KLIRR - Ein Kind, Kapitel 1, 2 und 3

kinAski

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KLAPPENTEXT UND EXPOSEE von KLIRR - Ein Kind
https://www.leselupe.de/lw/titel-KLIRR-Ein-Kind-Klappentext-und-Exposee-136465.htm

1

Zu Vinzent Sabotniks ersten Erinnerungen gehört die kleine Holzbaracke, in der er mit den Seinigen wohnte. Sie war ein Überbleibsel des gegen Ende des Zweiten Weltkrieges errichteten Porsche Konstruktions- und Versuchsgeländes in Karnerau, etwas außerhalb des mittelalterlichen Städtchens Gmünd in Kärnten.
Ferdinand Porsche verlegte seine Wirkungsstätte dorthin, um dem Bombenhagel auf Deutschland zu entgehen. Sein Sohn verlieh dort, in den Baracken der Karnerau, zum ersten Mal einem von ihm konstruierten Wagen den Familiennamen. Die Porsches gingen wieder nach Deutschland, um dem Bombardement von Unfreundlichkeiten zu entfliehen, die gewisse Österreicher nach dem Krieg auf sie niederregnen ließen und Gmünd versank wieder in seinen Dornröschenschlaf.
Vinz' dreijähriger Geist, als er sich in diesen Baracken seiner selbst bewusst wurde, es war jetzt 1970 und viele der Baracken waren bereits abgerissen worden, war leer und gut. Wie Milliarden Geister vor ihm war er auf einer kleinen blauen Kugel in den unendlichen Weiten des Kosmos gelandet, oder gestrandet, wie mans nimmt, jedenfalls ohne sein Zutun.
Da waren Schemen, Menschen, die unerfindlichen Tätigkeiten nachgingen. Mutter, Großmutter und ein erwachsener Onkel, Heinzi, der Röhrenradios reparierte und auf einem Bein hinkte. Die Mutter war kaum da, Großmutter war nett zu Vinz und der Onkel ließ ihn nicht an seine Radios. Die gänzliche Abwesenheit einer Figur namens Vater fiel Vinz weder auf, noch ging sie ihm ab.
Ein kleines Etwas lag eines Tages im Gitterbett. Es schien völlig in Windeln eingewickelt zu sein, schrie halbe Tage und wenn die Mutter zuhause war, tat sie lieb mit ihm, hob es hoch und verschwand damit in anderen Räumen. Es handelte sich dabei um Vinz' Halbbruder Eddy. Auch dessen Vater blieb unsichtbar ...
Vinz erste eigenmächtige Ausflüge führten ihn zu einem dreckigen Rinnsal, das im Straßengraben zwischen der Baracke und der Maltatalstraße träge dahinfloss. Rostige Dosen lagen da und seltsame, filigrane Tierchen liefen auf dem Wasser – wie Jesus. Man holte ihn mehrmals von diesem Wunder weg, in der nicht unberechtigten Angst, er könnte im Rinnsal ersaufen. Wäre er ersoffen, er hätte, nach einem großen Dichter, »nicht viel verloren«. Nun, er ersoff nicht und hatte die zweifelhafte Ehre in der ihn umgebenden menschlichen Komödie ein Weilchen mitzuwirken. Vorerst in der Kategorie Zwerge und Gnome.
Ein dunkler Holzzaun lief um die Porsche-Baracke und den zugehörigen, kleinen Garten. Er markierte das Ende von Vinz' damaliger Freiheit. Oft lief er an der Innenseite des Zaunes entlang wie ein Tier in seinem Käfig. Das Gatter war immer verschlossen. Nebenan saß halbe Tage ein alter Mann vor seinem Haus. Es war der Großvater einer Bekannten der Mutter, Lisi. Vinz nannte ihn »Lisi-Vater«.
»Lisi-Vater, Lisi-Vater, lass mich hinaus, lass mich hinaus!«, rief er, denn der Garten und das Rinnsal waren längst erforscht. Vinz wollte mehr sehen. Dort draußen wartete die große, weite Welt! Der alte Mann kam an den Zaun und strich ihm über den Kopf.
»Du bist ein quirliger, kleiner Mensch«, sagte er, »doch ich kann dich nicht hinauslassen. Der Schwarze Mann holt dich sonst.«
»Der Schwarze Mann?«
Der Alte nickte mit dem Kopf: »Ja, der Schwarze Mann.«
Einmal, als Großmutter und Lisi-Vater vor der Baracke Kaffee tranken, ballte der Alte heimlich die knotige Faust und streckte sie ihm hin.
»Vinzi, ich habe da etwas.«
Er wollte den Knirps neugierig machen, doch der hatte seine Finte durchschaut. Vinz reckte ihm das Fäustchen hin und sagte: »Ich auch.«
Großmutter und Lisi-Vater lachten.
»Ein witziger Bub, ein witziger Bub«, meinte der Alte und schüttelte den Kopf.
Es gab Lücken zu füllen – damals schon. Wenn die Mutter arbeiten, Großmutter im Garten beschäftigt war und Onkel Heinzi mit Schraubenzieher und Lötkolben über seinen zerlegten Radios brütete, musste sich Vinz mit sich selber unterhalten.
Früh schon reizte ihn das Verbotene. Der Straßengraben war tabu. Doch der war eh nicht mehr interessant. In die Hose machen war neuerdings tabu geworden, denn Vinz zählte bereits drei Lenze. Also frisch, in die Hose gemacht. Vinz versteckte sich hinter der Baracke, zwischen Brennesselstauden unter dem alten Holunderstrauch und machte in seine kurzen Hosen. Das Drücken war ein Hochgenuss! Und wie prächtig das stank! Ein warmes Rinnsal von Lulu rieselte ihm das Kinderbein hinab. Großmutter war sein plötzliches Stillsein verdächtig vorgekommen. Sie kam, sah und roch!
»Schon wieder! So ein großer Bub!«, rief sie. »Wirst du es wohl lassen? A-a und Pipi machst du ins Topferl! Wenn du es noch einmal in die Hose machst, kommt der FLIEGER.«
Vinz erstarrte. Vor einigen Tagen war er zuinnerst erschrocken, als ein Düsenjet, es muss eine Saab-Tonne gewesen sein, im Tiefflug über das Tal gedonnert war. Vinz hatte geglaubt, seine kleine Welt stürze ein. Ihm mit dem Flieger zu drohen war also pädagogisch nicht ungeschickt. Ängstlich sah er in den Sommerhimmel. »Der Pippieger, wo?« Großmutter lachte über die Wortprägung, setzte aber sofort wieder eine amtliche Miene auf und meinte: »Das heißt Flieger. Und das nächste Mal, wenn du in die Hosen machst, kommt er.«
Bald darauf hatte er die Prophezeiung vergessen und stand drückend beim Holunderbusch. Wie prächtig es wieder stank! In der nächsten Sekunde fiel ihm der Flieger ein. Vinz zuckte zusammen und lief schreiend in die Baracke: »Oma, Oma, es kommt der Pippieger, es kommt der Pippieger!«
»Wo? Ich höre nichts«, sagte die Großmutter, im Teigkneten innehaltend, »aber ich rieche was!« Es gab ein Donnerwetter, und er verzichtete für alle Zeiten auf den Genuss in die Hosen zu äpfeln.
In einer dieser großen Lücken, wo es nur ihn und die große herrliche Sommerwelt gab, erforschte er Großmutters Blumenbeete. Es war belegt mit lauter Tabus! Vinz durfte nicht in die Beete steigen, nicht hineinpinkeln, er durfte die Blumen nicht ausreißen und das Gemüse nicht essen, besonders, wenn es noch nicht reif war. Aber wie war es damit, wenn er einfach die Köpfe einiger Blume abriss?! Vinz riss einige ab und steckte sie sich in die Hosentasche. Großmutter erkannte in ihm rasch den Scharfrichter ihrer geköpften Lieblinge und er musste auch auf diesen Spaß verzichten.
Eines dunklen Regentages spielte er im Zimmer, in dem Eddy in seinem Gitterbett lag, Ball. Vinz knallte das Gummiding immerzu gegen die Wand und Eddy gab strampelnd und glucksend das Publikum ab. Eine Vase ging zu Bruch, Großmutter stand in der Tür und er deutete auf Eddy.
»Er wars.«
Eine Unterstellung, die bei Großmutter halb besorgtes, halb erstauntes Kopfschütteln hervorrief.
»Also, dieser Bub.«
Ein zweiter Onkel, August, kam per Wagen zu Besuch. Er preschte angeberisch in die offene Garteneinfahrt und machte Vinz' ganzen Stolz, ein knallrotes Tretauto, das er eben erst bekommen hatte, platt. Das Knirschen des Plastiks war entsetzlich, Vinz am Boden zerstört. Onkel Gustl tat betroffen, versprach ihm ein neues Tretauto und begab sich in die Baracke, um mit Onkel Heinzi ein Bier zu trinken. Danach stieg er wieder in sein Auto und fuhr weg. Vinz sah ihn erst vier Jahre später wieder – natürlich ohne Tretauto im Gepäck. Die Mutter schien ihren Bruder, Onkel Gustl, nicht leiden zu können. Sie schimpfte manchmal über ihn, und bezeichnete ihn als Sandler und Falschen Fünfziger. Vinz verstand diese Ausdrücke nicht, doch wenn er an sein Tretauto dachte, glaubte er ungefähr zu verstehen, was sie meinte.


2

Alles in allem entwickelte sich die Dinge für Vinz gut. Vor allem, da Eddy bereits krabbeln konnte, im Garten auf seinem Hosenboden sitzen und die Babysprache beherrschte. Vinz hatte seinen ersten Spielkameraden!
Um Vinz' dritten Geburtstag saß Eddy in seinem blauen Lodenjäckchen an einen Apfelbaum gelehnt im Garten. Vinz hüpfte vor ihm auf und ab und gab komische Laute von sich, um den Winzling zum Lachen zu bringen. Vinz mochte das kleine Wesen, das ihm zu Beginn ein wenig unheimlich und als Bedrohung vorgekommen war, mehr und mehr.
Manchmal war auch Mutters Freundin Lisi in Großmutters Garten. Sie hatte ihrerseits einen Kleinen und da ging es munter zu auf der abgezirkelten Garten-Fläche, die Vinz einmal als Gefängnis und dann wieder als Paradies empfand. Es wurden in diesem Sommer Badeausflüge an die nahe vorbeifließende Malta gemacht. Die Hitze, das schillernde Grün der Laubbäume, das Rauschen des Wassers, die hellen, abgeschliffenen Ufersteine: das alles beeindruckte Vinz wie ein großes Wesen, das in tausend Zungen zu ihm sprach. Menschen, Bäume, Steine und Wasser waren eins und kein Wölkchen trübte seinen Kinderhimmel. Eine lange, abenteuerliche Entdeckungsreise schien vor Vinz zu liegen.
Doch jeder Mensch ist ein Adam und wird aus dem Paradies seiner Gefühle vertrieben, heißt es, und Vinz musste eine solche Vertreibung in seinem vierten Lebensjahr erleiden. Es traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, es streckte ihn nieder und vernichtete ihn. Es machte aus einem allmächtigen, glücksbesoffenen Zwerg über Nacht einen hässlichen, wertlosen Gnom – so fühlte sich Vinz jedenfalls, denn er hatte keinen Verstand das zu verstehen, was ihm widerfuhr und seine Seele war zu neu, um zu verkraften, was ihr zugemutet wurde.
Eines regnerischen Herbsttages nämlich betrat die Mutter das Kinderzimmer, in dem er mit Eddy spielte. Vinz sah auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Das bleiche Gesicht unter Mutters schwarz gefärbtem Haarturm sah traurig und bedrückt aus. Allein durch diesen Anblick sank Vinz der Mut, da er ihre Stimmungen wie ein Schwamm aufsog. Sie setzte sich, nahm ihn auf den Schoß, und die mystische Figur der Mutter öffnete die Lippen und aus dem Mund kamen beunruhigende, unglaubliche und zuletzt entsetzliche Worte!
»Vinzi, du musst eine Weile woanders hin.«
»Ja, und du kommst mit«, war die Antwort.
»Nein. Ich muss in die Stadt ziehen. Geld verdienen.«
»Warum?«
»Die Menschen müssen arbeiten.«
»Ich bleibe bei dir.«
»Das geht nicht.«
»Dann bleib ich bei Oma.«
»Nein. Oma zieht mit Onkel Heinzi nach Tirol. Ich ziehe mit Eddy in die Stadt, du kommst zu Tante Sophia.«
»Tante Sophia? Wer ist das? Warum?«
»Schau. Ich muss arbeiten. Eddy nehme ich mit mir, weil er kleiner ist als du. Du bist ja schon ein großer Bub ... «
Der Blitz hatte eingeschlagen. Seine Leben, eben noch in vollster Blüte, war plötzlich ein vom Blitz gestreifter rauchender Baumstumpf. Er sollte getrennt werden. Von Oma, dem Garten, dem Bach, der Mutter und Eddy! Für immer? Sicher! Für immer!
Vor seinen Augen tanzten schwarze Sterne. Die Frau, auf deren Schoß er saß, schien sich verwandelt zu haben, sie schien eine andere zu sein, ein Verhängnis. Zuerst wehrte er sich! Immer wieder fragte er: »Warum ich, warum nicht Eddy?« Es war wie die verzweifelte und sinnlose Frage eines Delinquenten, der bereits mit verbundenen Augen an der Wand steht: »Warum erschießt ihr mich? Warum nicht einen anderen?«
»Eddy ist der Kleinere. Ihn kann ich nicht weggeben!«, antwortete der Mensch auf dessen Schoß er saß. Alle tröstlich gemeinten Worte halfen nichts, in Vinz dröhnte und schwang nur das: du musst weg. Schließlich ließ die Mutter ihn mit Eddy allein. Vinz saß am Boden und kam sich wie ein Verbrecher vor. Und war er nicht einer? Ein kleiner Gnom, der Blumen köpfte, Vasen zerbrach, an einem verbotenen Rinnsal spielte und dafür Eddy die Schuld in die Kinderschuhe schob? Ja, es gab keinen Zweifel: er war ein Schwerverbrecher von vier Jahren! Hemmungslos begann er zu schluchzen. Als sich sein Tränenschleier lichtete, starrte er in das rotbackige Gesicht von Eddy.
Er stand in seinem Gitterbett, hielt sich an den Stäben fest und glotzte ihn an. Vinz fixierte seine runden, leeren Augen. In ihnen spiegelte sich – nichts. Wer zum Teufel war der kleine Kerl eigentlich?


3

Der erste Tag bei Tante Sophia im nahen Puchreit (die als Schwester der Großmutter eigentlich Vinz' Großtante war) schien sich ruhig zu entwickeln. Vinz starrte lange dem Taxi nach, das ihn gebracht hatte und mit der Mutter wieder zurückfuhr. Er hatte vorerst keine Augen für das große Haus, das frei an einem steilen Wiesenhang von schönen Wäldern umgeben dastand. Es wurde Abend in dem malerischen Seitental und Tante Sophia erklärte ihm, ihre beiden beinahe erwachsenen Töchter, Ilse und Erika, seien mit ihrem Vater, Onkel Adolf, fort, er würde die Familie morgen kennen lernen.
Tante Sophia war rund wie ein Fußball und hatte ein fröhliches Mondgesicht, aus dem eine hohe aber nicht unangenehme Stimme drang. Sie lachte viel und gerne. Sie setzte Vinz an den Tisch und sagte gutmütig: »Iss nur, Vinz.« Vinz aber brachte kaum etwas hinunter und sie verstand, warum.
Sie begleitete ihn in sein Zimmer. Es war das Gästezimmer im 1. Stock: groß, mit schweren Vorhängen und einem mächtigen Doppelbett. Da fiel Vinz wieder seine Vertreibung ein, sein unwürdiges Verbrechertum und sein Unwert. Verzweiflung würgte ihn und die Tränen purzelten. Die Tante setzte sich zu ihm ans Bett und tat alles, um ihn zu trösten. Lange und ruhig redete sie mit ihrer hohe Stimme auf ihn ein – ohne ungeduldig zu werden. Es klang wie das helle Glucksen eines Bächleins. Dann wischten Müdigkeit und Erschöpfung seinen Kummer fort und er fiel in einen todesähnlichen Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde er zum Frühstück gerufen. Onkel Adolfs Gesicht kam kurz hinter der Morgenzeitung hervor. Es war wettergegerbt und voller Bartstoppeln. Bernsteinfarbene Augen musterten Vinz. Er grinste kurz und ein eiserner Eckzahn blitzte auf. Er roch nach Wald. Und da saßen die Zwillinge, die sich kein bisschen glichen. Sie waren etwa 15 Jahre alt. Der eine hatte ein rötliches Gesicht, war aschblond und blätterte heftig in einer Zeitung. Anstelle Vinz zu begrüßen, stieß sie eine Reihe von Lauten hervor, die er nicht verstand. Der andere war schwarzhaarig, hatte fröhliche Augen und einen breiten Mund mit vollen Lippen. Das waren Erika und Ilse. Diese holte ihn sofort auf ihren Schoß. Sie sagte ihm viele liebe Worte und kniff ihm in die Wange. Erika sprach nicht, gab aber stoßweise Laute von sich während sie in ihren Zeitschriften blätterte. Sie hatte einen ganzen Stapel davon. Manchmal starrte sie eine Seite minutenlang an. War sie wütend, blätterte sie heftiger und ihre Laute waren voller Unmut, ohne allerdings böse zu klingen.
»Sie hat das Reden nie gelernt«, sagte Ilse zu Vinz.
Nach dem Frühstück ging Ilse in die Schule und der Onkel in den Wald zur Arbeit. Draußen war es regnerisch. Tante Sophia machte sich am Holzherd zu schaffen und Vinz blieb mit Erika allein am Tisch. Er starrte auf den Stapel von Zeitschriften, den sie neben sich aufgebaut hatte und wollte sich eine nehmen, doch Erika wehrte unwillig ab.
»Spielt doch ein Runde Mensch ärgere dich nicht«, schlug die Tante vor. »Du kannst doch schon zählen?« Vinz nickte. Die Augen der Würfel und was sie bedeuteten, das war ihm vertraut.
»Erika spricht nicht, aber zählen kann sie«, bemerkte die Tante, als sie das Brettspiel auf den Tisch legte.
Das Spiel wurde ihm bald fad und als Erika bemerkte, dass Vinz nicht bei der Sache war und obendrein schwindelte, schimpfte sie laut in ihrer Sprache und ordnete die Figuren so, wie sie richtig zu stehen hatten.
Sehnsüchtig blickte Vinz durch das große Küchenfenster. Der Regen färbte die Steinplatten der Terrasse dunkel, das grün gestrichene Eisengeländer tropfte. Die steile Wiese im Hintergrund verschwand in Dunst und Nebel.
»Darf ich hinaus?«
»Wenn dir der Regen nichts ausmacht. Bleib aber in der Nähe des Hauses. Und steig nicht über den Zaun und geh mir nicht in die Wiese. Du kannst in den Stall, die Hasen füttern, wenn du willst. Aber lass mir die Sau in Ruhe. Die beißt!«
Vinz fuhr in die Klamotten und ging auf die Terrasse. Die tiefhängenden Regenwolken ließen ihn nur die nächste Umgebung sehen: unterhalb der Terrasse den Gemüsegarten, ein Stück der Zufahrtsstraße, rechts einen Wiesenstreifen und links das Haus selber, aus dessen Regenröhren es plätscherte. Er fühlte sich wie in einer Glocke aus Dunst. Aber wo war der Stall? Er ging nach rückwärts an einem steinernen Brunnentrog vorbei und fand ihn. Es war ein kleiner, ans Haus gebauter Privatstall. Einige Hennen protestierten, als er ihn betrat und ihm der Stallgeruch nicht unangenehm in die Nase stieg. Die Hasen schlugen in ihren Verschlägen halbe Saltos und hinter ihrem Gatter sah ihn die Sau feindselig an. Sie war riesig. Vinz ging zu den Hasen und steckte kleine Gräser durch den Maschendraht. Die Hasen schnupperten daran – und rupften sie heftig aus seiner Hand. Etwas später erschien die Tante.
»Das sind Flecki und Orli«, meinte sie und machte sich daran, die Sau zu füttern.
»Flecki, ist das der mit den ... «, begann Vinz.
»Flecken, ja«, lachte die Tante.
»Hat die Sau auch einen Namen?«
»Nein.«
Am Nachmittag wurde der Regen dichter und er spielte mit Erika am Küchentisch. Abends kamen Adolf und Ilse, die ihn auf den Schoß nahm und überhaupt tat, als sei Vinz ihr Kleiner. Vinz gefiel das. Er saß gerne auf ihrem Schoß. Etwas Sanftes strömte von ihr aus, so wie er es nur von der Großmutter kannte. Diesen Abend schlief er ohne Flennen ein.
 
A

aligaga

Gast
Lieber @kinAski,

der böhse @ali hatte schon gehofft, es käme bei dem von dir angekündigten, autobiografischen Mehrteiler zu einem heit'ren Feuerwerk wie in "NAH UND FRISCH", sieht seine zum Klappentext geäußerten Bedenken aber nun leider doch weitestgehend bestätigt.

Wir bekommen eine zähe, von Erklärungen und Klischees durchsetzte Memory-Masse vorgelegt, in der man schon nach den ersten paar Sätzen lustlos herumstochert, weil man nicht weiß, wonach man denn suchen sollte. Offenbar wird uns, wie befürchtet, nichts begegnen, was wir nicht selbst schon mal gehört, gesehen, geschmeckt, gerochen und gedacht haben, und es steht auch nicht zu erwarten, dass wir's in einem neuen Licht gezeigt bekommen.

Das Blöde ist, dass eine Baracke auch dann eine Baracke bleibt, wenn vorher ein später berühmt gewordener Bastler darin herumgeschraubt hat.

Daher nochmal der TTip: Überleg dir, bevor du dir soviel Arbeit auf einmal machst, ob das Konzept "Ein Kind wird älter" wirklich so tragfähig ist, dass es Leser findet. @Ali meint nein - es sei denn, es wäre ein besonderes Kind, es wüchse unter besonderen Umständen auf oder das Ambiente wäre ein ganz Besonderes. Aus banalen Umständen qua Reflektion und Sprache etwas Besonderes zu formen, das sich der Leser noch ins Regal stellte, klappt u. U. in "Kurzprosa" oder in einer Kurzgeschichte, in einem ganzen Roman aber nur schwerlich. Die "schlampige Eleganz", von der andernorts schon die Rede war, nützt sich leider allzuschnell ab und verfällt erst ins Bemühte und dann in den Krampf. Jesus mit Kerfen gleichzusetzen ist z. B. so einer.

Wie schon vorab gesagt: das will kein Vorab-Verriss sein, sondern ein wohlmeinender Hinweis, der dich nicht kümmern muss.

Heiter

aligaga
 

ahorn

Mitglied
HERR GAGA

Überlege du dir mal lieber in welche Rubrik der Text passt, anstatt neuen Mitgliedern ungefragte Kommentare zu schicken. Als altes Mitglied hast du Verantwortung.
 

ahorn

Mitglied
Hallo kinAski,
ich schwanke zwischen Jugendbuch (Leser ab 16) [Kindergeschichten]
und Erzählungen die Rubrik, die für alle Romane gedacht ist, die nirgends richtig hineinpassen.

Gruß Ahorn
 
A

aligaga

Gast
HERR GAGA

Überlege du dir mal lieber in welche Rubrik der Text passt, anstatt neuen Mitgliedern ungefragte Kommentare zu schicken. Als altes Mitglied hast du Verantwortung.
TTip, @ahörnchen: Lesen, nachdenken und dann erst das Maul aufreißen und and're beleeren wollen. Kommentare gibt's in der LeLeu, wenn überhaupt, nur ungefragt. Schmarren wie den deinen kommentiert @ali nicht. Dafür ist ihm die Zeit zu schad.

@kinAski hat entweder nicht begriffen, wo ein Klappentext hingehört (nämlich in eine entsprechende Rubrik), oder er weiß noch nicht, in welche. Wer lesen kann, entnimmt @alis subsatanzieller Kritik die Empfehlung, den Text einem Genre zuzuschreiben, das Leser erhoffen lässt. In der jetzigen Form ist das nicht der Fall; warum, hat @ali erklärt.

Offensichtlich gehört Lesen nicht zu deinen Stärken, @ahörnchen. Da hülfe nur üben, viel üben. Vielleicht klappt's dann ja auch mal mit dem Schreiben?

Amüsiert

aligaga
 

kinAski

Mitglied
@aligaga, Ahorn: Da es die Rubrik "Roman" nicht gibt, KLIRR auch keine Erzählung ist (und kein sogenanntes Jugendbuch), habe ich den Klappentext vorerst in "Lange Texte" belassen, da das ein neutraler Terminus ist. So viel zum Veröffentlichungsmodus. Wenn jmd. eine bessere Idee hat, wohin mit einem Klappentext Marke "autobiografischer Roman", gern.

Zur Text-Kritik von aligaga: Ich hoffe doch, dass sich die "Memory-Masse" mit den Kapiteln gestaltet und sich ein Leseflow einstellt ... Das "Besondere" im autobiogr. Roman liegt IMO nicht im Neuen, Außerordentlichen (dafür gibt es die Spinne, Hulk und Superman), sondern im Ähnlichen, das jeder Leser entdeckt, der damals Kind war ... der Stil des autob. Romans kann deshalb auch kein reißerischer oder experimenteller sein, sondern wäre ein schlichter, allenfalls humoriger und sarkastischer ... mit einfachen Mitteln viel zu erreichen, das wäre mein (stilistisches) Ziel ... wenn man dennoch beim Lesen einschläft ... nun, das kann auch außertextliche Gründe haben (jemand mag das Sujet nicht); und was solls: Unlängst bin ich beim Lesen von Goethes "Wilhelm Meister" eingeschlafen ... :)
Kommen keine Reaktionen zu KLIRR mehr, poste ich auch keine Kapitel mehr, so viel An- und Verstand hab ich ...

skål

kinAski
 
A

aligaga

Gast
Na, dann nochmal: viel Erfolg! Den erkennst du am ehesten an der Anzahl deiner Leser. @Ali wünscht dir möglichst viele und zieht sich aus dem ihm inzwischen sinnlos erscheinenden Disput zurück.

Heiter

aligaga
 

ahorn

Mitglied
Hallo kinAski!


Eine Erzählung ist im gewissen Sinne ein Sammelbegriff für alle längeren Texte, welche sich nicht eindeutig einer Literaturgattung (z.B. Kindergeschichten, Fantasy und Märchen, Horror, Krimis, Science Fiction) zuordnen lassen.
siehe Rubrik-Beschreibung

Tue es für deine Geschichte! Unbedarfte Leser finden sie sonst überhaupt nicht und dein Text fliegt ins Archiv. Irgendwann fällt es auf!

Gruß
Ahorn
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo KinAski,

Du solltest diesen Text schon deshalb einer Rubrik zuordnen, weil er unter den Langen Texten nicht bewertet werden kann - und Du möchtest doch wissen, wie er bei den Lesern ankommt. Manche geben eben eher eine Wertung als einen Kommentar ab.

Ich würde mich freuen, wenn Du weitermachst. Mich rührt die Geschichte des kleinen Vinz, und ich würde gern wissen, wie es mit ihm weitergeht. Also nicht verrückt machen lassen!

Gruß Ciconia
 

kinAski

Mitglied
Thx, Cicocina und Willibald: Mache also weiter ...

@Cicocina: Da KLIRR wirklich in so gar keine Rubrik passt, muss ich Exposee und Klappentext in "Lange Texte" belassen und in Kauf nehmen, nicht bewertet zu werden ... Kritik und Bewertung in Wortform ist mir eh lieber ...

Grüße
kinAski
 

FrankK

Mitglied
Hallo kinAski
Wie könnte Textarbeit aussehen? Was hättest du zu erwarten – oder zu befürchten?
Mir geht es nicht ausschließlich um die Einordnung eines Textes in eine bestimmte Schublade. Das versuchst du selbst. Ein „Roman“ soll das sein / werden.
Aber was ist ein Roman?
Grundsätzlich ist ein Roman eine [blue]ausführliche Erzählung[/blue]. Auf Ebene der Epik ist der Roman aktuell die verbreitetste und umfangreichste Erzählform.

Autobiografie
Die Beschreibung der eigenen Lebensgeschichte oder von Abschnitten derselben aus der Retrospektive (im Gegensatz etwa zum Tagebuch). Das Besondere dieser literarischen Form besteht in der Identität zwischen Autor und Erzähler und Protagonisten.
Roman
Die Langform der schriftlichen Erzählung. Das Wort Roman ist ein Lehnwort aus dem Französischen und bedeutet „Erzählung in Versen oder Prosa“. Es löste im 17. Jahrhundert das Wort Historie ab, das bis dahin die unter diese Gattung fallenden Werke bezeichnet hatte.

In einem Lehrbuch fand ich folgende Definition:
Allgemein unterscheidet man Erzähltexte nach ihrem Umfang:
  • Zu den [blue]Großformen[/blue] rechnet man neben dem heute eher seltenen Versepos vor allem den Roman.
  • [blue]Formen mittleren Umfangs[/blue] werden auch „Kurzprosa“ genannt. Hierzu zählen beispielsweise die Novelle und die Erzählung.
  • Unter Kleinformen subsumiert man kürzere und kurze Erzähltexte wie die Kurzgeschichte, die Fabel, die Parabel, die Legende und das Märchen.

  • (Silke Lahn, Jan Christoph Meister; Einführung in die Erzähltextanalyse; 3. Auflage 2016)
    Tja, spätestens hier komme ich ins grübeln. Die Legende als Kleinform? Arthus? Siegfried? ;)


    Dein Roman
    Einstieg:
    Zu Vinzent Sabotniks ersten Erinnerungen [blue]gehört[/blue] die kleine Holzbaracke, in der er mit den Seinigen wohnte.
    Zeitfehler.
    Ja, kann man drüber diskutieren. Ich empfinde es so.

    Sie war ein Überbleibsel des gegen Ende des Zweiten Weltkrieges errichteten Porsche Konstruktions- und Versuchsgeländes in Karnerau, etwas außerhalb des mittelalterlichen Städtchens Gmünd in Kärnten.
    Wow, jetzt schon etwas geschichtlicher (historischer) Hintergrund.

    Ferdinand Porsche verlegte seine Wirkungsstätte dorthin, um dem Bombenhagel auf Deutschland zu entgehen. Sein Sohn verlieh dort, in den Baracken der Karnerau, zum ersten Mal einem von ihm konstruierten Wagen den Familiennamen. Die Porsches gingen wieder nach Deutschland, um dem Bombardement von Unfreundlichkeiten zu entfliehen, die gewisse Österreicher nach dem Krieg auf sie niederregnen ließen und Gmünd versank wieder in seinen Dornröschenschlaf.
    Vertiefter geschichtlicher (historischer) Hintergrund.
    Wie wichtig ist dies für die Geschichte von Vinz?

    Vinz' dreijähriger Geist, als er sich in diesen Baracken seiner selbst bewusst wurde, es war jetzt 1970 und viele der Baracken waren bereits abgerissen worden, war leer und gut.
    Dies ist ein Mammutsatz an Informationsgehalt:
    - Vinz ist drei Jahre alt
    - Wir schreiben das Jahr 1970
    - Viele Baracken sind abgerissen
    - Vinz‘ Geist war leer und gut.
    Der Geist eines dreijährigen Jungen war „leer“? So richtig, vollkommen und wahrhaftig „leer“? Keinerlei „Erfahrung“ mit laufen, sprechen, essen ...?

    Wie Milliarden Geister vor ihm war er auf einer kleinen blauen Kugel in den unendlichen Weiten des Kosmos gelandet, oder gestrandet, wie mans nimmt, jedenfalls ohne sein Zutun.
    Uff ... was für ein Bild.

    Zwischenfazit:
    Der auktoriale Erzähler (Gottmodus!) nimmt mich als Leser an die Hand, benennt eine Figur und zeigt mir dessen erste Erinnerung, eine Baracke in der er mit seiner Familie (den „Seinigen“) lebte. Dann bekomme ich den Hintergrund der Baracken erklärt und dass dort – man höre und staune – einmal die ersten Porsches gebaut wurden. Und es wird über die Familie Porsche gewertet, warum sie zu diesem Ort gekommen sind, und warum sie von dort wieder weggegangen sind (ja, es wird indirekt gewertet). Ein auktorialer Erzähler darf das, der darf sogar den Leser direkt ansprechen. Wieder zeigt mir der Erzähler den Jungen, erzählt mir sein Alter und wie unwissend (leerer Geist) er noch ist. Und plötzlich – plop – schauen wir (der Erzähler und ich) aus den unendlichen Tiefen des Universums auf einen winzigen, blauen Planeten und ich bekomme irgendetwas von Milliarden Geistern erzählt.
    Uff – spätestens hier würde ich aussteigen.

    Dies ist der Anfang deiner Geschichte, die einmal ein Roman werden soll. Ein Roman mit vielleicht mehr als 50.000 Worten und ich bin schon nach den ersten 160 Worten reichlich abgeschreckt:
    Eine Figur (ein Kind) wird vorgestellt – Sprung in die Vergangenheit der Familie Porsche – Rücksprung in die Gegenwart des Kindes mit etwas näherer Definition – räumlicher Sprung in die tiefen des Universum mit philosophischem Blick auf die Geisterwelt ... so ungefähr spielt sich mein Kopfkino ab.

    Ist vielleicht etwas zu ... durcheinander.
    Kind – Porsche – Kind – galaktische Weiten.


    Weiter:
    Da waren Schemen, Menschen, die unerfindlichen Tätigkeiten nachgingen. Mutter, Großmutter und ein erwachsener Onkel, Heinzi, der Röhrenradios reparierte und auf einem Bein hinkte.
    Vinz nimmt die „Seinigen“ also nur als Schemen wahr, kann aber zumindest Onkel Heinzi ziemlich genau beschreiben.

    Die Mutter war kaum da, Großmutter war nett zu Vinz und der Onkel ließ ihn nicht an seine Radios. Die gänzliche Abwesenheit einer Figur namens Vater fiel Vinz weder auf, noch ging sie ihm ab.
    Jetzt werden die „Schemen“ doch näher definiert.

    Ein kleines Etwas lag eines Tages im Gitterbett. Es schien völlig in Windeln eingewickelt zu sein, schrie halbe Tage und wenn die Mutter zuhause war, tat sie lieb mit ihm, hob es hoch und verschwand damit in anderen Räumen.
    Ein kurzer Moment der Verwirrung – ist hier von Vinz die Rede? Das Kopfkino stockt, stolpert.

    Es handelte sich dabei um Vinz' Halbbruder Eddy. Auch dessen Vater blieb unsichtbar ...
    Ahh, doch jemand anderes.
    Film des Kopfkinos wird zurechtgerückt.

    Vinz erste eigenmächtige Ausflüge führten ihn zu einem dreckigen Rinnsal, das im Straßengraben zwischen der Baracke und der Maltatalstraße träge dahinfloss.
    Übergangslos aus der Kinderstube hinaus in den Straßengraben.

    Rostige Dosen lagen da und seltsame, filigrane Tierchen liefen auf dem Wasser – wie Jesus.
    Es ist doch noch der Dreijährige? Der, mit dem „leeren Geist“? Woher weiß der etwas von Jesus und dem „über Wasser gehen“?

    Man holte ihn mehrmals von diesem Wunder weg, in der nicht unberechtigten Angst, er könnte im Rinnsal ersaufen. Wäre er ersoffen, er hätte, nach einem großen Dichter, »nicht viel verloren«.
    Hier wertet der Erzähler den Hauptdarsteller ziemlich ins bedeutungslose. Was soll ich als Leser davon halten? Ich „soll“ eine Geschichte über eine unbedeutende Figur lesen?

    Nun, er ersoff nicht und hatte die zweifelhafte Ehre in der ihn umgebenden menschlichen Komödie ein Weilchen mitzuwirken. Vorerst in der Kategorie Zwerge und Gnome.
    Hier tropft es vor Sarkasmus. Allerdings nicht der Sarkasmus der Figur, sondern des Erzählers.

    Ein dunkler Holzzaun lief um die Porsche-Baracke und den zugehörigen, kleinen Garten. Er markierte das Ende von Vinz' damaliger Freiheit. Oft lief er an der Innenseite des Zaunes entlang wie ein Tier in seinem Käfig. [blue]Das Gatter war immer verschlossen. Nebenan saß halbe Tage ein alter Mann vor seinem Haus.[/blue]
    Allwissende, aber unscharfe Erzählersicht.
    Die Innenseite des Zaunes ... wirkt auf mich, als wäre jede einzelne der Baracken vollständig von einem Zaun umgeben.
    Nebenan ... vom Gatter? Könnte durchaus noch diese Seite des Grundstücks sein.
    Oder auf dem Nachbargrundstück?
    Die Bilder sind etwas schief, undeutlich. Hier flackert mein Kopfkino.

    Es war der Großvater einer Bekannten der Mutter, Lisi. Vinz nannte ihn »Lisi-Vater«.
    Kompliziertes Familienverhältnis. Komplizierterer Bezug zu Vinz. Er nennt den Opa „Lisi-Vater“. Niemand scheint ihn zu korrigieren.

    »Lisi-Vater, Lisi-Vater, lass mich hinaus, lass mich hinaus!«, rief er, [blue]denn der Garten und das Rinnsal waren längst erforscht[/blue]. Vinz wollte mehr sehen. Dort draußen wartete die große, weite Welt! Der alte Mann kam an den Zaun und strich ihm über den Kopf.
    Wo ist denn jetzt die Maltatalstraße geblieben? Wie muss ich mir das Gelände jetzt vorstellen? Der Zaun zwischen Straße und Rinnsal?
    Oh mein Kopfkino ...

    »Du bist ein quirliger, kleiner Mensch«, sagte er, »doch ich kann dich nicht hinauslassen. Der Schwarze Mann holt dich sonst.«
    »Der Schwarze Mann?«
    Der Alte nickte mit dem Kopf: »Ja, der Schwarze Mann.«
    Wieso jetzt – übergangslos – diese Schauermär vom „Schwarzen Mann“? Da hätte ich mir ein wenig mehr Information vom Erzähler gewünscht.

    Einmal, als Großmutter und Lisi-Vater vor der Baracke Kaffee tranken, ballte der Alte heimlich die knotige Faust und streckte sie ihm hin.
    »Vinzi, ich habe da etwas.«
    Er wollte den Knirps neugierig machen, doch der hatte seine Finte durchschaut. Vinz reckte ihm das Fäustchen hin und sagte: »Ich auch.«
    Großmutter und Lisi-Vater lachten.
    »Ein witziger Bub, ein witziger Bub«, meinte der Alte und schüttelte den Kopf.
    Peng – übergangslos wieder eine neue Szene.
    Passt nicht zusammen mit der „leeren Seele“. Oder ist der Bub nun doch schon etwas älter geworden und nicht mehr so ganz leer beseelt?

    Es gab Lücken zu füllen – damals schon. Wenn die Mutter arbeiten, Großmutter im Garten beschäftigt war und Onkel Heinzi mit Schraubenzieher und Lötkolben über seinen zerlegten Radios brütete, musste sich Vinz mit sich selber unterhalten.
    Das Kopfkino entwickelt sich langsam zu einer Stummfilm-Diashow. Mit Untertiteln.
    Ich verstehe gerade überhaupt nicht, wie du auf „dialoglastig“ kommst.

    Früh schon reizte ihn das Verbotene. Der Straßengraben war tabu. Doch der war eh nicht mehr interessant. In die Hose machen war neuerdings tabu geworden, denn Vinz [blue]zählte bereits drei Lenze[/blue]. Also frisch, in die Hose gemacht. Vinz versteckte sich hinter der Baracke, zwischen Brennesselstauden unter dem alten Holunderstrauch und machte in seine kurzen Hosen. Das Drücken war ein Hochgenuss! Und wie prächtig das stank! Ein warmes Rinnsal von Lulu rieselte ihm das Kinderbein hinab. Großmutter war sein plötzliches Stillsein verdächtig vorgekommen. Sie kam, sah und roch!
    Also mit drei Jahren war der Graben noch hochinteressant – von wegen Jesus und Wunder und so.
    Übrigens schon wieder eine neue Szene.

    »Schon wieder! So ein großer Bub!«, rief sie. »Wirst du es wohl lassen? A-a und Pipi machst du ins Topferl! Wenn du es noch einmal in die Hose machst, kommt der FLIEGER.«
    Vinz erstarrte. Vor einigen Tagen war er zuinnerst erschrocken, als ein Düsenjet, es muss eine Saab-Tonne gewesen sein, im Tiefflug über das Tal gedonnert war. Vinz hatte geglaubt, seine kleine Welt stürze ein. Ihm mit dem Flieger zu drohen war also pädagogisch nicht ungeschickt. Ängstlich sah er in den Sommerhimmel. »Der Pippieger, wo?« Großmutter lachte über die Wortprägung, setzte aber sofort wieder eine amtliche Miene auf und meinte: »Das heißt Flieger. Und das nächste Mal, wenn du in die Hosen machst, kommt er.«
    Der Flieger wird zum Äquivalent des „Schwarzen Mannes“. Seufz. Hier könnte das Kopfkino wieder ein wenig anlaufen, es bleibt aber bei Dias und Untertitel.

    Bald darauf hatte er die Prophezeiung vergessen und stand drückend beim Holunderbusch. Wie prächtig es wieder stank! In der nächsten Sekunde fiel ihm der Flieger ein. Vinz zuckte zusammen und lief schreiend in die Baracke: »Oma, Oma, es kommt der Pippieger, es kommt der Pippieger!«
    »Wo? Ich höre nichts«, sagte die Großmutter, im Teigkneten innehaltend, »aber ich rieche was!« Es gab ein Donnerwetter, und er verzichtete für alle Zeiten auf den Genuss in die Hosen zu äpfeln.
    Wieder ein Sprung, wieder eine neue Szene mit ähnlichem Inhalt.

    In einer dieser [blue]großen[/blue] Lücken, wo es nur ihn und die [blue]große[/blue] herrliche Sommerwelt gab, erforschte er [blue]Groß[/blue]mutters Blumenbeete. Es war belegt mit lauter Tabus! Vinz durfte nicht in die Beete steigen, nicht hineinpinkeln, er durfte die Blumen nicht ausreißen und das Gemüse nicht essen, besonders, wenn es noch nicht reif war. Aber wie war es damit, wenn er einfach die Köpfe einiger Blume abriss?! Vinz riss einige ab und steckte sie sich in die Hosentasche. Großmutter erkannte in ihm rasch den Scharfrichter ihrer geköpften Lieblinge und er musste auch auf diesen Spaß verzichten.
    Mein Kopfkino zeigt ein einzelnes Dia:
    „Wir bitten diese technische Störung zu entschuldigen.“
    Situation wird skizziert – Ereignis wird skizziert – Emotion bleibt außen vor – Lösung ereignet sich irgendwie.

    Eines dunklen Regentages spielte er im Zimmer, in dem Eddy in seinem Gitterbett lag, Ball. Vinz knallte das Gummiding immerzu gegen die Wand und Eddy gab strampelnd und glucksend das Publikum ab. Eine Vase ging zu Bruch, Großmutter stand in der Tür und er deutete auf Eddy.
    »Er wars.«
    Eine Unterstellung, die bei Großmutter halb besorgtes, halb erstauntes Kopfschütteln hervorrief.
    »Also, dieser Bub.«
    Bei meinem Kopfkino fallen die Vorhänge.

    Ein zweiter Onkel, August, kam per Wagen zu Besuch. Er preschte angeberisch in die offene Garteneinfahrt und machte Vinz' ganzen Stolz, ein knallrotes Tretauto, das er eben erst bekommen hatte, platt. Das Knirschen des Plastiks war entsetzlich, Vinz am Boden zerstört. Onkel Gustl tat betroffen, versprach ihm ein neues Tretauto und begab sich in die Baracke, um mit Onkel Heinzi ein Bier zu trinken. Danach stieg er wieder in sein Auto und fuhr weg. Vinz sah ihn erst vier Jahre später wieder – natürlich ohne Tretauto im Gepäck. Die Mutter schien ihren Bruder, Onkel Gustl, nicht leiden zu können. Sie schimpfte manchmal über ihn, und bezeichnete ihn als Sandler und Falschen Fünfziger. Vinz verstand diese Ausdrücke nicht, doch wenn er an sein Tretauto dachte, glaubte er ungefähr zu verstehen, was sie meinte.
    Mindestens diese Szene bietet gewaltiges Potenzial deutlich ausgefeilter dargestellt zu werden. Auch hier wird nur skizziert, angedeutet und in Kurzform berichtet.


    Fazit:
    Der Einstieg in die Geschichte wirkt unsortiert, etwas durcheinander.
    Du hetzt durch jede einzelne Szene, skizzierst sie nur, Gefühle werden – wenn überhaupt – benannt, der Leser (ich) bekommt keine Chance, sich in irgendeine der Figuren einzufühlen.
    Und dies war gerade mal dein 1. Kapitel.


    Möglichkeiten:
    - Den Erzähler von „unpersönlich Allwissend“ austauschen gegen „personenbezogen“, also die Szenen aus Sicht von Vinz zeichnen.
    - Versuchen, die einzelnen Szenen deutlicher darzustellen und wesentlich mehr Atmosphäre und Emotionen einbringen.
    - Ähnliche Szenen – ersatzlos streichen.
    - Alles, was im Verlauf der Story selbige nicht weiterbringt – ersatzlos raus.
    Sinngemäß gelten diese Empfehlungen für alle weiteren Teile.

    Auf mich wirkt dein Roman noch wie ein ausbaufähiges Grundgerüst. Du hast einen Entwurf, ein Konzept. Es könnte unterhaltsam werden ... da steckt aber noch reichlich Arbeit drin.


    Ich hoffe, dich jetzt nicht zu sehr demoralisiert zu haben ...


    Aufmunternde Grüße
    Frank
 

kinAski

Mitglied
@FrankK

Ein im Internet geposteter Text ist ein Gratis-Teppich auf dem jedermann, berufen oder nicht, mit seinen Kritikerbeinen nach Belieben herumtrampeln darf, ohne ein wirkliches Manko im Gewebe aufzuzeigen und zgl. mit einem Heer von eigenen Vorschlägen kommen kann, die, würde der so "beglückte" Autor sie umsetzen, einen völligen anderen Text, den des Internet-Kritikers nämlich, ergeben würden.

Das war mir bewusst.
Allerdings hätte ich nicht gedacht, wie schnell das Interesse an längeren Texten erlahmt, wenn der Internet-Kritiker die ersten paar Kapitel wie ein junger Hund die Kissen, mutwillig zerfetzt hat.
Mittlerweile liegen von KLIRR die Kissen 10, 11 und 12 niedlich da ... und keiner beachtet sie noch. Selbst der junge Hund nicht.

Oder für Bibelfeste:
Warf ich die Perlen 1,2 und 3 noch vor die Säue, scheinen die anderen unter die Sträucher geraten zu sein ...

Se la vì im 21. Jahrhundert ... :)

kinAski
 
A

aligaga

Gast
Allerdings hätte ich nicht gedacht, wie schnell das Interesse an längeren Texten erlahmt, wenn der Internet-Kritiker die ersten paar Kapitel wie ein junger Hund die Kissen, mutwillig zerfetzt hat.
Mittlerweile liegen von KLIRR die Kissen 10, 11 und 12 niedlich da ... und keiner beachtet sie noch. Selbst der junge Hund nicht.
Hihi - der ist gut!

Niemand hat deinen "Roman" in der Luft zerfetzt, sondern dich freundlich darauf hingeweisen, dass Genres der vorliegenden Art, der schlichte Verkauf gewöhnlicher, subjektiver Jugenderinnerungen, im Literaturhimmel kein Plätzchen haben wird.

Dass der tatsächliche Verriss eines Stückerls in diesem und in anderen Foren dieser Welt, aber auch in Analogien, keineswegs dessen Scheitern beim Publikum zur Folge haben muss, erschschlösse sich dir, wenn du ein bisschen in beidem herumblättertest. Die "Feuchtgebiete" kamen wie die 50 grau(sig)en Schatten ganz nach vorn; des böhsen @alis "Häuser am Fluss II" wurden von den üblichen Verdächtigen so schlecht wie nur möglich gemacht und in den Keller gewertet, noch bevor das erste Kapitel erschienen war. Und doch wurde es, trotz seiner prekären Handlung, zum Bestseller der LeLu.

Daran magst du erkennen, dass man nicht nur schreiben können muss, sondern auch zur richtgien Zeit am richtigen Ort sein und den Koffer richtig gepackt haben sollte. Nur dann geht die Post ab.

Diese Rubrik hier ist vollgestopft mit langweiligstem, zum Teil unlesbarem Schmarren, von dem nur die Autoren glauben, es machte Sinn, ihn hier an einer Leserschaft vorbei zu posten. Offenbar finden sie gleichwohl Vergnügen daran, sonst würden sie diesen Effort ja nicht treiben.

@Ali glaubt, ein Forum wie dieses sei keine Leiter auf dem Weg in den Literaturhimmel, sondern ein Hobby und diene der Entspannung. Mach's wie er - nimm die LeLu als das, was sie ist (ein Haifischbecken, ein Laufsteg der Eitelkeiten und gleichzeitig eine Zirkusmanege) und finde dein Vergnügen darin. @Ali hat es, während er dir diese gut gemeinte Zuschrift sendet.

Heiter, sehr heiter

aligaga
 

FrankK

Mitglied
Hallo kinAski
Wenn ich dich richtig verstehe, hältst du mich für einen verspielten Hund, der aus Spass an der Freude deine Kapitel zerfetzt wie Kopfkissen?
Kopfkissen? Echt jetzt?
Bezogen mit Samt und Seide? Blütenweiß? Überbleibsel aus Omas Erbe - inklusive Rüschen? :)

Mein stundenlanges Bemühen, dir Schwächen deines Textes aufzuzeigen hältst du für Spielerei?

Danke.​

Ich bin froh, dass ich zunächst deine Reaktion abwartete, bevor ich mich mit weiteren Kapiteln beschäftigte.


Ich hätte wesentlich schneller und salopper kritisieren können:
"Das interessanteste an deiner Geschichte ist der für die Story offensichtlich bedeutungslose Umstand, dass ein viertel Jahrhundert vor Vincents Geburt Ferdinand Porsche in ebendiesen Baracken die ersten Porsches konstruierte. Der Rest ist - mir fehlen die Worte."

Dies hätte dir definitiv nicht weiter geholfen. Ich habe mir die Arbeit gemacht, konsequent, anhand deines ersten Kapitels, aufzuzeigen, wo es meiner Ansicht nach klemmt und kneift.
Wenn du glaubst, ich würde mich auf deinem "feingesponnenen Storyteppich" nur herumsuhlen ... muss ich dich enttäuschen.

Du rennst förmlich durch die Geschichte, verknüpfst szenisch und übergangslos ein Anekdotenbidchen an das Andere.
Als Leser habe ich keine Chance, mich an irgendeiner Stelle mit einer der Figuren zu identifizieren, auch nicht mit Vincent. Das einzige was ich von ihm weiß ist der Umstand, dass er gern im Graben spielte und das Gefühl genoss, wenn er sich in die Buchse machte und er spürte, wie "es" an seinen Beinen herunterlief.
Storyteppich? Nöö, eher ein strohbedeckter Lehmboden.

Das ist weder spannend noch unterhaltsam.
Viel interessanter wäre es für mich als Leser, tiefer in die Gefühls-, Empfindungs- und Fantasiewelt des Kindes einzutauchen. Indem du (Beispielsweise) den allwissenden Erzählmodus aufgibst und zu einem personalen Modus wechselst.
Das willst du nicht - deine Entscheidung.

Ich verlange gar nicht, dass du meinen Empfehlungen folgst. Ich kann dir nur Hinweise geben. Meine "Empfehlungen" entspringen ausschließlich meiner persönlichen Meinung und erheben keinerlei Anspruch auf verbindliche Gültigkeit.

Aber vielleicht - nur vielleicht - solltest du dir einmal Gedanken über folgende Fragen machen:
- Was erwartest du von deinem Auftritt auf der Leselupe?
- Was erwartest du von konstruktiver Textarbeit bzw. wie sollte diese für dich aussehen?
- Hältst du selbst deinen Text für gut genug, dass du nicht mehr daran zu Arbeiten brauchst?

Allerdings hätte ich nicht gedacht, wie schnell das Interesse an längeren Texten erlahmt, wenn der Internet-Kritiker die ersten paar Kapitel wie ein junger Hund die Kissen, mutwillig zerfetzt hat.
Das Interesse an den weiterführenden Kapiteln erlahmt nicht wegen der Kritik am ersten Kapitel.

Schau doch mal in deinen Persönlichkeitsspiegel - wenn dir die ersten zwei oder drei Kapitel eines Buches (das du geschenkt bekommen hast) nicht gefallen, wieviel liest du noch davon?

Warf ich die Perlen 1,2 und 3 noch vor die Säue, scheinen die anderen unter die Sträucher geraten zu sein
Und ich habe versucht, dir verständlich zu machen, dass die "Textentwürfe" 1, 2 und 3 erst noch Perlen werden könnten.


Aufmunternde Grüße
Frank
 
A

aligaga

Gast
Köstlich, wie einer, der nix weiß und nix kann, doch immer wieder glaubt, andern mit Tante Guhgel und seinen Volksschülerweisheiten ankommen zu müssen.

Wer sich im Literaturhimmel ein bisschen auskennt, sieht auf den ersten Blick, dass Genres wie das hier angebotene ebenso wie die dabei verwendete Sprache nicht ins gelobte Land führen können.

Es macht also wenig Sinn, das Stückerl "verbessern" zu wollen wie einen Schulaufsatz, und noch weniger, den Erstkritiker zu schmähen, der voraussagte, was mit Texten wie diesem hier und andernorts geschehen wird: nix. Sie liegen wie Blei im Regal und setzen Staub an.

Ein kleines, hübsches Detail am Rande, @kinAskin: unser @Frank-Trollinger, glühendster aller @ali-Hasser, war an der Spitze jener, die seinerzeit versuchten, die "Häuser am Fluss II" einzureißen, noch bevor sie gebaut waren. Man mag's kaum glauben, wohin manche die Missgunst treibt, aber es ist alles noch nachvollziehbar: Auf den Klappentext der "Häuser am Fluss II" klicken und die folgenden Kommentare lesen. Da steht's immer noch dunkel auf hellgrün. Viel Vergnügen!

Jetzt ernsthaft, @kin: Glaub nicht den Möchtegernen, sondern dem böhsen @ali, wenn du wissen willst, wie man ein Publikum gewinnt. Mach aus dem Gewöhnlichen etwas Besonderes, und alles wird guht - wer's kann, tut es. Wer's nicht kann, babbelt bloß darüber.

Heiter, sehr heiter

aligaga
 



 
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