Alles in Fluss

5,00 Stern(e) 4 Bewertungen

John Wein

Mitglied
- Alles in Fluss -

Nacht auf Intensiv

Hartmut Fröhlich*, war auf der Kirmes gestürzt und hatte sich einen Wirbel gebrochen. Über zwei Meter lang, döste der 55-jähriger IT-Spezialist nun im Streckbett neben mir. Im allgemeinen Durcheinander hatte man zunächst nur die schwere Sturzverletzung bemerkt, dass dieser Sturz aber die Ursache eines Schlaganfalls war, hatte der Notarzt erst später im Rettungsfahrzeug festgestellt. Nun lag der Arme gefesselt hinter dem Vorhang neben mir und hustete sich die Selle aus dem Leib.

Nachtschwester Agnes hatte heute Nachtschicht. 35 Jahre schon arbeitete die Gute in der Krankenpflege und davon konnte man jedes einzelne in ihren Gesichtszügen ablesen. Um all die Herausforderungen auszuhalten, braucht es neben dem medizinischen Wissen, Menschenkenntnis, Einfühlsamkeit und eine gute Portion Robustheit im Umgang mit den Patienten. Schwester Agnes hatte alles, sie war heute unser Gutenachtengel.

„Sollten sie heute später noch etwas benötigen, dann drücken sie die Klingel, ich bin im Dienstzimmer. Gute Nacht Herr Fröhlich und gute Nacht Herr Wein, ich werde später noch den ein oder andere Kontrollgang machen!“

Sie löschte das Licht und mit dem Schließen der Tür ergraute das blaue Pferd an der Wand.

Ich fühlte mich traut umsorgt und wie ein Kind zu Bett gebracht. Um ein Haar hätte ich sie zu einem Gutenachtkuss überredet. Für eine hinreichend guten Schlaf aber waren die Umstände unerfreulich. Alle Überwachungs-Monitore arbeiteten unüberhörbar und gewissenhaft an ihren Kurven und Signalen, Herr Fröhlich hustete und schnarchte und die Blutdruckmanschette schnitt mir alle halbe Stunde in den Oberarm.

Zu allem Überfluss meldete sich gegen 2 Uhr die Blase. Wie ich mich unbemerkt würde entleeren können, hatte ich mir am Abend zurechtgelegt…

…und klingelte diesmal nicht!

„Was machen sie denn da!?“

„Sch….!“

Das mit Gänsefüßchen gestammelte Wort verstummte im Lichtkegel der Taschenlampe. Ich kam mir vor wie ein Klaustrophobiker im vollbesetzten Aufzug. Wieso um alles in der Welt, hatte die Nachtschwester bemerkt, dass ich heimlich aus dem Bett gekrochen war? Die Schläuche über der Schulter und die Pinkelflasche in der Hand, drehte ich mich um und blinzelte, in voller Blüte versteinert, ins blendende Licht. Das Gefühl nichts als Oberfläche zu sein, die Empfindung nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich bloßgestellt gestellt worden zu sein, erfasste mich schlagartig, presste mir die Luft aus den Lungen und das Blut aus dem Kopf. Mich stammelnd in etwas hinein zu phantasieren, wischte sie mit einem:

„Sagen sie das nächste Mal lieber Bescheid, Herr Wein!“

Das Fundament einer genuinen Persönlichkeit war krachend gescheitert.

„Tschuldigung“, zu mehr reichte es nicht.

Während im Bett nebenan Hartmut fröhlich eine Serenade nach der anderen bot, lötete ich weiter am halbstunden Takt der Blutdruckmessung und quälte mich duselnd über die Klippen einer schlaflosen Nacht.

Es war wohl gegen Fünf, als eine allgemeine Erschöpfung mir das Geschenk eines dürren Nickerchens bot.

*Namen geändert


-Alles in Fluss-
 
Hier tritt jetzt das Humoristische des vorigen Teils zurück und macht dem Ernst einer Nacht auf der Intensivstation Platz. Das ist sicher dem Thema angemessen, John. Für die Lektüre ist es von Vorteil, wenn sich die einzelnen Abschnitte stimmungsmäßig stark unterscheiden. Ich werde weiter gern mitlesen, zumal ein guter Schluss ja zu erwarten ist.

Gute Nacht
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Hier tritt jetzt das Humoristische des vorigen Teils zurück und macht dem Ernst einer Nacht auf der Intensivstation Platz. Das ist sicher dem Thema angemessen, John. Für die Lektüre ist es von Vorteil, wenn sich die einzelnen Abschnitte stimmungsmäßig stark unterscheiden. Ich werde weiter gern mitlesen, zumal ein guter Schluss ja zu erwarten ist.

Gute Nacht
Arno
Da hat Arno meine Gedanken auf den Punkt gebracht!

Liebe Grüße
Petra
 

John Wein

Mitglied
Für die Lektüre ist es von Vorteil, wenn sich die einzelnen Abschnitte stimmungsmäßig stark unterscheiden.
Ja, ihr Lieben,
Hier habt ihr nicht ganz Unrecht. Ich hatte mir das auch schon überlegt, aber ich wollte die Chronologie einhalten und da es sich in diesen Abschnitten nur um eine Zeitspanne von 24 Stunden handelt, war da nicht viel Spielraum für Rückblenden oder ähnliche Kniffe.
Danke euch fürs Lesen und Kommentieren.
LG John
 
Lieber John,

da habe ich mich wohl missverständlich ausgedrückt. Mit "Abschnitte" waren die einzelnen Folgen gemeint. Es sollte also eine lobende Feststellung des von dir schon Erreichten sein.

Schöne Abendgrüße
Arno
 

John Wein

Mitglied
Auf Intensiv

Der Niederrheiner

Wie jedermann weiß, ritt der weltberühmte Hodscha Nasreddin stets rückwärts auf seinem Esel. Auf die Frage, warum er das tue, antwortete er: „Mich interessiert, woher ich komme. Wohin ich gehe, ist schließlich die Sache Allahs“.

„Jutänn Morjeeeeeeeeeeeeeeeen!“

Muss das Leben schon wieder wehtun!

Klaus vom Niederrhein hatte Frühschicht. Schlag 6 Uhr, mein ich war noch tief unterwegs im Nirwana des schlechtesten Traums aller Träume, da flackerte mich das Neonlicht über meinem Bett, razzfazz, in den neuen Tag von St. Vincenz und in ein phantasmagorisches Gedankengewitter.

Der Pfleger, ein Gewächs vom unteren Niederrhein, war einer der Spezies, die viel reden und dabei nichts sagen. Untersetzt mit Bauchansatz, wucherte aus seinem knappen, weißen T-Shirt Ausschnitt rotes Fell, Haare die auf seinem Schopf bereits fehlten.

„Na Männer? Wie isset?"

Ich war etwas derangiert: „Wie soll es denn sein?“

Er: „frisch bisse ja nich!“

„Nach so einer Nacht ist man einfach noch nicht so drauf‘.“

„Ja, ja, Herr Wein, wat willse machen!“

„Und du? Wie „isset“ denn bei dir?“ Wollte ich wissen.

„Na ja, wie sollet denn schon sein? War auch nicht so prickelnd!“

Ich: „Wat „willse“ machen!“

Er war gestern Abend mit seinem Trupp der Freiwilligen Feuerwehr im Nordpark gewesen: Gladbach gegen FC Köln und das Endergebnis 1:1, war nicht nach seinem Geschmack. Der Schiedsrichter hätte zu Unrecht den Kölnern einen Elfmeter zugesprochen.

Es folgte eine längere Abhandlung über Gerechtigkeit im Allgemeinen und Fußballregeln im Besonderen.

„Näää! Dä Schiri, dat wo keen Ällwer!“

Nach diesem Ausflug in die niederrheinische Poesie, nahm Klaus den kalten Waschlappen und wischte damit mehrere Achten in mein Gesicht. Kaum hatte ich mich hier erholt…

„Geh‘ ma‘ sitzen!“

…beugte er sich über mich, öffnete die Blutdruckmanschette und zog mir das Hemd über den Kopf. Danach entfernte er die Elektroden und die Blutdruckmanschette und bündelt alle Leitungen oben über dem Haltegriff meines Bettes. Hell schimmerte die Haut unter dem rötlichen Flaum seines entblößten Wanstes, eine Nabelschau unmittelbar vor meinem drangsalierten Auge.

„Jetzt machen wir uns mal fain!“

Ich wähnte: Im Plural spricht man so mit kleinen Kindern und alten Leuten. Nun wischte er mir von den Achseln bis zu den einzelnen Fingern Arme, Brust und Rücken.

„Und Du? Fortuna? ja?“ wolle er wissen und verdrehte dabei seine Augen nach oben ins Schlierige

Ich: „Fortuna?“

„Nää? Wat denn sons, doch nich etwa Köln!“

„Gladbach!“

„Oweia, jut, dat is jut; hätt isch ihnen jezz nisch zujetraut, Herr Wein! Fertisch! Rasieren?“

„Nää!“

„musse nomma Toilette?“

Dabei schielte er schon hinüber zu meinem Bettnachbarn.

„Nää!“

„Tschö, Chäff, dann bis danach!“

…und hinter dem Vorhang: „Herr Fröhlich, wie isset mit uns?“


-Alles in Fluss -
 
Und ich habe alles gleich verstanden, Herr Wein, obwohl durchaus nicht vom Niederrhein und auch seit Jahrzehnten da nicht mehr gewesen. Es klingt mir wieder so wie früher bei Besuchen in den Ohren. Wenn ich mir das durchlese,

dat wo keen Ällwer!“
so finde ich den Unterschied zur Hochsprache, zumal zur geschriebenen, sehr groß. Doch wie es klingt, das erleichtert dann wieder das Verständnis. Meine Theorie; Es sind die stark betonten Vokale, die das bewirken. Wo andere Dialekte gern mal zum Nuscheln und Abschleifen verführen, liebt dieser das Prononcierte. (Ich glaube, die Sprachmelodie ist im Niederländischen ähnlich.) Man hat so meistens den Eindruck, dass einem da gerade Mitteilungen von allergrößer Bedeutung gemacht werden.

Schönen Sonntag
Arno
 

John Wein

Mitglied
Buchstabensalat und Wortakrobatik

"Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit.
Leicht beieinander wohnen die Gedanken.“
F. Schiller

Morgenstund‘ hat Gold im Mund, heißt ein bekanntes Sprichwort und welcher Zahnarzt würde hier nicht zustimmend nicken. Im St. Vinzenz hatte sie, nach Hygiene und Bettenmachen, auch ein üppiges Frühstück mit einem ordentlichen Kaffee anzubieten. Ich war frohgemut, denn von den 24 Stunden, in denen man von meinen inneren Werten Aufschluss über die Umstände des Apoplexes gewinnen wollte, waren Dreiviertel geschafft. Spätestens mit dem Mittagskaffee würde man die Strippen ziehen und mich auf die neurologische Station zurückverlegen.

Unterdes, an Leib gestärkt und Seele gefestigt, begann das kraftzehrend lange Warten auf die Arztvisite. An der gegenüberliegenden Wand schien, Franz Marcs „Blaues Pferd“ zu wiehern und je mehr ich mich damit abmühte die Augen zu fokussieren, geriet die Szenerie, ins Ungefähre: Farben vermischten sich und schlierten ins Verschwommene, ich verlor die Orientierung und dämmerte willenlos in ein kraftloses Dösen.

„Harrrtmut!“ Meine mentalen Märkte: Blutzuckergehalt, Sekretion und Synapsenfreiverkehr, waren im Handumdrehen auf hundert Prozent. Das zungengerollte R klang ähnlich einem Kommando des Kutschers zum Anhalten der Pferde: „Brrrrr!“. Ella Kurz, die für das St. Vinzenz zuständige Logopädin, kommandierte meinen Zimmernachbarn, unvermindert und klar in der Betonung, mit dem exakt gesprochenen R. ‚Zeit frisst Hirn,‘ hatte ich einmal im Zusammenhang mit einem Schlaganfall verinnerlicht. Es wäre wichtig sehr früh noch vorhandenes Wissen und Sprachvermögen zu eruieren und mit gezielten Übungen neu aufzubauen, zu korrigieren und wenn möglich wiederherzustellen.

„Wie heißen Sie?“

„Haddd, Haddd, Hadddemuddd Föhhhich“, er bekams nicht hin, die Zunge wollte einfach nicht gehorchen. Sein R Versuch misslang ein ums andere Mal.

„Da müssen wir wohl noch ein bisschen üben, Herrre Harrrtmut Frrrröhlich!“

Es folgte eine Stadt, Land, Fluss Quizz, bei dem Frau Kurz immer auch darauf bedacht war, die auszusprechenden Worte zu üben:

„Wie heißt die Hauptstadt von Brrrrasilien?“

„Io e Hameo!“ Hartmut Fröhlich war überfordert.

„Brrrasilia! Und was ist das größte Land der Erde?“

„Schschia.“

„Sicher? Sind sie sicher? Überlegen sie mal!“

Pause. Der arme Mann, vergeblich versuchte er seine verwirrten Erinnerungen zu entknoten. Die kraftlose Zunge verpatzte die Buchstaben, Wortbildung und Formulierung missglückten und die Worte entgleisten zu einem unverständlichen Genuschel.

Die Logopädin half: „Rrrrusssland“

„Uuuaahhh,“ klang Hartmuts Buchstabensalat schon arg verwelkt.

„Gut Herr Fröhlich“, erwiderte sie beschwichtigend in mildem Tonfall, „für heute sind wir fertig, morgen sehen wir, wie es mit uns weitergeht. Bis dahin alles Gute!“

„Schüsch!“


Mir zugewandt: „Hallo Herr Wein, na, wie geht es uns heute?“ Hier sprach wieder jemand in der dritten Person mit mir.

„Es geht uns gut, nehme ich an“.

„Das freut mich“, entgegnete Ella Kurz knapp und schob ihren Stuhl dicht an mein Bett heran. Gloria Vanderbilt, vermutete ich, während sie mit ihren Fragen begann:

„Nennen sie mir doch mal die Hauptstadt von Italien.“

„Neapel!“ war es so spontan, wie falsch aus mir herausgerutscht. In den Nachrichten hatte die Vesuv Wolke ihren Platz gehabt.

„Sicher? Überlegen sie mal!“

Ich wusste, sie bestand auf dem R.

Meine kesse Antwort: „Ich weiß, ich weiß: Mailand! .. oder ?“

Frau Kurz malte sich ein ahnungsvolles Lächeln ins Gesicht. „Herr Wein, sie sind ein Schlingel!“

Leider mangelte es mir in jenem Augenblick an Spontanität und Schneid, sonst hätte ich sie gefragt, wie sie das meine. So antwortete ich also brav auf ihre Fragen und fand mich dabei ganz passabel.

Die Arztvisite gegen 16 Uhr brachte noch keinen Aufschluss über meine kognitive Verfasstheit, dafür die Gewissheit meiner Zurückverlegung auf die neurologische Station.

„Das Ergebnis unserer Langzeitmessungen“, teilte mir die diensthabende Stationsärztin mit, „erfahren sie Morgen von Professor Egli auf der Neurologie!“


-Alles in Fluss-
 
Wie hat uns diese Fortsetzung denn gefallen? - Nun, unser sachliches Interesse wurde durch die Darstellung des Auftritts der Logopädin schon mal befriedigt. Dann hat das schonungslose Bild sprachlicher Insuffizienz des Mitpatienten unser Mitleid in hohem Maß erregt. Und schließlich schlossen wir uns nach der Antwort "Mailand" dem Urteil der Untersucherin amüsiert an.

Lieber John, es war wieder sowohl informativ als auch unterhaltsam.

Arno Abendschön
 

John Wein

Mitglied
Zurück auf der Neurologie

Auf meiner Lebenswage liegt das schwere Gewicht auf der Vergangenheit, die Zukunft ist leicht. Ich bin in einem Alter in dem man mehr rückblickend als vorausschauend das Leben betrachtet. Vor mir liegen hoffentlich noch ein paar Jahre Aussicht auf Zukunft.

****

Am Abend segelte ich im Krankenbett unter dem Ruder Klawdijas, pausbäckige Schwesternschülerin, über Flure und Korridore von der Intensivstation zurück auf die neurologische Station.

„Da bist du ja!“
Mareijke hatte mich erwartet.

„Liebster, du musst geduldig sein,“ beruhigte sie mich, „man wird sicher bald ein Ergebnis haben, hier bist du in besten Händen.“

Sie kramte in der Sporttasche nach dem Schlafanzug und reichte ihn mir.

„Jessy lässt grüßen, hier, zieh an!“

Mit dem Schlafanzug hatte meine Privatheit zurück, ich war wieder John Wein und nicht irgendein anonymer Apoplex im klaffenden Klinikhemdchen.

„Liebster, es wird schon wieder, ich habe mit dem Arzt gesprochen, am Samstag bist du in der Radiologie für ein MRT angemeldet“.

„Am Samstag? Heißt, dass ich bis Montag hierbleiben muss!“

„Ich fürchte ja! Aber zunächst ist es einmal wichtig, dass man herausfindet, was du hast und wie wieder gesund wirst. Sei unbesorgt, vertraue auf die Maßnahmen“, und nach kurzer Pause: „sei zuversichtlich!“

****
Das Licht war gelöscht und befreit von der Apparatemedizin fiel ich traumlos in einen schneewittchentiefen Schlaf.

Die Morgenroutine begann, wie gewöhnlich früh um 6. Klawdija trug ihr rötliches Haar wie Jeanne d’Arc. Meiner Nase umschmeichelte das Bukett frischer Brötchen, Morgenkaffe und Kölnisch Wasser. Jung war sie, so unerbittlich jung!

„Klawdija, ich habe sie vermisst! Ein bisschen fühle ich mich, auf der Neurologie, schon wie zu Hause“.

„Ach, Cherre Wain, sie sind ein Schelm!“ streifte sie mir die Manschette über den Arm und pumpte sie auf.

„Blutdruck 140 zu 90“.

„Klawdija, sie machen mich unsicher! Kann‘ ich damit immer noch alt werden?“

„Natürrlich, Cherre Waine, aber sie müssen mir versprechen, ihr Frühstück aufzuessen!“ lispelte sie im östlichen Akzent, legte Manschette und Messgerät auf das Nachtschränkchen und machte sich mit dem Thermometer an meinem rechten Ohr zu schaffen.

„Mein Trommelfell, Vorsicht mein Trommelfell!“

Wie ich diese Prozedur hasste!

„Färrtig!“ Das haben sie sährr gutt gemacht! Cherre Waine, hiermit erkläre ich sie zum Paziänt der Woche!“

„Klawdija, das macht mich stolz, sehr stolz! Wäre ich jünger würde, ich sie auf der Stelle heiraten!“

Meinem listigen Blick hielt sie mit gebotenem Argwohn stand, aber ihre Wangen überflog eine kaum merkliche Röte, mit der sich ihre Regung verriet. Sie übertrug die Werte in ihr Patientenlog und überraschte mich:

„Warum sind Männer so ganz anders als normale Menschen?“

Ich war baff! In ihrem Wesen fehlte zwar noch der eigene Grundton, aber jetzt hatte sie mich am Wickel und ich wusste darauf keine Antwort. Heutzutage muss man vorsichtig sein, da wird manches zerpflückt. Da verfängt sich schnell ein harmloser Flirt in den gespannten Fallstricken der neuen Suffragetten und endet schließlich unter einem Fallbeil tiefer Verachtung. Sie aber ergänzte:

„Ich mag sie auch!“

****

Mittagessen. Das Krankenhaus Management hatte wieder einmal versagt. Rührei und Spinat hatte auf der Speisekarte gestanden und meine Portion war oben, auf der Intensivstation, bereits verteilt worden. Auf auf der Neurologie, war ich noch nicht registriert und demzufolge waren auch kein Essen für mich ausgegeben worden.

„Macht nichts, wir können ja unten zusammen was essen!“

Rieke überredete mich für die Kantine. Auch hier: Rührei mit Spinat, kein übermäßig appetitlicher Eindruck dafür kostenpflichtig und fettmodifiziert, ein brauner Klecks wie zweimal von der Kuh verdaut und der Natur zurück übergeben.

„Ist dir das auch schon aufgefallen?“

Während ich mit der Gabel im Brei rührte und die Unappetitlichkeit mit meinem Hunger zu einen suchte, hatte sie mich beobachtet:

„Dein rechtes Auge ist viel kleiner als das linke!“

„Was du nicht sagst!“

Der bittere Geschmack lauwarmen Spinats verursachte mir einen Anflug von Ekel:

„Das hier schmeckt mir nicht. Nein, was du sagst! Ich habe nur ein bisschen geblinzelt.“

Rike ließ nicht nach, sie nahm ihr Smartphone und fotografierte mich:

„Hier, du glaubst mir nicht!“ hielt sie mir das Mobilgerät ins Gesicht:„findest du das normal?“

Da war einer wie der Held aus einem Wildwestfilm, als ich in den Spiegel sah, einer mit einem von der Natur und Jahren gegebten Gesicht. Ich kniff abwechselnd das linke und rechte Auge ein paarmal, klimperte und zog die Brauen hoch:

„Ich denke, jetzt hab‘ ich sie zurechtgerückt! Liebes, du bist einfach ein bisschen mitgenommen von der Situation, mach dir keine Sorgen, mir geht es soweit ganz gut!“

****

St. Vinzenz, Freitagmittag 14:00 Uhr, Stunde der Übergabe, Beginn des Wochenendes und Zeit für Patientenbesuche. Im 4. Obergeschoss, auf dem Flur der Neurologie und mit wehendem Kittel, tänzelte der Chefarzt übers gebohnerte Parkett.

„Wie geht es uns heut‘, Monsieur Wein?“

‚Das müssten sie mir doch sagen können!‘ dachte ich, aber ließ mich nur zu einem

„Gut Herr Professor!“ hinreißen.

„Die Daten von der Intensiv sind noch nicht auf meinem Tisch“.

Er sah mich an: „Hatten wir mal einen epileptischen Anfall?“

„Nein!“ Ich war erschrocken, er stellte eine Frage aus der man Texte herauslesen kann. Was meinte er mit Epilepsie? Hätte das nicht zukünftig weitreichende Einschränkungen für mich?

„Morgen machen wir erst einmal ein MRT und dann sehen wir weiter, übrigens: was ist mit ihrem Auge?“

„Ja, Herr Professor“, Rike fiel ihm ins Wort,
„das ist mir auch schon aufgefallen!“

Der Arzt zog meine rechte Braue nach oben und betrachtete mit seiner Taschenlampe die Iris. ,Auch Spinat!‘ dachte ich, als sein Gesicht dem meinen sehr nahekam. Nachdenklich legte sich des Mediziners Stirn in Falten, denn hier ahnte er, dass da noch eine Arbeit auf ihn wartete, eine Arbeit, die ihm ein überfüllter Tag übriggelassen hatte.

„Kommen sie, Herr Wein kommen sie, wir müssen soffort,“ und betonte die erste Silbe,
„…soffort ein MRT machen!“

Die Tür des Stationszimmers stand weit offen:

„Schwester Agnes, melden sie mich um 15:00 Uhr in der Radiologie an!“

Mir schwante, hier war etwas sehr dringend!

****

- Alles in Fluss -
 
Zuletzt bearbeitet:

wirena

Mitglied
Hallo John Wein

Auf meiner Lebenswage liegt das schwere Gewicht auf der Vergangenheit, die Zukunft ist leicht. Ich bin in einem Alter in dem man mehr rückblickend als vorausschauend das Leben betrachtet. Vor mir liegen hoffentlich noch ein paar Jahre Aussicht auf Zukunft.
...zum Glück hast Du Dein Erleben der Vergangenheit mit diesem Sprichwort eingeleitet -
Ein spanisches Sprichwort sagt: „Eine der schönsten Dinge der Welt ist es, den zu treffen, mit dem Du über alle Deine verrückten Gedanken sprechen kannst, ohne Dich dabei komisch zu fühlen“.
ja Sternstunden sind solche Begegnungen - schön, dass sich dies immer wieder von Neuem ergibt - Alles in Fluss -

herzlichen Dank für Deine Schilderungen, die sich verarbeitet flüssig lesen lassen. So mein Erleben - schön, dass es Dich gibt :) solch einen Einblick in die Männerwelt hatte ich noch selten - danke

LG wirena
 
Was mir hier besonders auffiel, lieber John: wie abgestuft, individuell verschieden die einzelnen Partien je nach Eigenart des jeweiligen Gesprächspartners sind. Der gesamte heutige Teil besteht ja fast nur aus Dialogen und es ist schon bemerkenswert, dass der Patient als Erzähler jetzt mehr über diese anderen als über sich und sein momentanes Befinden preisgibt. Man könnte das als Zeichen einsetzender Genesung interpretieren - wenn nur die Sache mit dem auffälligen Auge nicht wäre.

Da ich gerade selbst wiederholt Krankenbesuch auf einer Station zu machen hatte, habe ich noch mit besonderem Interesse von diesen Abläufen und Gesprächen gelesen. Diese Welt verändert, glaube ich, die in ihr Befindlichen vorübergehend, auch die Besucher. Gerade diese spielen Rollen und persönlich würde ich mich am ehesten mit der von Mareijke zu Beginn identifizieren.

Schöne Abendgrüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Der Arzt zog meine rechte Braue nach oben und betrachtete mit seiner Taschenlampe die Iris. ,Auch Spinat!‘ dachte ich, als sein Gesicht dem meinen sehr nahekam. Nachdenklich legte sich des Mediziners Stirn in Falten, denn hier ahnte er, dass da noch eine Arbeit auf ihn wartete, eine Arbeit, die ihm ein überfüllter Tag übriggelassen hatte.
Soetwas zugleich Saukomisches im Tragischen kann man nur mit Abstand schreiben - obwohl die Sinneswahrnehmung authentisch sein könnte.
Großes Kino - und ich bin sehr froh zu wissen, dass die Geschichte gut ausging.

Liebe Grüße
Petra
 

John Wein

Mitglied
Dankeschön Wirena, Petra und Arno, für die lieben Kommentare,
Ich hoffe, für die Fortsetzung wird es nächstes mal nicht so lange brauchen. Ich nehm mir mal eine kleine Auszeit nicht ganz so weit weg von Wirenas Umfeld in D am See. Das reimt sogar!
Grüß euch alle zusammen;
Tschau, John
 

John Wein

Mitglied
In die Röhre gucken

Ich bin der Zwischenraum zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich nicht bin, zwischen dem, was ich träume, und dem, was das Leben aus mir gemacht hat, der abstrakte und leibliche Mittelwert zwischen Dingen, die nichts sind, da ich ebenfalls nichts bin. Welche Unruhe, wenn ich fühle, welch Unbehagen, wenn ich denke, welche Nutzlosigkeit, wenn ich will!
Fernando Pessoa

Eine Magnetresonanztomographie ist ja keine alltägliche Angelegenheit und sie ist bedingt durch einen möglicherweise schwerwiegenden medizinischen Verdacht. Kurz nach 15 Uhr begleitete mich Schwester Meyrem in die Radiologie Station im unteren Flur. Ein bisschen mulmig im Bauch war es mir schon, aber ich war auch ein bisschen gespannt auf die Untersuchung und die leibhaftige Bekanntschaft mit meinem Schädelinneren, schließlich lebt man mit ihm von Geburt an in enger Gemeinschaft zusammen. Die meiner Hirnmasse innewohnende Geist, jenes ich, ist mir natürlich sehr vertraut, aber die physische Abbildung der Strukturen, Scheibchen für Scheibchen, das wäre wohl interessant und spannend genug, es einmal näher zu entdecken.

Der Raum, hatte einen klinisch warmweißen Anstrich, war fensterlos mit hellem Kunstlicht geflutet und penetrant lautem Rauschen beschädigt. In der Mitte, Höhepunkt sozusagen, stand ein Düsentriebwerk, eine Maschine mit ringförmiger Trommel, davor einer Liege, die wie eine Zunge aus dem Schlund des Monstrums hervor leckte. Die Situation machte einen insgesamt furchteinflößenden Eindruck. Hier schrumpft man zum Zwerg.

„Das Rauschen kommt von der Kühlung.“ Sie sprach mit einem klangvollen, rheinischen Akzent, perkussiv und sachlich und ihre freundlich modulierte Stimme bot mir vorrübergehend sicheren Halt. Sarah Engel stand auf ihrem Namensschild in einem feinen abgerundeten Schriftzug. Die junge Frau war von jener verströmenden Schönheit, die alles um sich herum auf den Status einer Nebensächlichkeit verweisen kann. Abgelenkt, ja nahezu entrückt, folgte ich ihren Erklärungen allenfalls ansatzweise und ließ mich ganz zerstreut und arglos in die Situation hineinfallen.

„Die Uhr müssen sie ausziehen!“ weckte sie mich aus dem schönen Traum und maunzte: „Herr Wein, ihre Uhr!“
Mein Border-Collie Blick verriet die männliche Eigenart.

„Geben sie her!“
Erst jetzt bemerkte ich den jungen Stutzer hinter der Trennwand, denn so sehr hingen meine Augen noch an denen der Schönen. Der diensthabende Assistenzarzt schaute mit einem resignierenden Derfeierabendistgelaufenblick in eine imaginäre Ferne und mit dem Zartgefühl eines Rechenschiebers,

„Ihre Brille bittä! Haben sie sonst noch metallurgische Gegenstände, Schlüssel usw. in den Taschen oder am Leib? Hörgeräte?“,
wandte er sich mir zu.

„Ich habe sechs Schrauben in den Füßen.“ fiel mir ein, „ich hatte mal eine Fuß OP.“

„Die dürfen sie drin lassen, aber Piercings, haben ein Piercing?“

Wie war das denn gemeint?! War das nicht ganz offensichtlich? An welcher sensiblen Stelle könnten sie den sein?
Ich verbarg meine Verwunderung mit einem dürren: „Nö“

„Es wäre besser, sie zögen ihre Pantoffel auch noch aus.“ mahnte mich der Feierabendistgelaufen.

„Diese Kopfhörer werden die Geräusche dämpfen, der Lärm könnte für sie unangenehm sein.“ Der Engel stülpte mir das Gerät über die Ohren, „es ist ganz normal und muss sie nicht beunruhigen“.

Während ich lag, fixierte sie meinen Kopf in einem Gestell und gab mir eine Notfallklingel in die Linke.

„Sie dürfen sich in den nächsten zwanzig Minuten nicht bewegen, wir brauchen gute Bilder. Atmen sie ruhig, versuchen sie möglichst nicht zu Husten“.
An ihren Erläuterungen und Maßgaben gab es nichts Hastiges oder Überflüssiges.
„Ich werde immer mit ihnen in Kontakt sein, sie brauchen wirklich keine Angst zu haben“.

Man verließ den Raum in dem ich nun allein und wie von Geisterhand sacht und geräuschlos mit meiner Liegestatt in den Bauch der Maschine hineingeschoben wurde. Der ganze Vorgang und obwohl mir die Sache großen Respekt abverlangte, hatte eine eigentümlich erotische Note.

Im Innern der Röhre war es hell, aber auch sehr eng. Meinen Kopf durfte, konnte ich auch nicht bewegen. Im Sichtfeld meiner Augen war nur das allumfassende Warmweiß der Höhlenwand. Die Enge und meine Fixierung lösten in mir die Platzangst aus.
Ich erinnerte mich an eine viele Jahre zurückliegende Episode in Südafrika. Es war damals in der Kleinen Karoo bei einer Höhlenbesichtigung in den Cango Caves. Bei dieser Tour musste man auf dem Bauch durch Spalten und Klüfte kriechen, und in Kaminen und Fugen klettern. Klaustrophobie oder ein zu großes Körpervolumen waren da fehl am Platz. Hier wurde gekrochen, geklettert und gequetscht und zwar immer nur vorwärts, denn von hinten rückten andere nach und vor mir, nur Zentimeter vor meinen Augen, kraxelten die Fußsohlen meines Vordermanns. Zu wissen, dass ein ganzer Berg über mir lastete und ich steckenbliebe, dass es nur diesen enge Spalte nach vorn zum Licht gab, machte mir große Angst

Die Maschine begann mit ihrem Programm. Erst hörte ich ein schleifendes Sirren, dann begann es zu hämmern und obwohl Kopfhörer den Lärm dämpfte, so war es doch eine Knallerei wie bei einem Feuergefecht. Die Schläge, ähnlich einem Abbruchhammer kamen in einem Rhythmus von weniger als einer Sekunde. Ich wähnte etwa 100 Folgen pro Minute. Durch das Zählen der Wiederholungen konnte ich mich ablenken und die Dauer kalkulieren. Für jeden Finger 100 Schläge, für eine Hand 500 also 5 Minuten Fortschritt. Dass die Aufnahmen unscharf und nicht zu gebrauchen waren, wusste ich da noch nicht.

„Herr Wein, es tut uns leid, leider müssen wir noch einmal alles wiederholen,“ kündete Professor Egeli, der den Vorgang am Bildschirm nebenan verfolgt hatte, „man kann „Es“ nicht richtig erkennen.“ Das „Es“ war der Schaden, der Ausfall oder das Manko meiner Hirnmasse und so blieb es mir nicht erspart, noch einmal Zweitausend Klopfgeräusche hinzu zu zählen.

-Alles in Fluss-
 
Immerhin, lieber John, hast du hier dem klaustrophobischen Druck nicht nachgegeben und die Notfallklingel nicht betätigt. Ich vermute, dass gerade die Ablenkung durch das Zählen da hilfreich war. Man verschafft sich durch solche Operationen das Gefühl, die Lage beherrschen zu können.

Platzangst ist in verschiedenen Graden wohl häufig in der Bevölkerung anzutreffen. Die von dir als reale Erinnerung beschriebene Höhlensituation plagt mich z.B. seit Jahrzehnten gelegentlich in Alpträumen. In wirklichen Höhlen kann ich die Unlustgefühle beherrschen wie du bei dieser Untersuchung. Eine MRT habe ich noch nicht mitgemacht, doch gelegentlich davon erzählen hören. Dein Bericht jetzt war besonders plastisch.

Schöne Abendgrüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Ein sehr eindrückliches Zitat von Pessoa, lieber John, und danke für die Fortsetzung der Geschichte.
davor einer Liege, die wie eine Zunge aus dem Schlund des Monstrums
Und wieder sehr beeindruckende Bilder und Formulierungen.
Ja, mich hat das auch beeindruckt, wie Du mit dem Zählen Dich selbst abgelenkt hast. Ich denke auch, dass Panik steuerbar sein kann, wenn man sie direkt an der Wurzel packt; dafür muss man wohl ein sehr geerdeter Mensch sein.
Nun haben wir wohl noch eine Messung vor uns - und mir bangt schon vor der Diagnose ...

Liebe Grüße
Petra
 



 
Oben Unten