wald stehen lassen, damit er dort an Durst und Hunger stirbt. Bloß, weil ich so feige war, so elend feige…“

„Ja… Das ist tatsächlich sehr schlimm.“ – Die sarkastische Leichtigkeit ist aus der Stimme des Alten gewichen. „Es ist sehr schlimm und Sie müssen dem Schicksal danken, dass Sie morgen diese Chance bekommen. Dass Sie überhaupt bezahlen dürfen. Viele kommen ihren Lebtag gar nicht dazu. Was Sie morgen leiden müssen, wird reichen. Schließlich waren Sie mit vierzehn Jahren noch ein Kind.“

„Aber es hilft doch meinem Cäsar nichts mehr.“

„Nein. Aber für Sie schafft es ein Gleichgewicht, eine Nullbilanz, - wissen Sie, was das ist? So dürfen Sie einen Neuanfang machen. Hören Sie mir ganz gut zu, merken Sie es sich für morgen: Sie sind kein Opfer. Den Grund, wofür Sie da sind, wissen wir nun. Und Sie werden dazu stehen, mit aller Entschlossenheit und aller Kraft. Nehmen Sie diese Strafe nicht als Zwang! Gehen Sie morgen hin und holen Sie die siebzig Schläge, die Ihnen zustehen. Keine Angst! Wenn Sie schreien müssen, schreien Sie, aber verzweifeln Sie nicht, zweifeln Sie nicht daran, dass Gutes geschieht mit Ihnen.“ Dann lächelt der Alte wieder, wie halb im Scherz fügt er hinzu: „Und vergessen Sie nachher nicht dem armen Peitschenmann zu danken, - sein Job ist wirklich nicht zu beneiden und ein dankbares Wort hört er dafür wohl nie.“



***



Der Junge hat seinen Kopf auf den Schoss des Alten gelegt, er klammert sich an seinem Ärmel und schläft. Der Alte traut sich gar nicht zu rühren, er betrachtet in Sorge den schmächtigen Körper des Jungen und hütet seinen Schlaf. „Was für eine schreckliche Welt! Es ist fast noch ein Kind, wie kann man so einen jungen Menschen unter die Peitsche schicken? Wie kann man überhaupt einen Menschen schlagen… Und was ich ihm da erzählt habe… Hält es überhaupt? Reicht es, dass er diese Grausamkeit überlebt, dass er nicht gebrochen wird? Ich bin kein guter Rhetor, aber ich hab mich bemüht, mehr konnte ich ihm nicht geben. Götter, vergebt mir, wenn es nicht das Richtige war. Götter, steht dem Jungen bei…“



Im Morgengrauen holt ein Wächter den Häftling ab, sieht ihn kurz an und ruft gleich nach Verstärkung: der Wächter ist erfahren und der Blick des Jungen kommt ihm gefährlich vor, - überlegen und wissend, als würde dieses halbe Kind ein Geheimnis mit sich tragen. So schaut ein Gefangener nur, wenn er einen sicheren Fluchtplan hat und Hilfe von außen erwartet. Doch der Wächter hat sich getäuscht. Der Junge geht bereitwillig mit. Er erspart seinen Henkern die verzweifelte Abwehr und das Betteln um Gnade und legt sich ganz ruhig auf die Pritsche. Unter den Schlägen ist er nicht besonders tapfer, - sein Körper bäumt sich auf, er schreit und weint wie jeder gewöhnliche Mensch, der große Schmerzen leiden muss. Doch als es vorbei war, passiert das Unfassbare. Der Junge steht langsam auf und schaut zu seinem Peitschenmann: „Danke, Du Armer!" Er ringt nach Atem, schluckt die Tränen runter und sagt es noch einmal: "Ich danke Dir!“ So etwas hat der Henker noch nie erlebt. Vor lauter Staunen bleibt er mit dem offenen Mund stehen…
 

TaugeniX

Mitglied
@ Danke, Romy! Könntest Du mir meine "Russizismen" hier aufzeigen, auch wenn sie nicht so störend sind? Ich sehe sie teilweise nicht, auch wenn ich mich sehr bemühe darum.

Ich wäre echt sehr dankbar für diesbezügliche Korrektur!

LG
Darja
 

TaugeniX

Mitglied
Das Erdloch, in dem sie auf die Auspeitschung warten, ist nur vier Schritte breit. Der Alte sitzt am feuchten Lehmboden und stützt seinen Kopf nachdenklich auf die Hände. Vor ihm dreht der Junge rastlos seine Runden, - rennt im Kreis als könnte er sich so hochdrehen und die Flucht ergreifen.

„Wird Ihnen nicht langsam übel, junger Mann“, fragt der Alte, „mir wird schon beim Zusehen schwindlig, wie Sie kreisen.“

„Übel? Unerträglich ist es! Wir sind wie Tiere eingesperrt, wie Ratten in einem Loch, man kann doch nicht…“

„Also, eingesperrt haben sie uns tatsächlich“, unterbricht ihn der Alte, „doch ob man wie ein Tier ist, liegt immer noch an einem selbst. Ich sitze auf jeden Fall wie ein Mensch hier und versuche mich auf eine durchaus menschliche Sache zu konzentrieren: ein lieber Kollege hat mir bevor ich herkam ein kleines Schachrätsel gegeben und ich möchte es endlich mal lösen.“

„Was reden Sie? Ist Ihnen jetzt nach Schachrätseln? Wissen Sie nicht, was sie morgen mit uns tun werden?“

„Natürlich weiß ich das. Der Vormittag wird morgen wahrlich unangenehm, aber das ist noch kein Grund sich bereits den heutigen Abend zu verderben.“ – Der Alte grinst und seine Augen verschwinden in Tausend Lachfalten.

„Haben Sie denn gar keine Angst?“ Der Junge hat inzwischen aufgehört zu laufen, er setzt sich hin und schaut seinen Mithäftling erstaunt an.

„Nein. Sie können sich in Ihren jungen Jahren die Aufregung noch leisten. Mir hat aber mein Doktor zur tunlichsten Stressvermeidung geraten. Also halte ich mich daran und erspare meinem schwachen Herzen zumindest heute das böse Adrenalin, gerade wenn es morgen so eh… so anstrengend wird.“

Der Junge wirkt ein wenig beschämt, aber auch aufgeheitert. Er will vor dem alten Mann nicht als Feigling dastehen. „Bei mir geht es ja auch nicht um Angst, aber es ist so ungerecht! Verstehen Sie, ich habe nichts getan!“

„Wie meinen Sie das, mein Freund? Haben Sie etwa ihre - wie alt sind Sie denn? - siebzehn - achtzehn Lebensjahre schuldlos in seraphischer Reinheit verbracht?“

„Ich bin schon einundzwanzig Jahre alt“, korrigiert ihn leicht beleidigt der Junge.

„Oh, Verzeihung, ganze einundzwanzig Jahre haben Sie also gelebt ohne, wie Sie es ausdrücken, etwas getan zu haben?“

„Nein, das wollte ich nicht sagen. Aber das, was mir vorgeworfen wird, habe ich nicht getan. Ich kann schwören, dass ich es nicht getan habe!“

„Ich glaube Ihnen auch ohne Schwur“, der Alte winkt nachlässig ab, „aber darum geht es gar nicht. Diese Leute draußen, die wissen grundsätzlich nicht, was sie tun und warum. Sie halten es doch nicht für einen Rechtsstaat, was wir da haben, - diesen Chaos? Sind Sie politisch interessiert? – Wohl nicht. Auch besser so. Also, vergessen Sie es, glauben Sie mir einfach, diese Leute wissen nicht, was sie tun. Aber wir werden es bald wissen. Sie bekommen also… was bekommen Sie denn eigentlich?

„Siebzig Peitschenhiebe für Diebstahl.“

„Halt! Nicht für Diebstahl. Sie haben doch nichts gestohlen, nicht wahr? Sie bekommen also siebzig Peitschenhiebe und wir Zwei wollen überlegen, für was die Strafe gelten soll. Entscheiden müssen Sie ohnehin alleine, aber ich helfe Ihnen ein wenig, wenn Sie möchten.“

„Kann ich das wirklich so entscheiden?“ Der Junge ist noch recht skeptisch.

„Natürlich können Sie das. Sie sind ein freier Mensch, Ihr Körper gehört Ihnen und Schmerzen, die Sie haben werden, gehören Ihnen auch. Damit können Sie abrechnen, was Sie für richtig halten. Schmerz ist ein universelles Zahlungsmittel und zudem ein sehr faires, denn jeder Mensch kann davon so viel aufbringen, wie er bereit ist zu geben.“

„Naja... Ich weiß es nicht. Ich habe etwas getan, was sehr Schlimmes… Aber es ist lange her, sind schon fast zehn Jahre. Darf ich Ihnen erzählen?“ Der Junge fasst den Alten schutzsuchend am Ärmel und schaut ihm ins Gesicht. Der Alte nickt und neigt den Kopf lauschend zur Seite.

„Mein Hund, mein guter Cäsar, mit dem ich wie mit einem Bruder aufgewachsen bin, er war so alt wie ich und mit vierzehn Jahren schon ganz grau und krank. Er hat alle seine Zähne verloren und konnte kaum noch fressen. Außerdem bekam er einen dicken Tumor in der „Achsel“ und ihm tat jeder Schritt weh. Da hat mir mein Vater ein Jagdgewehr in die Hand gedrückt und befohlen, ich soll mit Cäsar in den Wald gehen, wie auf die Jagd, die er als junger Hund so liebte, und ihn dort erschießen. Hingegangen bin ich mit ihm, aber ich konnte nicht abdrücken. Ich habe es einfach nicht geschafft. Wie soll man nur schießen, wenn er so ruhig da sitzt und treuherzig in die Augen schaut? Ich hab ihm dann einen Stock geworfen und er ging ganz langsam hinkend ihn zu holen, da hätte er mir den Rücken gekehrt. Ich konnte wieder nicht. Ich brachte es einfach nicht. Und heimzugehen mit dem Cäsar habe ich mir auch nicht getraut. Und da hab ich was Schreckliches getan. Ich hab ihn an einen Baum angebunden und lief einfach davon. Ich lief bis nach Hause ohne mich einmal umzudrehen, ohne Halt. Ich hab meinen alten Freund mitten im Wald stehen lassen, damit er dort an Durst und Hunger stirbt. Bloß, weil ich so feige war, so elend feige…“

„Ja… Das ist tatsächlich sehr schlimm.“ – Die sarkastische Leichtigkeit ist aus der Stimme des Alten gewichen. „Es ist sehr schlimm und Sie müssen dem Schicksal danken, dass Sie morgen diese Chance bekommen. Dass Sie überhaupt bezahlen dürfen. Viele kommen ihren Lebtag gar nicht dazu. Was Sie morgen leiden müssen, wird reichen. Schließlich waren Sie mit vierzehn Jahren noch ein Kind.“

„Aber es hilft doch meinem Cäsar nichts mehr.“

„Nein. Aber für Sie schafft es ein Gleichgewicht, eine Nullbilanz, - wissen Sie, was das ist? So dürfen Sie einen Neuanfang machen. Hören Sie mir ganz gut zu, merken Sie es sich für morgen: Sie sind kein Opfer. Den Grund, wofür Sie da sind, wissen wir nun. Und Sie werden dazu stehen, mit aller Entschlossenheit und aller Kraft. Nehmen Sie diese Strafe nicht als Zwang! Gehen Sie morgen hin und holen Sie die siebzig Schläge, die Ihnen zustehen. Keine Angst! Wenn Sie schreien müssen, schreien Sie, aber verzweifeln Sie nicht, zweifeln Sie nicht daran, dass Gutes geschieht mit Ihnen.“ Dann lächelt der Alte wieder, wie halb im Scherz fügt er hinzu: „Und vergessen Sie nachher nicht dem armen Peitschenmann zu danken, - sein Job ist wirklich nicht zu beneiden und ein dankbares Wort hört er dafür wohl nie.“



***



Der Junge hat seinen Kopf auf den Schoss des Alten gelegt, er klammert sich an seinem Ärmel und schläft. Der Alte traut sich gar nicht zu rühren, er betrachtet in Sorge den schmächtigen Körper des Jungen und hütet seinen Schlaf. „Was für eine schreckliche Welt! Es ist fast noch ein Kind, wie kann man so einen jungen Menschen unter die Peitsche schicken? Wie kann man überhaupt einen Menschen schlagen… Und was ich ihm da erzählt habe… Hält es überhaupt? Reicht es, dass er diese Grausamkeit überlebt, dass er nicht gebrochen wird? Ich bin kein guter Rhetor, aber ich hab mich bemüht, mehr konnte ich ihm nicht geben. Götter, vergebt mir, wenn es nicht das Richtige war. Götter, steht dem Jungen bei…“



Im Morgengrauen holt ein Wächter den Häftling ab, sieht ihn kurz an und ruft gleich nach Verstärkung: der Wächter ist erfahren und der Blick des Jungen kommt ihm gefährlich vor, - überlegen und wissend, als würde dieses halbe Kind ein Geheimnis mit sich tragen. So schaut ein Gefangener nur, wenn er einen sicheren Fluchtplan hat und Hilfe von außen erwartet. Doch der Wächter hat sich getäuscht. Der Junge geht bereitwillig mit. Er erspart seinen Henkern die verzweifelte Abwehr und das Betteln um Gnade und legt sich ganz ruhig auf die Pritsche. Unter den Schlägen ist er nicht besonders tapfer, - sein Körper bäumt sich auf, er schreit und weint wie jeder gewöhnliche Mensch, der große Schmerzen leiden muss. Doch als es vorbei war, passiert das Unfassbare. Der Junge steht langsam auf und schaut zu seinem Peitschenmann: „Danke, Du Armer!" Er ringt nach Atem, schluckt die Tränen runter und sagt es noch einmal: "Ich danke Dir!“ So etwas hat der Henker noch nie erlebt. Vor lauter Staunen bleibt er mit dem offenen Mund stehen…
 

TaugeniX

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Das Erdloch, in dem sie auf die Auspeitschung warten, ist nur vier Schritte breit. Der Alte sitzt am feuchten Lehmboden und stützt seinen Kopf nachdenklich auf die Hände. Vor ihm dreht der Junge rastlos seine Runden, - rennt im Kreis als könnte er sich so hochdrehen und die Flucht ergreifen.

„Wird Ihnen nicht langsam übel, junger Mann“, fragt der Alte, „mir wird schon beim Zusehen schwindlig, wie Sie kreisen.“

„Übel? Unerträglich ist es! Wir sind wie Tiere eingesperrt, wie Ratten in einem Loch, man kann doch nicht…“

„Also, eingesperrt haben sie uns tatsächlich“, unterbricht ihn der Alte, „doch ob man wie ein Tier ist, liegt immer noch an einem selbst. Ich sitze auf jeden Fall wie ein Mensch hier und versuche mich auf eine durchaus menschliche Sache zu konzentrieren: ein lieber Kollege hat mir bevor ich herkam ein kleines Schachrätsel gegeben und ich möchte es endlich mal lösen.“

„Was reden Sie? Ist Ihnen jetzt nach Schachrätseln? Wissen Sie nicht, was sie morgen mit uns tun werden?“

„Natürlich weiß ich das. Der Vormittag wird morgen wahrlich unangenehm, aber das ist noch kein Grund sich bereits den heutigen Abend zu verderben.“ – Der Alte grinst und seine Augen verschwinden in Tausend Lachfalten.

„Haben Sie denn gar keine Angst?“ Der Junge hat inzwischen aufgehört zu laufen, er setzt sich hin und schaut seinen Mithäftling erstaunt an.

„Nein. Sie können sich in Ihren jungen Jahren die Aufregung noch leisten. Mir hat aber mein Doktor zur tunlichsten Stressvermeidung geraten. Also halte ich mich daran und erspare meinem schwachen Herzen zumindest heute das böse Adrenalin, gerade wenn es morgen so eh… so anstrengend wird.“

Der Junge wirkt ein wenig beschämt, aber auch aufgeheitert. Er will vor dem alten Mann nicht als Feigling dastehen. „Bei mir geht es ja auch nicht um Angst, aber es ist so ungerecht! Verstehen Sie, ich habe nichts getan!“

„Wie meinen Sie das, mein Freund? Haben Sie etwa ihre - wie alt sind Sie denn? - siebzehn - achtzehn Lebensjahre schuldlos in seraphischer Reinheit verbracht?“

„Ich bin schon einundzwanzig Jahre alt“, korrigiert ihn leicht beleidigt der Junge.

„Oh, Verzeihung, ganze einundzwanzig Jahre haben Sie also gelebt ohne, wie Sie es ausdrücken, etwas getan zu haben?“

„Nein, das wollte ich nicht sagen. Aber das, was mir vorgeworfen wird, habe ich nicht getan. Ich kann schwören, dass ich es nicht getan habe!“

„Ich glaube Ihnen auch ohne Schwur“, der Alte winkt nachlässig ab, „aber darum geht es gar nicht. Diese Leute draußen, die wissen grundsätzlich nicht, was sie tun und warum. Sie halten es doch nicht für einen Rechtsstaat, was wir da haben, - dieses Chaos? Sind Sie politisch interessiert? – Wohl nicht. Auch besser so. Also, vergessen Sie es, glauben Sie mir einfach, diese Leute wissen nicht, was sie tun. Aber wir werden es bald wissen. Sie bekommen also… was bekommen Sie denn eigentlich?

„Siebzig Peitschenhiebe für Diebstahl.“

„Halt! Nicht für Diebstahl. Sie haben doch nichts gestohlen, nicht wahr? Sie bekommen also siebzig Peitschenhiebe und wir Zwei werden überlegen, für was die Strafe gelten soll. Entscheiden müssen Sie ohnehin alleine, aber ich helfe Ihnen ein wenig, wenn Sie möchten.“

„Kann ich das wirklich so entscheiden?“ Der Junge ist noch recht skeptisch.

„Natürlich können Sie das. Sie sind ein freier Mensch, Ihr Körper gehört Ihnen und Schmerzen, die Sie haben werden, gehören Ihnen auch. Damit können Sie abrechnen, was Sie für richtig halten. Schmerz ist ein universelles Zahlungsmittel und zudem ein sehr faires, denn jeder Mensch kann davon so viel aufbringen, wie er bereit ist zu geben.“

„Naja... Ich weiß es nicht. Ich habe etwas getan, was sehr Schlimmes… Aber es ist lange her, sind schon fast zehn Jahre. Darf ich Ihnen erzählen?“ Der Junge fasst den Alten schutzsuchend am Ärmel und schaut ihm ins Gesicht. Der Alte nickt und neigt den Kopf lauschend zur Seite.

„Mein Hund, mein guter Cäsar, mit dem ich wie mit einem Bruder aufgewachsen bin, er war so alt wie ich und mit vierzehn Jahren schon ganz grau und krank. Er hat alle seine Zähne verloren und konnte kaum noch fressen. Außerdem bekam er einen dicken Tumor in der „Achsel“ und ihm tat jeder Schritt weh. Da hat mir mein Vater ein Jagdgewehr in die Hand gedrückt und befohlen, ich soll mit Cäsar in den Wald gehen, wie auf die Jagd, die er als junger Hund so liebte, und ihn dort erschießen. Hingegangen bin ich mit ihm, aber ich konnte nicht abdrücken. Ich habe es einfach nicht geschafft. Wie soll man nur schießen, wenn er so ruhig da sitzt und treuherzig in die Augen schaut? Ich hab ihm dann einen Stock geworfen und er ging ganz langsam hinkend ihn zu holen, da hätte er mir den Rücken gekehrt. Ich konnte wieder nicht. Ich brachte es einfach nicht. Und heimzugehen mit dem Cäsar habe ich mir auch nicht getraut. Und da hab ich was Schreckliches getan. Ich hab ihn an einen Baum angebunden und lief einfach davon. Ich lief bis nach Hause ohne mich einmal umzudrehen, ohne Halt. Ich hab meinen alten Freund mitten im Wald stehen lassen, damit er dort an Durst und Hunger stirbt. Bloß, weil ich so feige war, so elend feige…“

„Ja… Das ist tatsächlich sehr schlimm.“ – Die sarkastische Leichtigkeit ist aus der Stimme des Alten gewichen. „Es ist sehr schlimm und Sie müssen dem Schicksal danken, dass Sie morgen diese Chance bekommen. Dass Sie überhaupt bezahlen dürfen. Viele kommen ihren Lebtag gar nicht dazu. Was Sie morgen leiden müssen, wird reichen. Schließlich waren Sie mit vierzehn Jahren noch ein Kind.“

„Aber es hilft doch meinem Cäsar nichts mehr.“

„Nein. Aber für Sie schafft es ein Gleichgewicht, eine Nullbilanz, - wissen Sie, was das ist? So dürfen Sie einen Neuanfang machen. Hören Sie mir ganz gut zu, merken Sie es sich für morgen: Sie sind kein Opfer. Den Grund, wofür Sie da sind, wissen wir nun. Und Sie werden dazu stehen, mit aller Entschlossenheit und aller Kraft. Nehmen Sie diese Strafe nicht als Zwang! Gehen Sie morgen hin und holen Sie die siebzig Schläge, die Ihnen zustehen. Keine Angst! Wenn Sie schreien müssen, schreien Sie, aber verzweifeln Sie nicht, zweifeln Sie nicht daran, dass Gutes geschieht mit Ihnen.“ Dann lächelt der Alte wieder, wie halb im Scherz fügt er hinzu: „Und vergessen Sie nachher nicht dem armen Peitschenmann zu danken, - sein Job ist wirklich nicht zu beneiden und ein dankbares Wort hört er dafür wohl nie.“



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Der Junge hat seinen Kopf auf den Schoss des Alten gelegt, er klammert sich an seinem Ärmel und schläft. Der Alte traut sich gar nicht zu rühren, er betrachtet in Sorge den schmächtigen Körper des Jungen und hütet seinen Schlaf. „Was für eine schreckliche Welt! Es ist fast noch ein Kind, wie kann man so einen jungen Menschen unter die Peitsche schicken? Wie kann man überhaupt einen Menschen schlagen… Und was ich ihm da erzählt habe… Hält es überhaupt? Reicht es, dass er diese Grausamkeit überlebt, dass er nicht gebrochen wird? Ich bin kein guter Rhetor, aber ich hab mich bemüht, mehr konnte ich ihm nicht geben. Götter, vergebt mir, wenn es nicht das Richtige war. Götter, steht dem Jungen bei…“



Im Morgengrauen holt ein Wächter den Häftling ab, sieht ihn kurz an und ruft gleich nach Verstärkung: der Wächter ist erfahren und der Blick des Jungen kommt ihm gefährlich vor, - überlegen und wissend, als würde dieses halbe Kind ein Geheimnis mit sich tragen. So schaut ein Gefangener nur, wenn er einen sicheren Fluchtplan hat und Hilfe von außen erwartet. Doch der Wächter hat sich getäuscht. Der Junge geht bereitwillig mit. Er erspart seinen Henkern die verzweifelte Abwehr und das Betteln um Gnade und legt sich ganz ruhig auf die Pritsche. Unter den Schlägen ist er nicht besonders tapfer, - sein Körper bäumt sich auf, er schreit und weint wie jeder gewöhnliche Mensch, der große Schmerzen leiden muss. Doch als es vorbei war, passiert das Unfassbare. Der Junge steht langsam auf und schaut zu seinem Peitschenmann: „Danke, Du Armer!" Er ringt nach Atem, schluckt die Tränen runter und sagt es noch einmal: "Ich danke Dir!“ So etwas hat der Henker noch nie erlebt. Vor lauter Staunen bleibt er mit dem offenen Mund stehen…
 



 
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