Manchmal denke ich, der Himmel besteht aus ununterbrochenem, niemals ermüdendem Lesen.
Virginia Woolf
Angiographie
Nüchtern und mit knurrendem Magen, hatte man mir morgens auf der Station ein Beruhigungsmittel verabreicht und schon bald, nach wenigen Minuten, hatte sich meine Innere Unruhe gelegt und einer willkommenen Gelassenheit Platz gemacht. Leichten Herzens erwartete ich den erregenden Ablauf einer Angiographie.
Um 9 Uhr lag ich im Untersuchungsraum hingestreckt auf dem Behandlungstisch. Bei einem Angiographie Verfahren werden die zu untersuchenden Gefäße, z. B. Herzkranzgefäße, mittels Röntgenstrahlen und Kontrastmittel begutachtet. Dabei wird ein Katheter durch ein Blutgefäß zum Ort der Untersuchung geschoben und mittels Bildgebung und Kontrastmittel erhält man einen Einblick in die Region des Krankheitsherdes, in meinem Fall die Halsschlagader, Carotis.
„Dr. Glickstain, erfreut“, mit der sanftmütigen Aura des Philanthropen und einem niederländischen Akzent ausgestattet, trat er ein, den krausen Rotschopf mit einem Gummi notdürftig zu einem Bun gebändigt,
„ja wen haben wir jetzt da!“ Sein Bart war stattlich und nähme er ihn ab, könnte vermutlich ein junges Gesicht zum Vorschein kommen. Er schnürte sich die Schürze vor dem Bauch, streifte eine Haube übers Haar und wusch sich sehr sorgfältig die Hände. „Wie geht es ihnen Herr Wein, haben sie gut geschlafen?“ wollte er wissen. Begleitet von einer müden Handbewegung schwindelte ich. Mit ihm also, würde ich die phantastische Reise durch meine Arterien machen.
Der Arzt erklärte die Routine:
„Ich lege einen Zugang in die große Beinarterie ihrer rechten Leiste, keine Angst Herr Wein, ich betäube das zuvor. Danach führen wir einen hauchdünnen Draht mit einem Schlauch in das Gefäß und schieben den Katheter zum Hals und bis zu ihrer Halsschlagader.“
Jetzt wurde mir heiß, ganz heiß! Den Vorgang hatte ich schon oft mit gleichem Verfahren bei Herzkranzuntersuchungen gesehen, aber nun sollte sich das alles in meinem Körper abspielen und das hatte dann doch für mich eine ganz andere Dimension.
„Seien sie unbesorgt mein Lieber, sie spüren es nicht, es wird vielleicht ein bisschen warm, wenn ich später das Kontrastmittel hinzugebe.“
Schwester Katja zu seiner Rechten war Dr. Glickstains Linke Hand und im Übrigen eine Frau, die ins O-kay -Aussehen wenig Arbeit steckt. Ihre Uniform: Grüner Kittel, Kloks, und Plastikhaube. An ihrer Qualifikation war kein Zweifel erlaubt, alles an ihr war Erfahrung, Routine und Kompromisslosigkeit. Nein, bei Schwester Katja ging man allenfalls als zweiter Sieger aus dem Rennen. Sie nahm meinen Puls kontrollierte den Blutdruck und rasierte mir mit kalter Hand robust und mit einem stumpfem Wegwerfrasierer die Leiste, pinselte Sterillium auf das Operationsgebiet und platzierte das OP-Lochtuch über dem Oberschenkel. Zum Schluss bedeckte sie mich sorgfältig und verteilte das medizinische Besteck auf der Ablage.
„Wia sinnd färchtisch Härr Dokter !“
Er zog die Spritze auf:
„Ein kleiner Pieecks, Herr Wein, locker, gaaanz locker, keine Angst!“
OK, es war wirklich nur ein Pieks.
„Einen Moment noch bis die Betäubung wirkt, gleich sind wir dann so weit“,…
… „So, jetzt lege ich den Schmetterlingszugang und jetzt ist die Nadel in der großen Bein Ader“.
Innerlich hoch illuminiert erwartete ich mein Ende!
Zur Schwester gewandt: „Kati, wissen sie was es zum Mittag gibt?“
„Pasta mit Pilze, glaub‘ isch“,
Mein Thorax geriet ins schüttern. Ich lag auf der Schlachtbank und meine Magensäfte schlugen Alarm. Ein dampfender Teller Farfalle mit köstlicher Salsa Crema di funghi waberte zwischen Auge und Nase.
„Wir sind jetzt im Bauchraum“, schwebend über mir flimmerte der Monitor und keine Pasta. Das schlängelnde Vordringen des Katheters, vollkommen geräuschlos und schmerzfrei, das Passieren der Aorta, „Wie schnell das geht!“ staunte ich, „hier, Herr Wein, das Herz“, und betrachtete zum ersten Mal im Leben das Zentralorgan, mein Herz, das natürlich nicht wie aus Lebkuchen daherkam.
„Gleich sind wir am Ort“,
Aus dem Aortenbogen ging es rechts ab in die Halsschlagader, an den Ort der der Läsion.
„Erschrecken sie nicht“, meinte der Arzt, „es könnte jetzt etwas warm werden“, spritzte er das flüssige Kontrastmittel. Im Gefäßlabyrinth meines Halses erschienen jetzt deutlich die blutführenden Arterien mit ihren diversen Verzweigungen und schlängelnden Verästlungen.
„Ich weiß nicht“, sagte er von einer kleinen Wolke des Bedauerns herab, „doch warten sie mal, da, man sieht hier etwas, nicht sehr deutlich, aber wir werden das in der Nachbetrachtung noch genauer untersuchen“.
Ich hatte etwas ähnliches wie einen Riss in der Halsschlagader erwartet, eine klaffende Stelle, die Dissektion, verursacht von der abgelösten Plaque. Ich musste etwas Ordnungen im Kopf schaffen, aber bei aller Liebe, da war für mich nichts Auffälliges zu sehen.
Der Arzt zog den Katheter.
„Fertig! Wie fühlen sie sich? War nicht schlimm, oder? Wir legen jetzt gleich den Druckverband.“
Er entfernte vorsichtig den Zugang und drückte mit einer Faust fest auf die Einstichstelle in meiner Leiste.
Katja: „Heb‘n se ma‘ ihren Poppo!“
In sportlicher Praxis raffte sie mein Klinikhemd, schob es mir über die Hüften und legte das Schatzkästlein frei. Mein Gefühlshaushalt geriet ins Schwimmen, hielt aber der anfliegenden Schamwelle stand. War ich nicht einer von vielen, den man hier im hellen Licht paradiesischer Nacktheit vor sich auf dem Tisch liegen sah? Klinische Routine ebnet alle Gefühle des Leiblichen, sie degradiert den Patienten zum behandelten Objekt. Alle Würde des höheren, aufrechten Wirbeltiers hat in so einem besonderen Fall zwangsläufig Pause.
Dr. Glickstain:
„Der Druckverband soll eine Blutung aus der Ader verhindern, stehen sie mindestens sechs Stunden nicht auf und bleiben sie möglichst bis morgen im Bett.“
Vier Hände umwickelten mit einem straffen Verband zunächst den Oberschenkel, die Hüften und schließlich, bis auf die kleine Stelle, meinen ganzen Unterleib. Unwillkürlich musste ich lachen. Er sah aus, als wäre ich in einen Hüfthalter reingewachsen, so wie beim Michelin-Mann.
„Bis Morgen, Herr Wein, dürfen sie diesen Panzer tragen“, schmunzelte der Arzt, „Entrüstung ist morgen auf der Station“, und vervollständigte am Side Bord mit ein paar Eingaben auf dem PC den vorläufigen Untersuchungsbericht.
„Schwester Katja wird sie unterhalten, bis sie von der Station abgeholt werden. Morgen besprechen wir dann das Ergebnis und die Maßnahmen,“ verabschiedete Dr. Glickstain.
Mir war flau im Magen, ich hatte Hunger!
Alles in Fluss