Gefangenschaftsfreisein

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Wuselkopp

Mitglied
Ich ziehe noch ein letztes Mal an der Zigarette und lasse sie in die Dunkelheit fallen. Noch lange sehe ich den roten Punkt durch die Nacht fliegen, bis er von der Gischt aufgefressen wird. Es ist kalt. Ich ziehe meinen Schal ein Stück höher, sodass nun auch meine Nase von ihm bedeckt wird. Schnell beschlägt meine Brille durch meinen Atem, der nur noch aus den winzigen Öffnungen neben meiner Nase aus der schützenden Wolle herausdringt.

Die Nacht ist wunderschön hier draußen. Keine Wolke am Himmel, der Mond scheint hell und sogar sein Spiegelbild scheint aus dem Wasser und ist damit eine zusätzliche Lichtquelle. Dieser Ort ist besonders. Nur du und ich und das Rauschen des Meeres. Die Sterne und der Mond sind unsere einzigen Beobachter und die Gischt klopft ihre Melodie an die Felswand. Es klingt manchmal sogar wie Beifall. Ich lächle über diesen Gedanken, seufze dann aber und drehe mich zu dir um.

Ich bemerke, dass du mich wohl schon eine ganze Weile lang angesehen haben musst, und ich weiß sofort, dass ich nichts sagen muss, denn du hast schon verstanden. Deine Augen verraten mir es, sie verraten mir meist, was gerade in dir vorgeht. Als wäre es dir in dem Moment unangenehm von mir ertappt worden zu sein, schaust du nach unten und kramst in der Tasche deiner abgewetzten Lederjacke, die wir damals zusammen in Paris auf einem Flohmarkt am Montmartre gekauft haben. Wie lange mag das her sein? Vielleicht zehn Jahre vielleicht auch dreizehn? Es kommt mir vor wie eines.

‚Komm‘, sagst du jetzt, und reißt mich damit aus meinen Gedanken, ‚es ist spät und es wird immer kälter. Lass uns aufbrechen. Das Feuer wird auch bald heruntergebrannt sein.‘ Obwohl ich weiß, dass du recht hast, widerstrebt es mir sofort, diesen Ort mit seiner magischen Stimmung zu verlassen. Ich denke, dass wenn ich jetzt gehe, alles bestenfalls nur noch Erinnerung sein wird, dass ich das Meer wahrscheinlich so nie wieder sehen werde.

So gehe ich um dich herum und umfasse die kalten Griffe des Rollstuhls. Neben dir zu gehen fehlt mir sehr. Stattdessen laufe ich nun seit einem guten Jahr hinter dir, kann mich bloß mit deinem Hinterkopf unterhalten. Nicht wie früher in deine Augen sehen. Ich habe das Gefühl, dass seitdem etwas zwischen uns fehlt. Das Glänzen, das Blinzeln: wir haben uns so viel mit Blicken unterhalten. Und auch wenn ich dich in diesem Moment nicht sehen kann, weiß ich, dass deine Augen sich für einen Sekundenbruchteil verengt haben. Denn du hasst es. Es widerstrebt dir, dich schieben zu lassen und du versuchst es so oft wie möglich zu vermeiden. Doch hier auf den nassen Steinen brauchst du Hilfe. Das weißt du und daher lässt du es zu.

Auf meiner Wange spüre ich eine feuchte Spur, die an der Luft in Sekunden eiskalt geworden ist. Am Kinn löst sich die Träne von meiner Haut und trifft glücklicherweise lautlos auf den Kragen meines Mantels. Du sollst es nicht bemerken und da du vor mir gefangen bist, kann ich meine Gefühle verbergen.

Über deinem rechten Ohr bist du bereits ergraut. Der Mond scheint so hell, dass das Grau deiner Haare regelrecht reflektiert. Ich hasse es. So wie du es hasst. So wollten wir es nie. Du bist nicht mehr du und ich bin nicht mehr ich. Wir sind gestorben.

Ich drehe deinen Rollstuhl sanft nach rechts, damit du das Meer sehen kannst. Du fragst nicht, wieso ich das tue.

Und dann gebe ich dir einen Stoß.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo Wuselkopp, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Franka

Redakteur in diesem Forum
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Wuselkopp,

ein beeindruckender Text, der mir sehr gut gefällt.

Was mich ein wenig stört, ist der letzte Satz. Ich halte ihn für entbehrlich. Du würdest dem Leser mehr Raum für seine Phantasie geben, wenn die Geschichte mit "Du fragst nicht, wieso ich das tue" enden lassen würdest. Mal sehen, was Andere noch dazu sagen.

Gruß Ciconia
 

Wuselkopp

Mitglied
Hallo Ciconia,

vielen Dank für deinen Kommentar und deine Meinung.
Ich muss zugeben, wenn ich mir den Text ohne den letzten Satz durchlese, finde ich ihn persönlich zu offen. Aber so sind ja die Geschmäcker unterschiedlich.
Ein Freund von mir fand geraden den Twist im letzten Satz total interessant.

Bin sehr auf noch mehr Meinungen gespannt. Vielleicht bekomme ich ja noch ein paar Kommentare ;-)

Viele Grüße
Wuselkopp
 

FrankK

Mitglied
Ganz ehrlich?

Ich habe eine Gänsehaut.
Den Schluss hatte ich so nicht erwartet.

Mir geht es ähnlich wie Ciconia, der letzte Satz bricht aus der Synphonie der vorhergehenden Geschichte aus. Im zarten Ton des bisher erzählten wirkt er wie ein Missklang, demonstrativ, herausfordernd.


Die Umschreibung der entscheidenden Tat könnte anstelle des "Stoßes" schon zuvor einfließen:
Ich drehe deinen Rollstuhl sanft nach rechts, damit du das Meer ein letztes Mal sehen kannst. Du fragst nicht, wieso ich das tue, sondern nimmst (zärtlich) Abschied.


Fast schon perfekt, nur ganz am Rande:
Ein ganz klein wenig den Text straffen, Füllwörter eliminieren, und im ersten und / oder zweiten Abschnitt die "Gischt" vielleicht durch simples Wasser oder poetischere "Schaumkronen" ersetzen.


Herzlich Willkommen in und unter der Leselupe, ich freue mich schon, weitere Texte von Dir zu lesen.


Herzliche Willkommensgrüße aus Westfalen
Frank
 

Wuselkopp

Mitglied
Wow, danke FrankK!

Dein Vorschlag, das "Ende" schon vorher einfließen zu lassen, gefällt mir.

Ich werde mich nochmal an den Text setzen und daran feilen.

Vielen Dank für dein Feedback :)
 

Wuselkopp

Mitglied
Ich ziehe noch ein letztes Mal an der Zigarette und lasse sie in die Dunkelheit fallen. Noch lange sehe ich den roten Punkt durch die Nacht fliegen, bis er von der Gischt aufgefressen wird. Es ist kalt. Ich ziehe meinen Schal ein Stück höher, sodass nun auch meine Nase von ihm bedeckt wird. Schnell beschlägt meine Brille durch meinen Atem, der nur noch aus den winzigen Öffnungen neben meiner Nase aus der schützenden Wolle herausdringt.

Die Nacht ist wunderschön hier draußen. Keine Wolke am Himmel, der Mond scheint hell und sogar sein Spiegelbild scheint aus dem Wasser und ist damit eine zusätzliche Lichtquelle. Dieser Ort ist besonders. Nur du und ich und das Rauschen des Meeres. Die Sterne und der Mond sind unsere einzigen Beobachter und das Wasser klopft seine Melodie an die Felswand. Es klingt manchmal sogar wie Beifall. Ich lächle über diesen Gedanken, seufze dann aber und drehe mich zu dir um.

Ich bemerke, dass du mich wohl schon eine ganze Weile lang angesehen haben musst. Deine Augen verraten mir, dass du es schon verstanden hast. Sie verraten mir meist, was gerade in dir vorgeht. Als wäre es dir in dem Moment unangenehm von mir ertappt worden zu sein, schaust du nach unten und kramst in der Tasche deiner abgewetzten Lederjacke, die wir damals zusammen in Paris auf einem Flohmarkt am Montmartre gekauft haben. Wie lange mag das her sein? Vielleicht zehn Jahre vielleicht auch dreizehn? Es kommt mir vor wie eines.

‚Komm‘, sagst du jetzt, und reißt mich damit aus meinen Gedanken, ‚es ist spät und es wird immer kälter. Lass uns aufbrechen. Das Feuer wird auch bald heruntergebrannt sein.‘ Obwohl ich weiß, dass du recht hast, widerstrebt es mir sofort, diesen Ort mit seiner magischen Stimmung zu verlassen. Alles wird bestenfalls nur noch Erinnerung sein, wenn wir jetzt gehen. Das Meer werde ich so nie wieder sehen.

So gehe ich um dich herum und umfasse die kalten Griffe des Rollstuhls. Neben dir zu gehen fehlt mir sehr. Stattdessen laufe ich nun seit einem guten Jahr hinter dir, kann mich bloß mit deinem Hinterkopf unterhalten. Nicht wie früher in deine Augen sehen. Ich habe das Gefühl, dass seitdem etwas zwischen uns fehlt. Das Glänzen, das Blinzeln: wir haben uns so viel mit Blicken unterhalten. Und auch wenn ich dich in diesem Moment nicht sehen kann, weiß ich, dass deine Augen sich für einen Sekundenbruchteil verengt haben. Denn du hasst es. Es widerstrebt dir, dich schieben zu lassen und du versuchst es so oft wie möglich zu vermeiden. Doch hier auf den nassen Steinen brauchst du Hilfe. Das weißt du und daher lässt du es zu.

Auf meiner Wange spüre ich eine feuchte Spur, die an der Luft in Sekunden eiskalt geworden ist. Am Kinn löst sich die Träne von meiner Haut und trifft glücklicherweise lautlos auf den Kragen meines Mantels. Du sollst es nicht bemerken und da du vor mir gefangen bist, kann ich meine Gefühle verbergen.

Über deinem rechten Ohr bist du bereits ergraut. Der Mond scheint so hell, dass das Grau deiner Haare regelrecht reflektiert. Ich hasse es. So wie du es hasst. So wollten wir es nie. Du bist nicht mehr du und ich bin nicht mehr ich. Wir sind gestorben.

Ich drehe deinen Rollstuhl sanft nach rechts, damit du das Meer sehen kannst. Ein letztes Mal. Du fragst nicht, wieso ich das tue und ich spüre, dass du es weißt.

Zum Abschied schaue ich in deine glänzenden Augen und kann ein Funkeln darin erkennen.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich stimme zu. Es wäre sicher dienlich das Ende
offener zu halten. Auch wenn man als Autor dann so
oft das Gefühl hat nicht alles gesagt zu haben oder
missverstanden zu werden.

Ansonsten ein sehr guter Text!
Macht Lust auf mehr.

L.G
Patrick
 

Wuselkopp

Mitglied
Danke für deine Meinung, Patrick.

Ich habe gestern die erste Version schon bearbeitet und das Ende offener gelassen.
Bezieht sich dein Kommentar auf die neue Version?

Viele Grüße
Wuselkopp
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Nein, der Fehler lag bei mir.
Ich hatte mir die ältere Version angeschaut.
Entschuldige. Ich bin bisweilen ein wenig dusselig ;)

L.G
Patrick
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Wuselkopp,

dir ist hier in der Tat eine lesenswerte Geschichte gelungen! Ich bin schon gespannt auf weiteres von dir. Die Entscheidung für ein etwas offeneres Ende war meines Erachtens die richtige.

Beste Grüße

Blumenberg
 

Wuselkopp

Mitglied
Vielen Dank für euer Feedback.

Ich muss zugeben, dass mich so positive Worte gerade sehr, sehr stolz machen. Damit hätte ich wirklich nicht gerechnet. :)
 

rogathe

Mitglied
Eine ziemlich brutale Art der "Sterbehilfe", den geliebten Menschen ins Meer zu stoßen und ertrinken zu lassen. Da gäbe es weitaus humanere Methoden.
Oder habe ich hier irgendwas falsch verstanden?

:confused: rogathe
 
A

aligaga

Gast
Das sieht @ali auch so. Der lührische Introitus will gar nicht so recht zur bevorstehenden, grausamen Tötung passen - einen Krüppel einsam im Eiswasser ersaufen zu lassen ist nicht gerade das, was man sich als Ende für die Geliebte wünscht, ne?

Ebensowenig passt die Gischt der am Felsen brechenden Brandung zu einem still sich spiegelnden Mond. Für die Gischt braucht's hohe Wellen. Beides gleichzeitig geht nicht - entweder das Meer ruht und spiegelt, oder es rumort, spiegelt dann aber nicht.

Heiter

aligaga
 

Ji Rina

Mitglied
Schön geschrieben, dieser Text, kein Zweifel. Aber ganz nachvollziehen kann ich ihn nicht.

Über deinem rechten Ohr bist du bereits ergraut. Der Mond scheint so hell, dass das Grau deiner Haare regelrecht reflektiert. Ich hasse es. So wie du es hasst. So wollten wir es nie. Du bist nicht mehr du und ich bin nicht mehr ich. Wir sind gestorben.
Es erscheint mir unklar, was das bedeuten soll: Gestorben, weil einer bereits ergraut, jetzt im Rollstuhl sitzt?

Ich drehe deinen Rollstuhl sanft nach rechts, damit du das Meer sehen kannst. Ein letztes Mal. Du fragst nicht, wieso ich das tue und ich spüre, dass du es weißt.
Woher soll dieser Mensch wissen/erahnen, dass er gleich samt Rollstuhl ins Meer verabschiedet wird? Eben hat er noch darum gebeten aufzubrechen, weil es kalt ist.

Das Ende (man geht davon aus, dass der Mensch ins Meer gestossen wird) passt für mich nicht zum Rest der Geschichte. Die Erklärung: Ergrauen/Rollstuhl finde ich oberflächlich. Da müssten noch einige weitere Gedanken her, die die totale Verzweiflung "verständlich" machen.

Und diesen Satz würde ich ganz streichen:

Schnell beschlägt meine Brille durch meinen Atem, der nur noch aus den winzigen Öffnungen neben meiner Nase aus der schützenden Wolle herausdringt.
 

Wuselkopp

Mitglied
Tut mir leid, ich habe mir vor langer Zeit abgewöhnt, auf die Frage "hä?" eine Antwort zu geben..

Vielleicht mag jemand anderes zur Metaphorik ergänzen? Ansonsten würde ich das jetzt einfach so stehenlassen.
 
A

aligaga

Gast
Was sollte an diesem Schüttel- und Rührstückerl denn "metaphorisch" sein? Der Rollstuhl? Das graue Haar? Der Mond? Der Schal? Die Nasenlöcher oder die Brille? Die Krokodilsthräne? Oder das o-so-familiar "Nurduundichunddasrauschendesmeeres"?

Amüsiert

aligaga
 



 
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