Alles in Fluss

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"Wir" freuen uns über die Fortschritte bezüglich Diagnostik und Genesung, lieber Patient von damals. Ich staune über die Leichtigkeit, mit der du medizinisches Vokabular anbringst.

Ich weiß, dass Textkorrekturen hier nur kurz möglich sind. Dennoch will ich das mal vorbringen:

Ein bisschen verschwammen jetzt meine Gedanken in einer in sich verselbstständigen und verschlingenden Weise.
Sollte es nicht lauten: ... in einer sich verselbstständigenden und verschlingenden Weise? (Vielleicht für die Vorlage. Ich bin froh, dass ich das nicht laut vorlesen muss.)

Abendgrüße
Arno
 

Anders Tell

Mitglied
Mein Kommentar bezieht sich auf den Eingangstext (Gleichschritt). Selten habe ich mich in einem Text so Zuhause gefühlt. Winston spricht die Dinge aus, die mich beschäftigen und für die ich bisher keine Worte fand. Wenn ich auch gerne Bestätigung für meine Überlegungen finde, will auch den herausragenden Schreibstil loben. Das ist druckreif.
 

John Wein

Mitglied
Wilfried

Lachen ist nicht der schlechteste Anfang einer Freundschaft und bei weitem das beste Ende.
Oskar Wilde

Montagmorgen. Die Woche war frisch und ihr erster Tag noch unverdorben. Das lange Warten des Wochenendes, ein Hinschleppen von Stunden zu Stunde, das Ausharren und Gedulden, all das lag in der Vergangenheit. Marijke hatte am Wochenende Lesefutter mitgebracht: Zauberberg, eine Krankenhausgeschichte, meiner Situation im St. Vincenz wohl und angemessen.

Die frische Morgenluft tat mir gut. Ich fühlte, wie die Last der letzten Tage verflogen war und das Herz leichter wurde. Im Zimmer Aromen von frischem Kaffee, draußen das Zwitschern der Vögel, und unter mir – ja nanu? Wer steht denn da an der Ecke? Schnauzbart und Randlosbrille, das gibt's doch nicht!

das kann doch nur...– Thomas Mann, unten im Rauchereck! Der hat doch immer gesagt, was er denkt! Auch wenn’s wehtat. Und war trotzdem erfolgreich!“

… und jetzt winkt er sogar herauf!

„Herr Wein!“…

„Ich werd’ verrückt“

„Hallo Herr Wein!“

„Thomas! Hhhmmm?“

„Aufwachen!“ …“Hallo, Herr Wein, hören sie mich?!“

„Bin ich denn nicht hier auf dem Berghof?“

Und einige Dezibel lauter: „HERR WEIN!“.

„Ja bitte?“ quälte ich mich schleppend nach oben.

Lernschwester Clawdia!

„Herr Wein!.. aufwachen!... hören sie! Sie müssen den Schlafanzug ausziehen, ich habe ihnen ein Nachthemd auf den Stuhl gelegt, ich komme nachher zurück und hole sie ab“, und wandte sich zur Tür.

„..und denken sie d‘ran, sie sollten noch einmal zur Toilette geh‘n! Unten wird man ihnen einen Druckverband anlegen, dann ists aus, also geh‘n sie vorher lieber nochmal!“

Druckverband, das Wort kam heruntergesaust wie ein Hattori Hanzo Schwert ! Ruckzuck war ich hellwach. Dr. Höllriegel hatte mir bereits am Abend den Ablauf der angiographischen Untersuchung erklärt, auch, dass man nach dem Eingriff mit dem Druckverband um die Lenden, sechs Stunden strikte Bettruhe einhalten müsse.

„Mindestens sechs Stunden“, betonte er wiederholend, „also gehen sie lieber vorher nochmal auf die Toilette!“

Das war jetzt gar nicht so leicht, die war nämlich besetzt. Wilfried machte sich landfein. Die diagnostizierte Gehirnerschütterung, war komplikationslos verlaufen. Er würde nach dem Befundbericht entlassen werden.

Der Former war am Freitag nach Feierabend im Dingles abgestiegen und 2 Stunden danach vom Rad.

„Höchstens zwei Guinness!“ Versicherte er mir wenig überzeugend. Die Lenkstange war für das Veilchen verantwortlich gewesen und der Lichtmast für den Schädel.

Am Wochenende war es zwischen uns zu einer echten Männerfreundschaft gekommen.

„Wilfried und du?“ kam er mir ohne Frage zuvor.

„John!“

Anders als eingeschätzt, war er ein leutseliger Mensch, die raubeinigen Umgangsformen täuschten, sie hatten ein gutmütiges Herz zu hüten.

„Wilfried“, klopfte ich an die Tür der Zimmertoilette, „kann ich mal rein?“ und um es zu unterstreichen, „es ist dringend!“ klopfte ich nochmals energischer.

„Kein Problem Johnniboy, komm rein, wenn du dich traust.“

Was war das für eine Szene! Um Himmelswillen! Ein Ausdruck mit dem man eine Überraschung überspielt und um Zeit für die Antwort zu finden. Da stand ein Kerl in voller Blüte männlicher Prachtentfaltung, nackt wie am ersten Tag auf der Welt und rasierte sich den Schädel.

„Wilfried ich muss mal!“

schaute ich in dieser intimen Situation in eine imaginäre Ferne,

„ich darf sechs Stunden nicht mehr pieseln.“

„Ein Stopfenl?“ er zog den Stöpsel und griff zur Zahnbürste.

„Ja so ähnlich, ein Keuschheitsgürtel“; erwiderte ich und quetschte mich um seinen Astralkörper zur Schüssel.

Da saß ich jetzt zwei Handbreit Aug in Aug mit einem blassen Hintern und erleichterte mich um ein paar Tropfen, während oben am Bizeps, die schillernde Meerjungfrau ein Auge zukniff.

„Kannst ja mal auf n‘ Alt vorbeikommen, wenn du Lust hast. Ich bin ein paar Tage krankgeschrieben, würde mich freuen.“

„Wilfried ich weiß, du bist ein guter Mensch…“,

Sein Allerwertester wippte vor meinen Augen dem Rhythmus der Zahnbürste immer ein bisschen hintennach,

„..und du hast eine rechtschaffende Ausstrahlung, wirklich!“

und nach einer rhetorischen Kunstpause und während die Schwüle im Bad immer bedrückender wurde, schob ich nach:

„Ja vielleicht, wäre schön, ich leg‘ mein Kärtchen auf dein Nachtschränkchen, ruf‘ mich an!“

Im Krankenzimmer ging ich zum Fenster, zog den Vorhang zurück und kippte den Flügel. Frische Morgenluft floss herein. Ich atmete zweimal tief in meine Lungen; ein vorrübergehender Schwindel. Oben, am rasch sich färbenden Himmel, zerfaserten Wolkenbänder im Herbstwind und unten, auf dem vernachlässigten Spielgrund des St. Vincenz, tschilpten die Spatzen und zankten um ein paar Krümel

Weltabgeschieden, im Niemandsland zwischen den Trakten, lungerte ein Raucher. Im Reflex winkte ich zaghaft und …. tatsächlich…...


Alles in Fluss







































der Glaube an soviel Zurückhaltung war sonst eher im Schwinden begriffen
 
Ein besonders weitgespannter Bogen diesmal, Thomas Mann und Wilfried! Und ich überlege, welcher Dichter mir schon mal im Traum erschienen ist ... Vielleicht gar keiner oder ich habe ihn beim Aufwachen gleich wieder vergessen. - Und wieder eine meiner zahllosen Bildungslücken gestopft; Hattori Hanzo, war mir bis dato vollkommen unbekannt, jetzt nicht mehr.

Übrigens, das Ende dieser neuesten Folge, lieber John, sieht seltsam aus, erst eine Riesenlücke und dann ein kluger Satz. Sei bitte künftig etwas vorsichtiger, wie leicht könnten sonst deine geheimsten Notate im Netz landen.

Schönen Abend
Arno
 

John Wein

Mitglied
Manchmal denke ich, der Himmel besteht aus ununterbrochenem, niemals ermüdendem Lesen.
Virginia Woolf

Angiographie

Nüchtern und mit knurrendem Magen, hatte man mir morgens auf der Station ein Beruhigungsmittel verabreicht und schon bald, nach wenigen Minuten, hatte sich meine Innere Unruhe gelegt und einer willkommenen Gelassenheit Platz gemacht. Leichten Herzens erwartete ich den erregenden Ablauf einer Angiographie.

Um 9 Uhr lag ich im Untersuchungsraum hingestreckt auf dem Behandlungstisch. Bei einem Angiographie Verfahren werden die zu untersuchenden Gefäße, z. B. Herzkranzgefäße, mittels Röntgenstrahlen und Kontrastmittel begutachtet. Dabei wird ein Katheter durch ein Blutgefäß zum Ort der Untersuchung geschoben und mittels Bildgebung und Kontrastmittel erhält man einen Einblick in die Region des Krankheitsherdes, in meinem Fall die Halsschlagader, Carotis.

„Dr. Glickstain, erfreut“, mit der sanftmütigen Aura des Philanthropen und einem niederländischen Akzent ausgestattet, trat er ein, den krausen Rotschopf mit einem Gummi notdürftig zu einem Bun gebändigt,
„ja wen haben wir jetzt da!“ Sein Bart war stattlich und nähme er ihn ab, könnte vermutlich ein junges Gesicht zum Vorschein kommen. Er schnürte sich die Schürze vor dem Bauch, streifte eine Haube übers Haar und wusch sich sehr sorgfältig die Hände. „Wie geht es ihnen Herr Wein, haben sie gut geschlafen?“ wollte er wissen. Begleitet von einer müden Handbewegung schwindelte ich. Mit ihm also, würde ich die phantastische Reise durch meine Arterien machen.

Der Arzt erklärte die Routine:

„Ich lege einen Zugang in die große Beinarterie ihrer rechten Leiste, keine Angst Herr Wein, ich betäube das zuvor. Danach führen wir einen hauchdünnen Draht mit einem Schlauch in das Gefäß und schieben den Katheter zum Hals und bis zu ihrer Halsschlagader.“

Jetzt wurde mir heiß, ganz heiß! Den Vorgang hatte ich schon oft mit gleichem Verfahren bei Herzkranzuntersuchungen gesehen, aber nun sollte sich das alles in meinem Körper abspielen und das hatte dann doch für mich eine ganz andere Dimension.

„Seien sie unbesorgt mein Lieber, sie spüren es nicht, es wird vielleicht ein bisschen warm, wenn ich später das Kontrastmittel hinzugebe.“

Schwester Katja zu seiner Rechten war Dr. Glickstains Linke Hand und im Übrigen eine Frau, die ins O-kay -Aussehen wenig Arbeit steckt. Ihre Uniform: Grüner Kittel, Kloks, und Plastikhaube. An ihrer Qualifikation war kein Zweifel erlaubt, alles an ihr war Erfahrung, Routine und Kompromisslosigkeit. Nein, bei Schwester Katja ging man allenfalls als zweiter Sieger aus dem Rennen. Sie nahm meinen Puls kontrollierte den Blutdruck und rasierte mir mit kalter Hand robust und mit einem stumpfem Wegwerfrasierer die Leiste, pinselte Sterillium auf das Operationsgebiet und platzierte das OP-Lochtuch über dem Oberschenkel. Zum Schluss bedeckte sie mich sorgfältig und verteilte das medizinische Besteck auf der Ablage.

„Wia sinnd färchtisch Härr Dokter !“

Er zog die Spritze auf:
„Ein kleiner Pieecks, Herr Wein, locker, gaaanz locker, keine Angst!“

OK, es war wirklich nur ein Pieks.

„Einen Moment noch bis die Betäubung wirkt, gleich sind wir dann so weit“,…

… „So, jetzt lege ich den Schmetterlingszugang und jetzt ist die Nadel in der großen Bein Ader“.

Innerlich hoch illuminiert erwartete ich mein Ende!

Zur Schwester gewandt: „Kati, wissen sie was es zum Mittag gibt?“

„Pasta mit Pilze, glaub‘ isch“,

Mein Thorax geriet ins schüttern. Ich lag auf der Schlachtbank und meine Magensäfte schlugen Alarm. Ein dampfender Teller Farfalle mit köstlicher Salsa Crema di funghi waberte zwischen Auge und Nase.

„Wir sind jetzt im Bauchraum“, schwebend über mir flimmerte der Monitor und keine Pasta. Das schlängelnde Vordringen des Katheters, vollkommen geräuschlos und schmerzfrei, das Passieren der Aorta, „Wie schnell das geht!“ staunte ich, „hier, Herr Wein, das Herz“, und betrachtete zum ersten Mal im Leben das Zentralorgan, mein Herz, das natürlich nicht wie aus Lebkuchen daherkam.

„Gleich sind wir am Ort“,

Aus dem Aortenbogen ging es rechts ab in die Halsschlagader, an den Ort der der Läsion.

„Erschrecken sie nicht“, meinte der Arzt, „es könnte jetzt etwas warm werden“, spritzte er das flüssige Kontrastmittel. Im Gefäßlabyrinth meines Halses erschienen jetzt deutlich die blutführenden Arterien mit ihren diversen Verzweigungen und schlängelnden Verästlungen.

„Ich weiß nicht“, sagte er von einer kleinen Wolke des Bedauerns herab, „doch warten sie mal, da, man sieht hier etwas, nicht sehr deutlich, aber wir werden das in der Nachbetrachtung noch genauer untersuchen“.

Ich hatte etwas ähnliches wie einen Riss in der Halsschlagader erwartet, eine klaffende Stelle, die Dissektion, verursacht von der abgelösten Plaque. Ich musste etwas Ordnungen im Kopf schaffen, aber bei aller Liebe, da war für mich nichts Auffälliges zu sehen.

Der Arzt zog den Katheter.

„Fertig! Wie fühlen sie sich? War nicht schlimm, oder? Wir legen jetzt gleich den Druckverband.“

Er entfernte vorsichtig den Zugang und drückte mit einer Faust fest auf die Einstichstelle in meiner Leiste.

Katja: „Heb‘n se ma‘ ihren Poppo!“

In sportlicher Praxis raffte sie mein Klinikhemd, schob es mir über die Hüften und legte das Schatzkästlein frei. Mein Gefühlshaushalt geriet ins Schwimmen, hielt aber der anfliegenden Schamwelle stand. War ich nicht einer von vielen, den man hier im hellen Licht paradiesischer Nacktheit vor sich auf dem Tisch liegen sah? Klinische Routine ebnet alle Gefühle des Leiblichen, sie degradiert den Patienten zum behandelten Objekt. Alle Würde des höheren, aufrechten Wirbeltiers hat in so einem besonderen Fall zwangsläufig Pause.

Dr. Glickstain:
„Der Druckverband soll eine Blutung aus der Ader verhindern, stehen sie mindestens sechs Stunden nicht auf und bleiben sie möglichst bis morgen im Bett.“

Vier Hände umwickelten mit einem straffen Verband zunächst den Oberschenkel, die Hüften und schließlich, bis auf die kleine Stelle, meinen ganzen Unterleib. Unwillkürlich musste ich lachen. Er sah aus, als wäre ich in einen Hüfthalter reingewachsen, so wie beim Michelin-Mann.

„Bis Morgen, Herr Wein, dürfen sie diesen Panzer tragen“, schmunzelte der Arzt, „Entrüstung ist morgen auf der Station“, und vervollständigte am Side Bord mit ein paar Eingaben auf dem PC den vorläufigen Untersuchungsbericht.

„Schwester Katja wird sie unterhalten, bis sie von der Station abgeholt werden. Morgen besprechen wir dann das Ergebnis und die Maßnahmen,“ verabschiedete Dr. Glickstain.

Mir war flau im Magen, ich hatte Hunger!



Alles in Fluss
 

petrasmiles

Mitglied
War ich nicht einer von vielen, den man hier im hellen Licht paradiesischer Nacktheit vor sich auf dem Tisch liegen sah? Klinische Routine ebnet alle Gefühle des Leiblichen, sie degradiert den Patienten zum behandelten Objekt. Alle Würde des höheren, aufrechten Wirbeltiers hat in so einem besonderen Fall zwangsläufig Pause.
So etwas Ähnliches habe ich auch einmal empfunden - und ich denke, das ist durchaus heilsam. Man ertappt sich doch dabei, dass man ein ganz schönes Gewese um sich macht - und wenn dann so ein Tag kommt, der einen zurecht stutzt und gleichzeitig auch ein Stück weit die Verantwortung abzugeben zwingt, das hat schon etwas quasi Religiöses. Man ist vielleicht nicht gerade in Gottes Hand, aber nahe dran.

Ich finde das immer noch und immer wieder ganz wunderbar, dass Du uns an dieser Reise teilhaben läßt.
Und immer wieder gut zu wissen, dass es gut ausging.

Liebe Grüße
Petra
 
Die Beschreibung des eigentlichen Vorgangs zu lesen, fiel mir nicht ganz leicht, lieber Herr Wein. Das liegt natürlich nur an meiner Empfindsamkeit, habe eine Aversion gegen Einblicke ins Körperinnere, sowohl ins eigene wie in fremdes. Wenn ich auf dem Zahnarztstuhl sitze und vor mir ein Mensch sich an meiner Mundhöhle zu schaffen macht, empfinde ich regelmäßig große Hochachtung und kann mich doch nicht in ihn hineinversetzen. Dass der das überhaupt kann ...

Die Stelle, die Petra zitiert und kommentiert, habe ich mir auch gleich beim Lesen vorgemerkt. Das ist dort richtig gesehen, aber es belastet mich im konkreten Fall nicht, eher im Gegenteil, mein Vertrauen in die Kapazität vor mir wächst mit der eigenen Hilflosigkeit. - Gern habe ich mich zu Beginn an eigenes Erlebnis mit einem Beruhigungsmittel erinnern lassen. Es war bei einer Magenspiegelung. Selten habe ich mich so wohl gefühlt wie unter dem Einfluss dieser Droge.

Nochmals abendliche Grüße
Arno
 

Aniella

Mitglied
Hallo John,

lebhafte Erinnerungen vom Einsetzen eines Ports sind bei Deiner Lektüre in mir hochgekommen. Netterweise wurdest Du wenigstens angesprochen, ich hatte das zweifelhafte Vergnügen nur zuhören zu dürfen, worüber die Ärzte sich nebenher unterhielten. Ein Gespräch, das so gar nichts mit dem Eingriff zu tun hatte und mein Gesicht war mit einem Tuch abgedeckt, sodass ich Platzangst bekam im Laufe der Zeit. Irgendwann haben sie es dann auch gemerkt, dann bekam ich wieder mehr Luft. Nun denn, jeder hat so seine Erlebnisse.
Auch die Degradierung zum Objekt ist mir nicht unbekannt. Wenn mitten in eine Untersuchung ein mir unbekannter Mensch (stellte sich natürlich auch als ein Arzt heraus) in das Behandlungszimmer stürmt und mit meiner Ärztin ein Gespräch beginnt, kann man ja mal ein freundliches "Wünsche auch einen guten Tag …" einwerfen?
Ich finde Deine Schilderungen sehr gelungen und mit einer guten Prise Humor präsentiert.
Gern gelesen und schön, dass wir es miterleben dürfen.

LG Aniella
 

John Wein

Mitglied
Danke Petra, Arno und Aniella,
für eure Statements, Einschätzungen, und Reflexionen. Ein Apoplex, wie ich es lieber nenne, also ein Schlaganfall, ist natürlich eine sehr ernst zu nehmende Krankheit. Zum Glück ist sie für mich positiv verlaufen. Deshalb kann ich heute nach Jahren in humorvoller Weise über die Erlebnisse im Krankenhaus rund um das Geschehen schreiben. Vor längerer Zeit habe ich das schon einmal in anderer Form anonym mit meinen Kurzgeschichten Held Alfred Landauer hier veröffentlicht.

Ich habe im vorigen Jahr das Buch „Hamster im hinteren Stromgebiet“ von Joachim Meyerhoff gelesen, wo der Autor und (Burgtheater) Schauspieler, seinen eigenen Schlaganfall und die damit verbundenen Erlebnisse drastisch aber humorvoll beschrieben hat. Es hat mich bewogen, meinen eigenen Fall ebenso lustig betrachtend nachzuerzählen.
Das ist jetzt hier noch kein endgültiges Resümee meines Krankenhaus Tagebuchs, eine nachträgliche Folge kommt noch. Also beibt dabei!
Ich grüße Euch und alle Leser meines Tagebuchs,

John Wein
 

John Wein

Mitglied
Wer das Glück nicht genießt, solange er es hat, sollte sich nicht beklagen, wenn es vorbei ist.
Miguel de Cervantes

Springen

Frau Dr. Unverhoff, eine Fünfzigerin, deren Reize und Zartgefühle im täglichen Trott des St. Vinzenz längst verwelkt waren, hatte am Morgen robust den Druckverband um meinen Unterleib gelöst. Ich biss auf die Lippen, verzog nicht die kleinste Mine, als sie die Privatgemächer freilegte. Sie befühlte die Leistenader und begutachtete die Einstichstelle. Ein Blick in ihre Augen sagte mir, ein Machtkampf mit ihr mache ebenso wenig Sinn, wie um sie um sie zu werben. Was jetzt zählte, war der Freilauf, den ich zurückhatte. Es blieben mir noch ein oder zwei lächerliche Tage, die ich zur Beobachtung bleiben müsse. Ich hatte meine Bewegungsfreiheit zurück, das war, was zählte.

Schwankend tappte ich hinüber zum Fenster und blickte hinaus in Gottes herbstliche Natur. Die würzige Luft, die ich durch den gekippten Flügel tief in mich einsog, tat mir gut. Mit ihren Düften bezähmte sie das sterile Aroma des Krankenzimmers. Jetzt und zum ersten Mal während meines Aufenthalts, registrierte ich tief unter mir nicht nur die stattlichen Fichten des Parks, sondern auch die ganze Welt dahinter. Da tobte sich in schwelgerischer Farbenpracht der Herbst aus, unter einem wolkenlos blauen Himmel, wie in einem Bilderbuch. Noch hatte kein Sturm das Laub von den Zweigen gefegt, immer noch konkurrierte Rot und Gold von Ahorn, Buche und Co. mit dem satten Grün der Nadelbäume und verwischten die akkuraten Zeilen der Genossenschaftssiedlung vor dem Komplex des St. Vinzenz. Unten auf dem vernachlässigten Grün, zwischen grauen Trakten, lungerte nikotinsüchtiges Personal.

Im luftigen Spitalhemdchen lehnte ich am Fenster, atmete tief und lange ein, breitete die Schwingen aus, gerade so, als wolle ich fliegen. Ja, ich lebte noch, ich war frei! Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Man rechnete auch im St. Vinzenz stets mit Krankengut, dem die Höhe in einer Verzweiflung Versuchung bedeutete. „Wir lassen den Herrn Wein am Wochenende springen“, hatte das nicht der Professor verlautet?... und: „wir übertreiben aber nicht und machen keine großen Sprünge!“ Ich war noch einmal von der Schippe gesprungen, warum sollte ich jetzt den Sprung aus dem 4. Stock riskieren?

Der Park erwies sich bei genauem Hinsehen, auf dem Grün sah man zwischen den Zweigen hindurch einen verwitterten Engel, als ein ehemaliger Friedhof. Da war sozusagen hier und dicht neben dem Spital eine Menschen-Entsorgungsanlage. Ich schüttelte den Kopf so, als könne ich auf diese Weise den frivolen Gedanken aus meinem Hirn tilgen und lachte. Es war ein befreiendes Lachen, eins das tief aus der Seele, mit ein paar Tränen innerer Demut garniert, daherkam.

Das Schicksal hatte ein Einsehen gehabt, hatte es noch einmal gut mit mir gemeint.

-Ende-


Alles in Fluss
 
Zuletzt bearbeitet:
Wobei das "Ende" zuerst wie ein Neuanfang gewirkt haben mag, siehe den frischen Blick auf die herbstliche Szenerie. Allerdings kommt mit den folgenden Betrachtungen dann doch der Geist rasch wieder in sein altes Gleis. Gut so.

Interessant fand ich, dass sich Fenster im Krankenhaus nicht öffnen lassen. Falls das überwiegend so ist, haben sie wohl eine sonstige Art der Frischluftversorgung. Ich war im Sommer auf Besuch in einem Krankenhaus aus den 1890ern. Die Räume dort waren ca. 4 m hoch und neuerdings klimatisiert. - Es ist gar nicht so selten, dass sich Friedhöfe in unmittelbarer Nachbarschaft von großen Krankenhäusern befinden (Beispiel aus Berlin: Rudolf-Virchow-Krankenhaus).

Wir atmen jetzt auf, lieber John, nicht da die Lektüre zu Ende ist, sondern deshalb: Du berichtest nichts von Restbeschwerden oder erforderlicher Nachbehandlung. Man muss wohl auch weitgehend genesen sein, um über ein so ernstes Erleben so locker schreiben zu können.

Schöne Abendgrüße
Arno
 

Aniella

Mitglied
Hallo John,

es ist die Befreiung aus einer Zwangslage, die sollte man auch genießen und dankbar sein.
Mir kommt es vor wie ein Tauchgang, aus dem man, selbst wenn der Drang zu Oberfläche noch so stark ist, eben nur langsam auftauchen kann. Geduld ist da gefragt, das Ziel nicht aus den Augen verlieren und die richtige Zeit abwarten. Der Tod wohnt immer nebenan. An manchen Tagen kann man ihn sogar sehen, ab und zu grüßen. Hier ist die Freude, dass er nochmal freundlich grüßend seiner Wege ging, deutlich spürbar. Ich freue mich immer, wenn sogar noch mehr als "nur" ein Blick aus dem Fenster, der schon so wunderbar erscheint, dabei herauskommt. Nach solchen Erlebnissen verschiebt sich der Blickwinkel auf die Welt.
Weiterhin alles Gute.

LG Aniella
 

John Wein

Mitglied
Danke Aniella und danke Arno,
für Eure freundlichen Kommentare! Neben der Freude am Schreiben und Fabulieren, ist das Kommentieren und Diskutieren, eine weitere Säule, weshalb man hier in der LL gerne seine Texte verbreitet.
Zauberberg
Schreiben beginnt ja nicht erst dann, wenn die Feder aufs Papier kratzt, sondern in dem Moment, wo man anfängt, Dinge in Gedanken zu erfassen. Dies setzt wiederum voraus, dass man in der Lage ist, Dinge genau zu beobachten. Ein Schreiber schärft also seinen Blick auf das Leben, dringt tiefer ein in den Lebensgrund und schöpft so mehr Erkenntnisse und Erfahrungen als andere, selbst wenn die Feder niemals das Papier berührt und das Notebook zugeklappt bleibt. Wer schreibt, pflegt die Kunst des geistigen Beiseitetretens, um das Passierende von außen zu betrachten. Im besten Falle schreibt man Dinge nicht nur nieder, sondern auf, öffnet sie dem eigenen Erkennen, dringt in sie ein und hebt manche Schätze, die anderen verborgen bleiben. Und bereichert so sein Leben.
Nochmals Danke!
LG, John
 



 
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