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Blumenberg

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Angestellt​

Ich war in Eile, um pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt in der Arbeitsagentur bei meiner Betreuerin zu sein. So heißt das heute. Vor ein paar Jahren wären es noch ein Amt und eine Sachbearbeiterin gewesen. Aber sei´s drum, eine Effizienzoffensive besteht eben zu nicht unwesentlichen Teilen aus einer bloßen Umetikettierung.

Als ich durch die Eingangstür in das Foyer eintrat, sprach mich wie aus heiterem Himmel ein älterer Mann an. Überrascht sah ich auf, als mich seine Stimme so unverhofft aus der Vorbereitung des anstehenden Gespräches riss. Ich hatte meinen eloquenten Auftritt vor der Betreuerin mehr als ein Dutzend Mal vor meinem geistigen Auge durchgespielt und war sicher, dass er überzeugend werden, mich in ihren Augen über den Pöbel, der ansonsten hier verkehrte, erheben musste. Er nannte mich beim Namen, was mir eigenartig erschien, hatte ich doch diesen Menschen noch nie zuvor im Leben erblickt.
„Ja bitte, Sie wünschen?“, entgegnete ich immer noch abwesend.
„Sie sind reichlich knapp zu einem so wichtigen Gespräch. Finden Sie nicht?“ Der Mann sah mir direkt ins Gesicht und erzwang sich regelrecht meine Aufmerksamkeit.
Ich sah ihn entgeistert an. Woher wusste er vom Zeitpunkt meines Termins? Warum maßte er sich überhaupt an, mich hier so einfach anzusprechen und mir vorzuwerfen, knapp bei meinem Termin zu sein? Ich wollte schon auffahren, als mir plötzlich ein Gedanke in den Kopf schoss. Wenn ich ihn nun zurechtwiese und er sich dann als ein Mitarbeiter des Amtes, gar als ein neuer Betreuer herausstellen sollte. Sonst konnte er ja nicht wissen, dass und wann ich hier ins Amt bestellt war.
„Nun? Schließlich habe ich Sie etwas gefragt“, unterbrach er meine Überlegungen.
„Ich … Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich bereits eingehend auf das kommende Gespräch vorbereitet, daher bin ich im eigentlichen Sinne nicht zu spät. Es sind noch fünf Minuten bis zu meinem Termin“, entgegnete ich, nicht unzufrieden über die schlagfertige und doch inhaltlich korrekte Aussage.
Er sah auf die Uhr und schien meine Angaben zu prüfen. „Sie haben Recht, aber es ist ohnehin belanglos, da Sie Ihren Termin nicht mehr wahrnehmen werden. Es wurde bereits alles geregelt. Sie fangen unverzüglich an.“
Wieder spürte ich, wie mir ein Schauer über den Rücken lief. „Was soll das heißen? Wo fange ich an?“, stieß ich um Beherrschung ringend hervor.
„Sie werden eine äußerst wichtige Maschine bedienen. Mehr brauchen Sie im Moment noch nicht zu wissen“, entgegnete er, ohne eine Regung erkennen zu lassen.
Dieser sonderbare Mann schien mich auf den Arm nehmen zu wollen. Seine kryptischen Andeutungen ergaben für mich kaum einen Sinn und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Zeit drängte, wollte ich nicht tatsächlich zu spät bei meiner Betreuerin erscheinen. Ich entschloss mich zu handeln.
„Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe einen Termin. Ich bin sicher, dass Sie mich mit jemandem verwechseln, der zufällig denselben Namen und einen Termin zur gleichen Zeit hat.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wollte ich meinen Weg zum Aufzug fortsetzen. Zu meiner Überraschung machte der Mann einen schnellen Schritt nach links, versperrte mir den Weg und nötigte mich, mit nach wie vor ausdrucksloser Miene, zum Anhalten.
„Was erlauben Sie sich!“ fuhr ich auf, endgültig außer Fasson geraten.
„Ich sagte doch bereits, Ihr Gesrpäch wurde abgesagt. Es besteht keine Notwendigkeit, dass Sie das Büro von Frau Maschke aufsuchen.“
„Oh, diese Notwendigkeit besteht unbedingt. Wenn mein Termin tatsächlich abgesagt worden sein sollte, habe ich wohl das Recht, das von einer offiziellen Mitarbeiterin dieser Einrichtung zu erfahren“, erwiderte ich und merkte dass ich langsam wütend wurde. Wie sich dieser Mann aufführte, seine auf reine Sachlichkeit beschränkte Sprache und Kühle, all das weckte eine mir rational unerklärliche Abneigung gegen ihn.
„Ich sagte Ihnen bereits, dass das nicht notwendig ist. Außerdem ist es Zeit, aufzubrechen. Ich würde eine weitere Verspätung nur sehr ungern in Kauf nehmen. Um ehrlich zu sein, scheint mir eine weitere Verzögerung ihres Dienstantritts genauer betrachtet ausgeschlossen“, erwiderte er, ohne dass seine Stimme auch nur bei einer Silbe aus dem geschäftsmäßig neutralen Ton, der seiner Rede zu eigen war, ausbrach.
Panik begann langsam in mir aufzusteigen und ich sah ihn mit großen Augen an, nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen. Wir standen uns vielleicht eine halbe Minute gegenüber, während ich hilflos nach einem Weg fahndete, wie ich mich diesem sonderbaren Mann gegenüber verhalten, wie ich mit ihm in ein Verhältnis treten sollte. Ich fühlte mich seiner geschäftsmäßigen Bestimmtheit vollkommen ausgeliefert, während alles in mir danach schrie, mich gegen eben diese Fremdbestimmung aufzulehnen. Hatte ich mich bisher immer als selbstbestimmtes Wesen bürgerlicher Herkunft empfunden, spürte ich mit einem Mal, wie dieses Selbstverständnis brüchig zu werden begann. Es war, das wurde mir schlagartiges bewusst, kein plötzliches Zerbrechen. Die feinen Risse hatten angefangen sich zu bilden, als ich entlassen wurde und meine Arbeitslosigkeit begann. Die Mühlen der Bürokratie, das Aufenthaltsgebot, das Bewerbungsgebot, die regelmäßigen Visiten und Termine, die Kontooffenlegung vertieften sie ebenso wie das ständige Hinterfragen der eigenen Person, deren wesentlich durch Arbeit determiniertes Selbstverständnis mit dem Satz „Ihre Dienste werden in unserem Unternehmen nicht länger benötigt“ gründlich infrage gestellt war. Zeit genug, darüber nachzudenken, hatte ich als Arbeitsloser ja ohnehin.
Was war ich doch für ein Narr gewesen, tatsächlich anzunehmen, ich unterschiede mich in irgendeiner Hinsicht von den traurigen Gestalten, über die ich vorgehabt hatte, mich in einer Art personaler Allmachtsphantasie zu erheben. Aber noch stand schließlich das Urteil meiner Beraterin, der Richterin über mein Schicksal, aus. Noch war ich entschlossen zum Widerstand. Ohne meinem Gegenüber in die Augen zu sehen - ich schämte mich wohl meines Vorhabens -, machte ich einen plötzlichen Satz nach links und rannte an dem sonderbaren Mann vorbei auf die Treppe zu. Noch waren es ungefähr zwei Minuten bis zu meinem Termin, noch konnte ich es schaffen, konnte alles in die Bahnen lenken, die ich mir wieder und wieder ausgemalt hatte.
Ich hastete hinauf in den zweiten Stock, bog, ohne langsamer zu werden, in den langen Gang ein, an dessen Ende (linke Seite) das Ziel meiner Flucht lag. Ein kurzes Innehalten (ich bin kein guter Läufer und war außer Atem) und ein Blick auf die Uhr verrieten mir, dass ich es rechtzeitig schaffen würde und ein triumphierendes Gefühl überkam mich. Ich ordnete meinen Anzug, straffte mich und klopfte an die Tür.

Es kam keine Antwort, nichts deutete darauf hin, dass mein Klopfen auf der anderen Seite registriert worden wäre. Ich ließ noch eine kurze Zeitspanne verstreichen, bevor ich erneut meine Hand hob. Sollte die Tür so dick sein, dass ich die ersehnten Worte nicht verstand, fragte ich mich, als mein erneutes, diesmal lauteres Klopfen unbeantwortet blieb. Ich drückte die Klinke nach unten und wollte die Tür öffnen, stieß aber auf einen unerwarteten Widerstand. Sie war verschlossen. Schweiß brach mir aus, ob vom Laufen oder aus Furcht, ich wusste es nicht zu sagen. Gleichzeitig überkam mich die Wut. Ich rüttelte an der Tür. Es fehlte nicht viel und ich hätte mich mit der Schulter dagegen geworfen, um dieser so entsetzlich hilflosen Wut einen Ableiter zu verschaffen. Wie zum Hohn schlug in diesem Moment der Gong einer Uhr, die mir verkündete, dass die Zeit abgelaufen war. Regungslos verharrte ich noch einen Moment vor der Tür, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und schlich geschlagen den Gang zurück zum Aufzug, während mir die hölzernen Zwillingsschwestern der Tür, die mich abgewiesen hatte, rechts und links in perfekter Ausrichtung Spalier standen.
Als der Aufzug im Erdgeschoss seine Türen öffnete und mich entließ, stand der sonderbare Mann immer noch unverändert an dem Platz in der Vorhalle. Neben ihm standn nun allerdings das Ziel meiner Flucht und sah mich durch die Gläser einer Brille hindurch an. In dem Moment, als ich beide sah, schämte ich mich für meine lächerliche Flucht ein paar Minuten zuvor. Von meinem schwungvollen Schritt war nichts mehr übrig, als ich ihnen entgegenlief, um meinen Urteilsspruch zu empfangen.
„Guten Tag, Herr Müller“, empfing mich meine Betreuerin kühl und ich glaubte einen leichten Tadel in ihrer Stimme zu hören. „Mir wurde berichtet, dass Sie plötzlich Reißaus genommen haben, obwohl Ihnen versichert worden war, dass Ihr Gespräch mit mir bereits abgesagt wurde. Sie können von Glück sagen, dass Sie so vernünftig waren, zurückzukommen. Das gibt uns die Möglichkeit, in Ihrer Angelegenheit doch noch zu einem guten Ende zu gelangen, obwohl ich gezwungen bin, einen Aktenvermerk zu machen.“
Ich sah sie an und muss dabei vollkommen verständnislos gewirkt haben, denn sie ergänzte, als ob sie es mit einem unverständigen Kind zu tun habe: „Vielleicht sollten sie sich zunächst einmal für Ihr Verhalten entschuldigen und sich, da der Herr so großzügig ist, weiterhin auf Ihre Verwendung zu bestehen, bei ihm bedanken.“
Bevor ich die Möglichkeit hatte, der Aufforderung nachzukommen oder zu der ganzen Angelegenheit Stellung zu nehmen, winkte er ab. „Eine Entschuldigung oder ein Dank sind unnötig. Herr Müller hat eine Maschine zu bedienen. Jede weitere Verzögerung hält ihn nur davon ab“, sagte er zu meiner Betreuerin gewandt, ohne mich weiter zu beachten. Diese nickte heftig.
„Sie sehen es, Herr Müller, unsere Agentur bringt sogar einen schwierigen Fall wie Ihren zu einem guten Abschluss. Ich freue mich, dass wir Ihnen zu einer Anschlussverwendung verhelfen konnten, und hoffe, Sie werden diese Chance für einen Wiedereinstieg in die produktive Gesellschaft nutzen.“ Sie streckte mir die Hand entgegen. Ich nahm sie kraftlos, unfähig, mich weiter zu wehren. „Leben Sie wohl, Herr Müller.“ Sie gab auch dem ominösen Herrn die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung des Aufzugs davon.

Ich wurde aus dem Amt geleitet und zu einem Wagen geführt. Ohne aufzubegehren, stieg ich ein und der Wagen fuhr, kaum hatte ich die Tür geschlossen, los, um mich zu meiner neuen Stelle zu bringen.
Nach etwa zehn Minuten kamen wir an unserem Zielort, einer unscheinbar wirkenden Industriehalle, an. „Hier werden Sie tätig sein. Sie werden sehen, unser Betrieb ist absolut auf dem neuesten Stand der Technik.“ Er führte mich durch den Eingang und eine Schleuse hindurch in einen großen Raum, der eher einer wissenschaftlichen Einrichtung ähnelte als dem, was ich mir unter einer Industriestätte vorgestellt hatte. Der ganze Raum war in einem blendenden Weiß gestrichen, den größten Teil nahmen mehrere riesige Maschinen ein, die durch ein Gewirr von Kabeln und Laufbändern miteinander verbunden waren. Kaum hatten wir den Raum betreten, erwachte die Anlage und nahm ihren Betrieb auf. Was genau die einzelnen Abschnitte dieser gigantischen Produktionsstraße für eine Funktion hatten, blieb mir verschlossen, da die Tätigkeit, die die Maschinen ausübten, sich ausschließlich in ihrem Inneren abspielte. Dass sie aber tätig sein mussten, bewies das in unzähligen Stadien der Fertigstellung befindliche Produkt, das auf den Produktionsstraßen zwischen den Maschinen hin- und herlief, in seiner Bewegung einer festen, mir aber unbekannten Logik folgend. Trotz der regen Betriebsamkeit herrschte eine beunruhigende Stille. Ich sah mich mit großen Augen um, vermochte aber in der ganzen Halle nicht einen einzigen anderen Menschen auszumachen.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, sagte der Herr lächelnd: „Der ganze Betrieb ist völlig automatisiert, nicht nur die Produktion, die Sie hier beobachten können. Auch die Wartung und Kontrolle werden von einem zentralen Rechner aus gesteuert. Es wird Sie vielleicht überraschen, aber Sie sind unser einziger Angestellter aus Fleisch und Blut.“ Er sah mich eindringlich an. „Aber gerade deshalb kommt Ihnen eine Aufgabe zu, die für den gesamten Ablauf von entscheidender Bedeutung ist, auch wenn Ihnen die Ausführung vielleicht trivial erscheinen mag. Kommen Sie! Ich führe Sie an Ihren Arbeitsplatz.“

Ich folgte ihm weiter durch die Halle und staunte über die lautlose Geschäftigkeit um mich herum. Am anderen Ende angekommen durchschritten wir eine Tür, eine weitere Schleuse und betraten einen zweiten, kaum kleiner wirkenden Raum, der im Gegensatz zu dem vorigen geradezu leer wirkte. Den Raum durchmaß der gesamten Länge nach ein Fließband, auf dem in regelmäßigen Abständen das fertige Produkt, ein kleiner weißer Kasten mit abgerundeten Ecken und mir gänzlich unbekannter Funktion, lag und sich gleichmäßig auf einen Ausgang am anderen Ende des Raumes zubewegte. Genau in der Mitte des Raumes stand neben dem Fließband ein Pult, vor dem ein Bürostuhl aufgestellt war.
„Ihr Arbeitsplatz“, erklärte mir der Herr und wies auf den Stuhl. „Setzen Sie sich! Ich werde Sie mit Ihrer Aufgabe vertraut machen. Dabei ist es von größter Wichtigkeit, dass Sie mir genau zuhören. Ihr Beitrag, ich kann es nur wiederholen, ist für das Funktionieren der gesamten Produktion von entscheidender Bedeutung. Nun aber endlich zu Ihrer Aufgabe: In regelmäßigen Abständen werden Sie einen Signalton hören. Wenn dieser ertönt - und nur dann -, drücken Sie den Knopf auf Ihrem Pult, der aufleuchtet, halten ihn ungefähr drei Sekunden gedrückt, dann lassen Sie ihn los und warten auf den nächsten Signalton. Haben Sie das verstanden?“
Ich nickte. „Mir ist aber nicht recht klar, warum diese Tätigkeit nicht auch von einer Maschine gesteuert werden kann? Das scheint mir irgendwie unlogisch“, bemühte ich mich zu verstehen, warum ich überhaupt an diesem Ort war.
„Das ist bedauerlicherweise als Teil unserer technischen Ausstattung einem strengen Betriebsgeheimnis unterworfen. Sie verstehen sicher, dass wir die sensiblen technischen Daten unserer Produktionsmethode, soweit sie nicht für die Ausübung Ihrer Tätigkeit von Belang sind, nicht mit Ihnen teilen können. Was Sie interessieren sollte, ist, dass Ihre Anwesenheit hier aus unserer Sicht eine Notwendigkeit ist und Ihnen zu Lohn und Brot verhilft“, tadelte er mich. „Ihre Schicht beginnt pünktlich um 9:00 Uhr und nicht einen Augenblick später und endet um 18:00 Uhr. Um 12:00 haben Sie eine Stunde Mittagspause.“ Er hielt mir einem Stift und einen dünnen Vertrag hin, der auf der letzten Seite aufgeschlagen war. „Unterzeichnen Sie nun bitte hier“, forderte er mich auf. Ich unterzeichnete. Warum, konnte ich nicht sagen, in diesem Augenblick schien es mir das einzig Mögliche zu sein.
Mein Gegenüber blickte auf seine Uhr. „Wir haben bereits 9:30 Uhr. Da die entstandene Verspätung durch Sie verschuldet ist, endet Ihre Schicht heute folglich um 18:30 Uhr. Alles Weitere entnehmen Sie bitte dem Arbeitsvertrag, den wir ihnen zusenden. Ich muss mich nun verabschieden und wünsche Ihnen einen guten Start in unserem Unternehmen.“
Er ließ mir keine Zeit zu einer Antwort, sondern nahm mir Stift und Vertrag aus der Hand, drehte sich um und war kurze Zeit später durch die Tür verschwunden, durch die wir den Raum zuvor betreten hatten.

Ich saß vor dem Pult und fühlte mich vollkommen durcheinander. Ich war schlicht die gänzlich falsche Person. Ein anderer Max Müller musste gemeint gewesen sein. Ich wollte aufstehen und ihm nachgehen. Ihm sagen, dass es sich hier doch nur um irgendeine perverse Form von Missverständnis handeln konnte, ja, handeln musste. Aber hatte ich nicht gerade einen Vertrag unterschrieben? Mit meiner eigenen Unterschrift klargestellt, dass ich der richtige war. Ich kam mir in diesem Augenblick wie ein Betrüger vor. Was, wenn sich der richtige, der Max Müller, für den diese Arbeit bestimmt war, meldete und man mich zur Rede stellte? Sollte ich dann sagen „Ich bin Max Müller, eigentlich der falsche, aber durch meine Unterschrift habe ich vorgegeben, der richtige zu sein.“? Verwechslungen passierten, aber diese dann auszunutzen …? Hatte ich wirklich alles getan, um klarzustellen, dass ich der falsche bin? Sollte ich einen letzten Versuch wagen, es jetzt, nach geleisteter Unterschrift, noch klarstellen oder war es dafür schon zu spät?
Es schien mir unmöglich, hierzubleiben, vielleicht sollte ich einfach sagen, ich hätte es mir anders überlegt und kein Interesse. Aber was wäre, wenn sich dann herausstellen sollte, dass ich doch der Richtige wäre. Dann wäre ich einer, der die ihm gebotene Chance ausgeschlagen hatte, der widerspenstig war und sich gegen die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt sträubte. Meine Betreuerin hatte mich schließlich in der Sache bereits vermerkt und ein weiterer Vermerk würde mich wohl endgültig zu einem Unwilligen abstempeln, zu jemandem, dem nur mit Sanktionen beizukommen wäre. Es war einfach vertrackt.
In diesem Augenblick riss mich ein lauter Pfeifton aus meinen Gedanken und einer der Knöpfe begann in einem wilden Stakkato zu blinken. Wie automatisch drückte ich den Knopf und das Pfeifen endete. Ich zählte innerlich bis drei und ließ los.
Vor mir rauschten auf der Produktionsstraße die kleinen weißen Quadrate vorbei. Immer in gleichem Abstand und ohne Unterlass kamen sie zur einen Seite des Raumes herein und verschwanden auf der anderen Seite wieder. Waren genug Quadrate an mir vorbeigezogen, ertönte das Pfeifen und ich drückte auf den Knopf, der mich mit heftigem Blinken dazu aufforderte.
Wieder und wieder und wieder.
 

Blumenberg

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Ich war in Eile, um pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt in der Arbeitsagentur bei meiner Betreuerin zu sein. So heißt das heute. Vor ein paar Jahren wären es noch ein Amt und eine Sachbearbeiterin gewesen. Aber sei´s drum, eine Effizienzoffensive besteht eben zu nicht unwesentlichen Teilen aus einer bloßen Umetikettierung.

Als ich durch die Eingangstür in das Foyer eintrat, sprach mich wie aus heiterem Himmel ein älterer Mann an. Überrascht sah ich auf, als mich seine Stimme so unverhofft aus der Vorbereitung des anstehenden Gespräches riss. Ich hatte meinen eloquenten Auftritt vor der Betreuerin mehr als ein Dutzend Mal vor meinem geistigen Auge durchgespielt und war sicher, dass er überzeugend werden, mich in ihren Augen über den Pöbel, der ansonsten hier verkehrte, erheben musste. Er nannte mich beim Namen, was mir eigenartig erschien, hatte ich doch diesen Menschen noch nie zuvor im Leben erblickt.
„Ja bitte, Sie wünschen?“, entgegnete ich immer noch abwesend.
„Sie sind reichlich knapp zu einem so wichtigen Gespräch. Finden Sie nicht?“ Der Mann sah mir direkt ins Gesicht und erzwang sich regelrecht meine Aufmerksamkeit.
Ich sah ihn entgeistert an. Woher wusste er vom Zeitpunkt meines Termins? Warum maßte er sich überhaupt an, mich hier so einfach anzusprechen und mir vorzuwerfen, knapp bei meinem Termin zu sein? Ich wollte schon auffahren, als mir plötzlich ein Gedanke in den Kopf schoss. Wenn ich ihn nun zurechtwiese und er sich dann als ein Mitarbeiter des Amtes, gar als ein neuer Betreuer herausstellen sollte. Sonst konnte er ja nicht wissen, dass und wann ich hier ins Amt bestellt war.
„Nun? Schließlich habe ich Sie etwas gefragt“, unterbrach er meine Überlegungen.
„Ich … Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich bereits eingehend auf das kommende Gespräch vorbereitet, daher bin ich im eigentlichen Sinne nicht zu spät. Es sind noch fünf Minuten bis zu meinem Termin“, entgegnete ich, nicht unzufrieden über die schlagfertige und doch inhaltlich korrekte Aussage.
Er sah auf die Uhr und schien meine Angaben zu prüfen. „Sie haben Recht, aber es ist ohnehin belanglos, da Sie Ihren Termin nicht mehr wahrnehmen werden. Es wurde bereits alles geregelt. Sie fangen unverzüglich an.“
Wieder spürte ich, wie mir ein Schauer über den Rücken lief. „Was soll das heißen? Wo fange ich an?“, stieß ich um Beherrschung ringend hervor.
„Sie werden eine äußerst wichtige Maschine bedienen. Mehr brauchen Sie im Moment noch nicht zu wissen“, entgegnete er, ohne eine Regung erkennen zu lassen.
Dieser sonderbare Mann schien mich auf den Arm nehmen zu wollen. Seine kryptischen Andeutungen ergaben für mich kaum einen Sinn und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Zeit drängte, wollte ich nicht tatsächlich zu spät bei meiner Betreuerin erscheinen. Ich entschloss mich zu handeln.
„Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe einen Termin. Ich bin sicher, dass Sie mich mit jemandem verwechseln, der zufällig denselben Namen und einen Termin zur gleichen Zeit hat.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wollte ich meinen Weg zum Aufzug fortsetzen. Zu meiner Überraschung machte der Mann einen schnellen Schritt nach links, versperrte mir den Weg und nötigte mich, mit nach wie vor ausdrucksloser Miene, zum Anhalten.
„Was erlauben Sie sich!“ fuhr ich auf, endgültig außer Fasson geraten.
„Ich sagte doch bereits, Ihr Gesrpäch wurde abgesagt. Es besteht keine Notwendigkeit, dass Sie das Büro von Frau Maschke aufsuchen.“
„Oh, diese Notwendigkeit besteht unbedingt. Wenn mein Termin tatsächlich abgesagt worden sein sollte, habe ich wohl das Recht, das von einer offiziellen Mitarbeiterin dieser Einrichtung zu erfahren“, erwiderte ich und merkte dass ich langsam wütend wurde. Wie sich dieser Mann aufführte, seine auf reine Sachlichkeit beschränkte Sprache und Kühle, all das weckte eine mir rational unerklärliche Abneigung gegen ihn.
„Ich sagte Ihnen bereits, dass das nicht notwendig ist. Außerdem ist es Zeit, aufzubrechen. Ich würde eine weitere Verspätung nur sehr ungern in Kauf nehmen. Um ehrlich zu sein, scheint mir eine weitere Verzögerung ihres Dienstantritts genauer betrachtet ausgeschlossen“, erwiderte er, ohne dass seine Stimme auch nur bei einer Silbe aus dem geschäftsmäßig neutralen Ton, der seiner Rede zu eigen war, ausbrach.
Panik begann langsam in mir aufzusteigen und ich sah ihn mit großen Augen an, nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen. Wir standen uns vielleicht eine halbe Minute gegenüber, während ich hilflos nach einem Weg fahndete, wie ich mich diesem sonderbaren Mann gegenüber verhalten, wie ich mit ihm in ein Verhältnis treten sollte. Ich fühlte mich seiner geschäftsmäßigen Bestimmtheit vollkommen ausgeliefert, während alles in mir danach schrie, mich gegen eben diese Fremdbestimmung aufzulehnen. Hatte ich mich bisher immer als selbstbestimmtes Wesen bürgerlicher Herkunft empfunden, spürte ich mit einem Mal, wie dieses Selbstverständnis brüchig zu werden begann. Es war, das wurde mir schlagartiges bewusst, kein plötzliches Zerbrechen. Die feinen Risse hatten angefangen sich zu bilden, als ich entlassen wurde und meine Arbeitslosigkeit begann. Die Mühlen der Bürokratie, das Aufenthaltsgebot, das Bewerbungsgebot, die regelmäßigen Visiten und Termine, die Kontooffenlegung vertieften sie ebenso wie das ständige Hinterfragen der eigenen Person, deren wesentlich durch Arbeit determiniertes Selbstverständnis mit dem Satz „Ihre Dienste werden in unserem Unternehmen nicht länger benötigt“ gründlich infrage gestellt war. Zeit genug, darüber nachzudenken, hatte ich als Arbeitsloser ja ohnehin.
Was war ich doch für ein Narr gewesen, tatsächlich anzunehmen, ich unterschiede mich in irgendeiner Hinsicht von den traurigen Gestalten, über die ich vorgehabt hatte, mich in einer Art personaler Allmachtsphantasie zu erheben. Aber noch stand schließlich das Urteil meiner Beraterin, der Richterin über mein Schicksal, aus. Noch war ich entschlossen zum Widerstand. Ohne meinem Gegenüber in die Augen zu sehen - ich schämte mich wohl meines Vorhabens -, machte ich einen plötzlichen Satz nach links und rannte an dem sonderbaren Mann vorbei auf die Treppe zu. Noch waren es ungefähr zwei Minuten bis zu meinem Termin, noch konnte ich es schaffen, konnte alles in die Bahnen lenken, die ich mir wieder und wieder ausgemalt hatte.
Ich hastete hinauf in den zweiten Stock, bog, ohne langsamer zu werden, in den langen Gang ein, an dessen Ende (linke Seite) das Büro meiner Betreuerin lag. Ein kurzes Innehalten (ich bin kein guter Läufer und war außer Atem) und ein Blick auf die Uhr verrieten mir, dass ich es rechtzeitig schaffen würde und ein triumphierendes Gefühl überkam mich. Ich ordnete meinen Anzug, straffte mich und klopfte an die Tür.

Es kam keine Antwort, nichts deutete darauf hin, dass mein Klopfen auf der anderen Seite registriert worden wäre. Ich ließ noch eine kurze Zeitspanne verstreichen, bevor ich erneut meine Hand hob. Sollte die Tür so dick sein, dass ich die ersehnten Worte nicht verstand, fragte ich mich, als mein erneutes, diesmal lauteres Klopfen unbeantwortet blieb. Ich drückte die Klinke nach unten und wollte die Tür öffnen, stieß aber auf einen unerwarteten Widerstand. Sie war verschlossen. Schweiß brach mir aus, ob vom Laufen oder aus Furcht, ich wusste es nicht zu sagen. Gleichzeitig überkam mich die Wut. Ich rüttelte an der Tür. Es fehlte nicht viel und ich hätte mich mit der Schulter dagegen geworfen, um dieser so entsetzlich hilflosen Wut einen Ableiter zu verschaffen. Wie zum Hohn schlug in diesem Moment der Gong einer Uhr, die mir verkündete, dass die Zeit abgelaufen war. Regungslos verharrte ich noch einen Moment vor der Tür, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und schlich geschlagen den Gang zurück zum Aufzug, während mir die hölzernen Zwillingsschwestern der Tür, die mich abgewiesen hatte, rechts und links in perfekter Ausrichtung Spalier standen.
Als der Aufzug im Erdgeschoss seine Türen öffnete und mich entließ, stand der sonderbare Mann immer noch unverändert an dem Platz in der Vorhalle. Neben ihm standn nun allerdings das Ziel meiner Flucht und sah mich durch die Gläser einer Brille hindurch an. In dem Moment, als ich beide sah, schämte ich mich für meine lächerliche Flucht ein paar Minuten zuvor. Von meinem schwungvollen Schritt war nichts mehr übrig, als ich ihnen entgegenlief, um meinen Urteilsspruch zu empfangen.
„Guten Tag, Herr Müller“, empfing mich meine Betreuerin kühl und ich glaubte einen leichten Tadel in ihrer Stimme zu hören. „Mir wurde berichtet, dass Sie plötzlich Reißaus genommen haben, obwohl Ihnen versichert worden war, dass Ihr Gespräch mit mir bereits abgesagt wurde. Sie können von Glück sagen, dass Sie so vernünftig waren, zurückzukommen. Das gibt uns die Möglichkeit, in Ihrer Angelegenheit doch noch zu einem guten Ende zu gelangen, obwohl ich gezwungen bin, einen Aktenvermerk zu machen.“
Ich sah sie an und muss dabei vollkommen verständnislos gewirkt haben, denn sie ergänzte, als ob sie es mit einem unverständigen Kind zu tun habe: „Vielleicht sollten sie sich zunächst einmal für Ihr Verhalten entschuldigen und sich, da der Herr so großzügig ist, weiterhin auf Ihre Verwendung zu bestehen, bei ihm bedanken.“
Bevor ich die Möglichkeit hatte, der Aufforderung nachzukommen oder zu der ganzen Angelegenheit Stellung zu nehmen, winkte er ab. „Eine Entschuldigung oder ein Dank sind unnötig. Herr Müller hat eine Maschine zu bedienen. Jede weitere Verzögerung hält ihn nur davon ab“, sagte er zu meiner Betreuerin gewandt, ohne mich weiter zu beachten. Diese nickte heftig.
„Sie sehen es, Herr Müller, unsere Agentur bringt sogar einen schwierigen Fall wie Ihren zu einem guten Abschluss. Ich freue mich, dass wir Ihnen zu einer Anschlussverwendung verhelfen konnten, und hoffe, Sie werden diese Chance für einen Wiedereinstieg in die produktive Gesellschaft nutzen.“ Sie streckte mir die Hand entgegen. Ich nahm sie kraftlos, unfähig, mich weiter zu wehren. „Leben Sie wohl, Herr Müller.“ Sie gab auch dem ominösen Herrn die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung des Aufzugs davon.

Ich wurde aus dem Amt geleitet und zu einem Wagen geführt. Ohne aufzubegehren, stieg ich ein und der Wagen fuhr, kaum hatte ich die Tür geschlossen, los, um mich zu meiner neuen Stelle zu bringen.
Nach etwa zehn Minuten kamen wir an unserem Zielort, einer unscheinbar wirkenden Industriehalle, an. „Hier werden Sie tätig sein. Sie werden sehen, unser Betrieb ist absolut auf dem neuesten Stand der Technik.“ Er führte mich durch den Eingang und eine Schleuse hindurch in einen großen Raum, der eher einer wissenschaftlichen Einrichtung ähnelte als dem, was ich mir unter einer Industriestätte vorgestellt hatte. Der ganze Raum war in einem blendenden Weiß gestrichen, den größten Teil nahmen mehrere riesige Maschinen ein, die durch ein Gewirr von Kabeln und Laufbändern miteinander verbunden waren. Kaum hatten wir den Raum betreten, erwachte die Anlage und nahm ihren Betrieb auf. Was genau die einzelnen Abschnitte dieser gigantischen Produktionsstraße für eine Funktion hatten, blieb mir verschlossen, da die Tätigkeit, die die Maschinen ausübten, sich ausschließlich in ihrem Inneren abspielte. Dass sie aber tätig sein mussten, bewies das in unzähligen Stadien der Fertigstellung befindliche Produkt, das auf den Produktionsstraßen zwischen den Maschinen hin- und herlief, in seiner Bewegung einer festen, mir aber unbekannten Logik folgend. Trotz der regen Betriebsamkeit herrschte eine beunruhigende Stille. Ich sah mich mit großen Augen um, vermochte aber in der ganzen Halle nicht einen einzigen anderen Menschen auszumachen.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, sagte der Herr lächelnd: „Der ganze Betrieb ist völlig automatisiert, nicht nur die Produktion, die Sie hier beobachten können. Auch die Wartung und Kontrolle werden von einem zentralen Rechner aus gesteuert. Es wird Sie vielleicht überraschen, aber Sie sind unser einziger Angestellter aus Fleisch und Blut.“ Er sah mich eindringlich an. „Aber gerade deshalb kommt Ihnen eine Aufgabe zu, die für den gesamten Ablauf von entscheidender Bedeutung ist, auch wenn Ihnen die Ausführung vielleicht trivial erscheinen mag. Kommen Sie! Ich führe Sie an Ihren Arbeitsplatz.“

Ich folgte ihm weiter durch die Halle und staunte über die lautlose Geschäftigkeit um mich herum. Am anderen Ende angekommen durchschritten wir eine Tür, eine weitere Schleuse und betraten einen zweiten, kaum kleiner wirkenden Raum, der im Gegensatz zu dem vorigen geradezu leer wirkte. Den Raum durchmaß der gesamten Länge nach ein Fließband, auf dem in regelmäßigen Abständen das fertige Produkt, ein kleiner weißer Kasten mit abgerundeten Ecken und mir gänzlich unbekannter Funktion, lag und sich gleichmäßig auf einen Ausgang am anderen Ende des Raumes zubewegte. Genau in der Mitte des Raumes stand neben dem Fließband ein Pult, vor dem ein Bürostuhl aufgestellt war.
„Ihr Arbeitsplatz“, erklärte mir der Herr und wies auf den Stuhl. „Setzen Sie sich! Ich werde Sie mit Ihrer Aufgabe vertraut machen. Dabei ist es von größter Wichtigkeit, dass Sie mir genau zuhören. Ihr Beitrag, ich kann es nur wiederholen, ist für das Funktionieren der gesamten Produktion von entscheidender Bedeutung. Nun aber endlich zu Ihrer Aufgabe: In regelmäßigen Abständen werden Sie einen Signalton hören. Wenn dieser ertönt - und nur dann -, drücken Sie den Knopf auf Ihrem Pult, der aufleuchtet, halten ihn ungefähr drei Sekunden gedrückt, dann lassen Sie ihn los und warten auf den nächsten Signalton. Haben Sie das verstanden?“
Ich nickte. „Mir ist aber nicht recht klar, warum diese Tätigkeit nicht auch von einer Maschine gesteuert werden kann? Das scheint mir irgendwie unlogisch“, bemühte ich mich zu verstehen, warum ich überhaupt an diesem Ort war.
„Das ist bedauerlicherweise als Teil unserer technischen Ausstattung einem strengen Betriebsgeheimnis unterworfen. Sie verstehen sicher, dass wir die sensiblen technischen Daten unserer Produktionsmethode, soweit sie nicht für die Ausübung Ihrer Tätigkeit von Belang sind, nicht mit Ihnen teilen können. Was Sie interessieren sollte, ist, dass Ihre Anwesenheit hier aus unserer Sicht eine Notwendigkeit ist und Ihnen zu Lohn und Brot verhilft“, tadelte er mich. „Ihre Schicht beginnt pünktlich um 9:00 Uhr und nicht einen Augenblick später und endet um 18:00 Uhr. Um 12:00 haben Sie eine Stunde Mittagspause.“ Er hielt mir einem Stift und einen dünnen Vertrag hin, der auf der letzten Seite aufgeschlagen war. „Unterzeichnen Sie nun bitte hier“, forderte er mich auf. Ich unterzeichnete. Warum, konnte ich nicht sagen, in diesem Augenblick schien es mir das einzig Mögliche zu sein.
Mein Gegenüber blickte auf seine Uhr. „Wir haben bereits 9:30 Uhr. Da die entstandene Verspätung durch Sie verschuldet ist, endet Ihre Schicht heute folglich um 18:30 Uhr. Alles Weitere entnehmen Sie bitte dem Arbeitsvertrag, den wir ihnen zusenden. Ich muss mich nun verabschieden und wünsche Ihnen einen guten Start in unserem Unternehmen.“
Er ließ mir keine Zeit zu einer Antwort, sondern nahm mir Stift und Vertrag aus der Hand, drehte sich um und war kurze Zeit später durch die Tür verschwunden, durch die wir den Raum zuvor betreten hatten.

Ich saß vor dem Pult und fühlte mich vollkommen durcheinander. Ich war schlicht die gänzlich falsche Person. Ein anderer Max Müller musste gemeint gewesen sein. Ich wollte aufstehen und ihm nachgehen. Ihm sagen, dass es sich hier doch nur um irgendeine perverse Form von Missverständnis handeln konnte, ja, handeln musste. Aber hatte ich nicht gerade einen Vertrag unterschrieben? Mit meiner eigenen Unterschrift klargestellt, dass ich der richtige war. Ich kam mir in diesem Augenblick wie ein Betrüger vor. Was, wenn sich der richtige, der Max Müller, für den diese Arbeit bestimmt war, meldete und man mich zur Rede stellte? Sollte ich dann sagen „Ich bin Max Müller, eigentlich der falsche, aber durch meine Unterschrift habe ich vorgegeben, der richtige zu sein.“? Verwechslungen passierten, aber diese dann auszunutzen …? Hatte ich wirklich alles getan, um klarzustellen, dass ich der falsche bin? Sollte ich einen letzten Versuch wagen, es jetzt, nach geleisteter Unterschrift, noch klarstellen oder war es dafür schon zu spät?
Es schien mir unmöglich, hierzubleiben, vielleicht sollte ich einfach sagen, ich hätte es mir anders überlegt und kein Interesse. Aber was wäre, wenn sich dann herausstellen sollte, dass ich doch der Richtige wäre. Dann wäre ich einer, der die ihm gebotene Chance ausgeschlagen hatte, der widerspenstig war und sich gegen die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt sträubte. Meine Betreuerin hatte mich schließlich in der Sache bereits vermerkt und ein weiterer Vermerk würde mich wohl endgültig zu einem Unwilligen abstempeln, zu jemandem, dem nur mit Sanktionen beizukommen wäre. Es war einfach vertrackt.
In diesem Augenblick riss mich ein lauter Pfeifton aus meinen Gedanken und einer der Knöpfe begann in einem wilden Stakkato zu blinken. Wie automatisch drückte ich den Knopf und das Pfeifen endete. Ich zählte innerlich bis drei und ließ los.
Vor mir rauschten auf der Produktionsstraße die kleinen weißen Quadrate vorbei. Immer in gleichem Abstand und ohne Unterlass kamen sie zur einen Seite des Raumes herein und verschwanden auf der anderen Seite wieder. Waren genug Quadrate an mir vorbeigezogen, ertönte das Pfeifen und ich drückte auf den Knopf, der mich mit heftigem Blinken dazu aufforderte.
Wieder und wieder und wieder.
 

Blumenberg

Mitglied
Lieber Kassandro,

zunächst einmal herzlich willkommen in der Leselupe, vielen Dank für die intensive Beschäftigung mit meinem Text und die hilfreichen Anmerkungen.
Ich freue mich, wenn meine Geschichte das Gefühl beim Leser auszulösen vermag, das ich beabsichtigt hatte. Das hier nicht der Versuch einer Sozialreportage unternommen werden soll, scheint mir offensichtlich. Homosapiens hatte das kafkaeske unserer sozialen Wirklichkeit ja ebenfalls ausführlich beschrieben.
Mit dem Hinweis auf ein paar stilistische Unebenheiten hast du, wie mir bei erneuter Lektüre aufgefallen ist, durchaus Recht. Ich habe mich noch einmal an den Text gesetzt und vor allem die auftretenden Wortdopplungen beseitigt. Daneben habe ich ein paar Stellen geändert, die mir beim erneuten Lesen etwas holprig erschienen. Ich denke das hat dem Text gut getan.

Ich freue mich auf weitere konstruktive Anregungen und Lesermeinungen!

Vielen Dank und beste Grüße

Blumenberg
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Steven Omen,

bitte entschuldige meine so späte Antwort, ich habe deinen Kommentar völlig überlesen.
Vielen Dank für die knappen Leseeindrücke. Ich frage mich, was genau du unter einem besseren Ausarbeiten der Pointe verstehst. Ich habe mich für ein offenes Ende entschieden, was dem Leser und seiner Phantasie die Perspektive auf mehrere ganz unterschiedliche Anknüpfungsmöglichkeiten (vom Scheitern bis zur Aufnahme einer dem Protagonisten befriedigend erscheinendem Beschäftigung ist alles denkbar) bieten soll. Ich hoffe, dass diese Wahl das Fehlen einer Pointe zu rechtfertigen vermag.

Beste Grüße

Blumenberg
 

Mia Lila

Mitglied
Lieber Blumenberg!

Eigentlich wollte ich eine intensive Kritik schreiben, da auch du mir schon bei meinem letzten Text so geholfen hast, aber ich muss dich enttäuschen. Denn mir gefällt deine Geschichte so gut, dass ich an sich nichts ändern würde. Überlegst du, die Geschichte fortzuführen? Das Ende ist gut gewählt, es macht neugierig! Kennst du "Das Haus der Treppen"? Tatsächlich erinnere ich mich kaum selbst an das Buch, welches ich schon vor einiger Zeit gelesen habe, aber ich könnte mir vorstellen, dass dein Text eine tolle Kreation aus Motiven von "Der Prozess" und "Das Haus der Treppen" sein könnte. Letzteres ist, soweit ich mich erinnere, ein Jugendbuch und bietet daher nicht allzu viel Tiefe, aber thematisch ist es interessant.

Mir gefällt am meisten die Stimmung, die deine Geschichte in mir auslöst und meiner Meinung nach ist das immer ein wichtiger Faktor. Du schaffst es, dass der Leser selbst dieses unangenehme Gefühl wahrnimmt und sich ebenso verloren fühlt, wie der Protagonist. Auch dieser ist im übrigen geschickt charakterisiert durch seine Wortwahl und sein Verhalten. Wir brauchen keine konkrete Beschreibung, denn du zeigst uns sein Profil immer wieder unterschwellig innerhalb der Kurzgeschichte.

In der Schule, was noch gar nicht so lange her ist, habe ich Kafkas Prozess gehasst, aber heute werde ich wohl nochmal einen Blick in sein Werk werfen.

Liebe Grüße!

Lila
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Lila,

vielen Dank für die Komplimente, ich freue mich, wenn dir mein Text gefallen hat. Jedes Wort ist bestimmt nicht in Stein gemeißelt, vielmehr hat, wie ich finde, die Einarbeitung etlicher Anmerkungen den Text noch einmal ein Stückchen runder werden lassen. Ich hoffe, dass noch das ein oder andere Feedback dazukommt, schließlich lernt man nie aus und ein unvoreingenommener Blick sieht häufig Dinge, die man selbst so gar nicht wahrnimmt.

Ob es eine Fortsetzung geben wird? Ja und nein muss hier wohl die Antwort lauten. Der Text ist inhaltlich eine Auskopplung aus einer etwas längeren Erzählung die ich immer mal wieder Stückchen für Stückchen weiterspinne, wobei die hier eingestellte Kurzgeschichte den Auftakt und Ausgangspunkt gebildet hat. Ob ich die Erzählung, wenn sie denn einmal fertig ist, hier einstelle weiß ich allerdings noch nicht. Zunächst einmal gilt es meine letzte hier eingestellte Geschichte nach vielen hilfreichen Hinweisen zum Text noch einmal gründlich zu überarbeiten, um noch ein wenig mehr aus dem Stoff herauszuholen und diesen ein wenig leichter zugänglich zu machen.

Das Haus der Treppen kenne ich nicht, ich habe mir mal eine Kurzzusammenfassung dazu durchgelesen und werde mal sehen, ob ich das Buch irgendwo auftreiben kann, denn es klang durchaus interessant. Den Prozess dagegen kenne ich gut und kann die nochmalige Lektüre nur empfehlen, auch wenn ich von Kafka besonders den Verschollenen schätze.

Beste Grüße

Blumenberg
 

Blumenberg

Mitglied
Lieber Arno Abendschön,


Als angegriffener Autor nehme ich für mich das Recht in Anspruch das letzte Wort zu haben. Ich habe mich jetzt eine ganze Weile artig gefragt wer sich ferngehalten hat und je länger ich so überlege, umso weniger sinnvoll erscheint mir diese Frage. Ich habe nämlich gar niemand Bestimmtes eingeladen. Ich veröffentliche hier Texte, die ohne Gästeliste auskommen. Wer sich nach dem Lesen bemüßigt fühlt seinen Eindruck des Textes mit mir zu teilen, ist mir willkommen. Namen sind dabei gewissermaßen Schall und Rauch, was mich interessiert, ist der Gehalt. So besehen scheine ich mich dabei auch nicht auf einen Chor von Unterstützern verlassen zu können, denn Unterstützer habe ich gar nicht. Das liegt in der Natur des Netzes. Die mir Antwortenden sind mir ebenso unbekannt, wie ich Ihnen. Und genau da liegt ja auch die Spannung.
Mir liegt es übrigens fern mich in irgendeiner Weise verteidigen zu wollen, ich verstehe den Kern deiner Kritik, ich teile ihn nur nicht, das ist ein Unterschied. Unsere Diskussion, hier bin ich mit dir einig, scheint mir ebenso sinnlos wie dir. Da du deinen Schopenhauer (ja den habe ich auch gelesen, scheint ein gut gehendes Werk zu sein, was nicht alle Autoren von sich behaupten können) wohl stets parat hast, sollten wir uns vielleicht darauf einigen, dass hier die gemeinsame Grundlage fehlt. Da ich eher jemand bin, der nicht dazu neigt, das, was er meint unter Unmengen rhetorischer Nebelkerzen zu verbergen, welche anschließend als stilistisch wertvoll bezeichnet, eigentlich nur dazu dienen bei Bedarf ganz im Sinne Schopenhauers als Sieger von Platz zu gehen, bleibe ich bei einer klaren Sprache. Mein Eindruck ist, dass deine Kommentare hier weniger auf eine Auseinandersetzung mit dem Text als vielmehr auf die Diskreditierung meiner Person als Autors abzielen der dich, welche Gründe du auch immer dafür haben magst, wütend macht.

Wenn ich abschließend darüber nachdenke ist mir Wut aber eigentlich auch genug, denn Mittiges macht nicht wütend. Wut bedarf Reibung. Das Mittige aber ist in seinem Wesen das Reibungslose.

Beste Grüße

Blumenberg
 

Blumenberg

Mitglied
Angestellt​

Ich war in Eile, um pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt in der Arbeitsagentur bei meiner Betreuerin zu sein. So heißt das heute. Vor ein paar Jahren wären es noch ein Amt und eine Sachbearbeiterin gewesen. Aber sei´s drum, eine Effizienzoffensive besteht eben zu nicht unwesentlichen Teilen aus einer bloßen Umetikettierung.

Als ich durch die Eingangstür in das Foyer eintrat, sprach mich wie aus heiterem Himmel ein älterer Mann an. Überrascht sah ich auf, als mich seine Stimme so unverhofft aus der Vorbereitung des anstehenden Gespräches riss. Ich hatte meinen eloquenten Auftritt vor der Betreuerin mehr als ein Dutzend Mal vor meinem geistigen Auge durchgespielt und war sicher, dass er überzeugend werden, mich in ihren Augen über den Pöbel, der ansonsten hier verkehrte, erheben musste. Er nannte mich beim Namen, was mir eigenartig erschien, hatte ich doch diesen Menschen noch nie zuvor im Leben erblickt.
„Ja bitte, Sie wünschen?“, entgegnete ich immer noch abwesend.
„Sie sind reichlich knapp zu einem so wichtigen Gespräch. Finden Sie nicht?“ Der Mann sah mir direkt ins Gesicht und erzwang sich regelrecht meine Aufmerksamkeit.
Ich sah ihn entgeistert an. Woher wusste er vom Zeitpunkt meines Termins? Warum maßte er sich überhaupt an, mich hier so einfach anzusprechen und mir vorzuwerfen, knapp bei meinem Termin zu sein? Ich wollte schon auffahren, als mir plötzlich ein Gedanke in den Kopf schoss. Wenn ich ihn nun zurechtwiese und er sich dann als ein Mitarbeiter des Amtes, gar als ein neuer Betreuer herausstellen sollte. Sonst konnte er ja nicht wissen, dass und wann ich hier ins Amt bestellt war.
„Nun? Schließlich habe ich Sie etwas gefragt“, unterbrach er meine Überlegungen.
„Ich … Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich bereits eingehend auf das kommende Gespräch vorbereitet, daher bin ich im eigentlichen Sinne nicht zu spät. Es sind noch fünf Minuten bis zu meinem Termin“, entgegnete ich, nicht unzufrieden über die schlagfertige und doch inhaltlich korrekte Aussage.
Er sah auf die Uhr und schien meine Angaben zu prüfen. „Sie haben Recht, aber es ist ohnehin belanglos, da Sie Ihren Termin nicht mehr wahrnehmen werden. Es wurde bereits alles geregelt. Sie fangen unverzüglich an.“
Wieder spürte ich, wie mir ein Schauer über den Rücken lief. „Was soll das heißen? Wo fange ich an?“, stieß ich um Beherrschung ringend hervor.
„Sie werden eine äußerst wichtige Maschine bedienen. Mehr brauchen Sie im Moment noch nicht zu wissen“, entgegnete er, ohne eine Regung erkennen zu lassen.
Dieser sonderbare Mann schien mich auf den Arm nehmen zu wollen. Seine kryptischen Andeutungen ergaben für mich kaum einen Sinn und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Zeit drängte, wollte ich nicht tatsächlich zu spät bei meiner Betreuerin erscheinen. Ich entschloss mich zu handeln.
„Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe einen Termin. Ich bin sicher, dass Sie mich mit jemandem verwechseln, der zufällig denselben Namen und einen Termin zur gleichen Zeit hat.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wollte ich meinen Weg zum Aufzug fortsetzen. Zu meiner Überraschung machte der Mann einen schnellen Schritt nach links, versperrte mir den Weg und nötigte mich, mit nach wie vor ausdrucksloser Miene, zum Anhalten.
„Was erlauben Sie sich!“ fuhr ich auf, endgültig außer Fasson geraten.
„Ich sagte doch bereits, Ihr Gesrpäch wurde abgesagt. Es besteht keine Notwendigkeit, dass Sie das Büro von Frau Maschke aufsuchen.“
„Oh, diese Notwendigkeit besteht unbedingt. Wenn mein Termin tatsächlich abgesagt worden sein sollte, habe ich wohl das Recht, das von einer offiziellen Mitarbeiterin dieser Einrichtung zu erfahren“, erwiderte ich und merkte dass ich langsam wütend wurde. Wie sich dieser Mann aufführte, seine auf reine Sachlichkeit beschränkte Sprache und Kühle, all das weckte eine mir rational unerklärliche Abneigung gegen ihn.
„Ich sagte Ihnen bereits, dass das nicht notwendig ist. Außerdem ist es Zeit, aufzubrechen. Ich würde eine weitere Verspätung nur sehr ungern in Kauf nehmen. Um ehrlich zu sein, scheint mir eine weitere Verzögerung ihres Dienstantritts genauer betrachtet ausgeschlossen“, erwiderte er, ohne dass seine Stimme auch nur bei einer Silbe aus dem geschäftsmäßig neutralen Ton, der seiner Rede zu eigen war, ausbrach.
Panik begann langsam in mir aufzusteigen und ich sah ihn mit großen Augen an, nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen. Wir standen uns vielleicht eine halbe Minute gegenüber, während ich hilflos nach einem Weg fahndete, wie ich mich diesem sonderbaren Mann gegenüber verhalten, wie ich mit ihm in ein Verhältnis treten sollte. Ich fühlte mich seiner geschäftsmäßigen Bestimmtheit vollkommen ausgeliefert, während alles in mir danach schrie, mich gegen eben diese Fremdbestimmung aufzulehnen. Hatte ich mich bisher immer als selbstbestimmtes Wesen bürgerlicher Herkunft empfunden, spürte ich mit einem Mal, wie dieses Selbstverständnis brüchig zu werden begann. Es war, das wurde mir schlagartig bewusst, kein plötzliches Zerbrechen. Die feinen Risse hatten angefangen sich zu bilden, als ich entlassen wurde und meine Arbeitslosigkeit begann. Die Mühlen der Bürokratie, das Aufenthaltsgebot, das Bewerbungsgebot, die regelmäßigen Visiten und Termine, die Kontooffenlegung vertieften sie ebenso wie das ständige Hinterfragen der eigenen Person, deren wesentlich durch Arbeit determiniertes Selbstverständnis mit dem Satz „Ihre Dienste werden in unserem Unternehmen nicht länger benötigt“ gründlich infrage gestellt war. Zeit genug, darüber nachzudenken, hatte ich als Arbeitsloser ja ohnehin.
Was war ich doch für ein Narr gewesen, tatsächlich anzunehmen, ich unterschiede mich in irgendeiner Hinsicht von den traurigen Gestalten, über die ich vorgehabt hatte, mich in einer Art personaler Allmachtsphantasie zu erheben. Aber noch stand schließlich das Urteil meiner Beraterin, der Richterin über mein Schicksal, aus. Noch war ich entschlossen zum Widerstand. Ohne meinem Gegenüber in die Augen zu sehen - ich schämte mich wohl meines Vorhabens -, machte ich einen plötzlichen Satz nach links und rannte an dem sonderbaren Mann vorbei auf die Treppe zu. Noch waren es ungefähr zwei Minuten bis zu meinem Termin, noch konnte ich es schaffen, konnte alles in die Bahnen lenken, die ich mir wieder und wieder ausgemalt hatte.
Ich hastete hinauf in den zweiten Stock, bog, ohne langsamer zu werden, in den langen Gang ein, an dessen Ende (linke Seite) das Büro meiner Betreuerin lag. Ein kurzes Innehalten (ich bin kein guter Läufer und war außer Atem) und ein Blick auf die Uhr verrieten mir, dass ich es rechtzeitig schaffen würde und ein triumphierendes Gefühl überkam mich. Ich ordnete meinen Anzug, straffte mich und klopfte an die Tür.

Es kam keine Antwort, nichts deutete darauf hin, dass mein Klopfen auf der anderen Seite registriert worden wäre. Ich ließ noch eine kurze Zeitspanne verstreichen, bevor ich erneut meine Hand hob. Sollte die Tür so dick sein, dass ich die ersehnten Worte nicht verstand, fragte ich mich, als mein erneutes, diesmal lauteres Klopfen unbeantwortet blieb. Ich drückte die Klinke nach unten und wollte die Tür öffnen, stieß aber auf einen unerwarteten Widerstand. Sie war verschlossen. Schweiß brach mir aus, ob vom Laufen oder aus Furcht, ich wusste es nicht zu sagen. Gleichzeitig überkam mich die Wut. Ich rüttelte an der Tür. Es fehlte nicht viel und ich hätte mich mit der Schulter dagegen geworfen, um dieser so entsetzlich hilflosen Wut einen Ableiter zu verschaffen. Wie zum Hohn schlug in diesem Moment der Gong einer Uhr, die mir verkündete, dass die Zeit abgelaufen war. Regungslos verharrte ich noch einen Moment vor der Tür, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und schlich geschlagen den Gang zurück zum Aufzug, während mir die hölzernen Zwillingsschwestern der Tür, die mich abgewiesen hatte, rechts und links in perfekter Ausrichtung Spalier standen.
Als der Aufzug im Erdgeschoss seine Türen öffnete und mich entließ, stand der sonderbare Mann immer noch unverändert an dem Platz in der Vorhalle. Neben ihm standn nun allerdings das Ziel meiner Flucht und sah mich durch die Gläser einer Brille hindurch an. In dem Moment, als ich beide sah, schämte ich mich für meine lächerliche Flucht ein paar Minuten zuvor. Von meinem schwungvollen Schritt war nichts mehr übrig, als ich ihnen entgegenlief, um meinen Urteilsspruch zu empfangen.
„Guten Tag, Herr Müller“, empfing mich meine Betreuerin kühl und ich glaubte einen leichten Tadel in ihrer Stimme zu hören. „Mir wurde berichtet, dass Sie plötzlich Reißaus genommen haben, obwohl Ihnen versichert worden war, dass Ihr Gespräch mit mir bereits abgesagt wurde. Sie können von Glück sagen, dass Sie so vernünftig waren, zurückzukommen. Das gibt uns die Möglichkeit, in Ihrer Angelegenheit doch noch zu einem guten Ende zu gelangen, obwohl ich gezwungen bin, einen Aktenvermerk zu machen.“
Ich sah sie an und muss dabei vollkommen verständnislos gewirkt haben, denn sie ergänzte, als ob sie es mit einem unverständigen Kind zu tun habe: „Vielleicht sollten sie sich zunächst einmal für Ihr Verhalten entschuldigen und sich, da der Herr so großzügig ist, weiterhin auf Ihre Verwendung zu bestehen, bei ihm bedanken.“
Bevor ich die Möglichkeit hatte, der Aufforderung nachzukommen oder zu der ganzen Angelegenheit Stellung zu nehmen, winkte er ab. „Eine Entschuldigung oder ein Dank sind unnötig. Herr Müller hat eine Maschine zu bedienen. Jede weitere Verzögerung hält ihn nur davon ab“, sagte er zu meiner Betreuerin gewandt, ohne mich weiter zu beachten. Diese nickte heftig.
„Sie sehen es, Herr Müller, unsere Agentur bringt sogar einen schwierigen Fall wie Ihren zu einem guten Abschluss. Ich freue mich, dass wir Ihnen zu einer Anschlussverwendung verhelfen konnten, und hoffe, Sie werden diese Chance für einen Wiedereinstieg in die produktive Gesellschaft nutzen.“ Sie streckte mir die Hand entgegen. Ich nahm sie kraftlos, unfähig, mich weiter zu wehren. „Leben Sie wohl, Herr Müller.“ Sie gab auch dem ominösen Herrn die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung des Aufzugs davon.

Ich wurde aus dem Amt geleitet und zu einem Wagen geführt. Ohne aufzubegehren, stieg ich ein und der Wagen fuhr, kaum hatte ich die Tür geschlossen, los, um mich zu meiner neuen Stelle zu bringen.
Nach etwa zehn Minuten kamen wir an unserem Zielort, einer unscheinbar wirkenden Industriehalle, an. „Hier werden Sie tätig sein. Sie werden sehen, unser Betrieb ist absolut auf dem neuesten Stand der Technik.“ Er führte mich durch den Eingang und eine Schleuse hindurch in einen großen Raum, der eher einer wissenschaftlichen Einrichtung ähnelte als dem, was ich mir unter einer Industriestätte vorgestellt hatte. Der ganze Raum war in einem blendenden Weiß gestrichen, den größten Teil nahmen mehrere riesige Maschinen ein, die durch ein Gewirr von Kabeln und Laufbändern miteinander verbunden waren. Kaum hatten wir den Raum betreten, erwachte die Anlage und nahm ihren Betrieb auf. Was genau die einzelnen Abschnitte dieser gigantischen Produktionsstraße für eine Funktion hatten, blieb mir verschlossen, da die Tätigkeit, die die Maschinen ausübten, sich ausschließlich in ihrem Inneren abspielte. Dass sie aber tätig sein mussten, bewies das in unzähligen Stadien der Fertigstellung befindliche Produkt, das auf den Produktionsstraßen zwischen den Maschinen hin- und herlief, in seiner Bewegung einer festen, mir aber unbekannten Logik folgend. Trotz der regen Betriebsamkeit herrschte eine beunruhigende Stille. Ich sah mich mit großen Augen um, vermochte aber in der ganzen Halle nicht einen einzigen anderen Menschen auszumachen.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, sagte der Herr lächelnd: „Der ganze Betrieb ist völlig automatisiert, nicht nur die Produktion, die Sie hier beobachten können. Auch die Wartung und Kontrolle werden von einem zentralen Rechner aus gesteuert. Es wird Sie vielleicht überraschen, aber Sie sind unser einziger Angestellter aus Fleisch und Blut.“ Er sah mich eindringlich an. „Aber gerade deshalb kommt Ihnen eine Aufgabe zu, die für den gesamten Ablauf von entscheidender Bedeutung ist, auch wenn Ihnen die Ausführung vielleicht trivial erscheinen mag. Kommen Sie! Ich führe Sie an Ihren Arbeitsplatz.“

Ich folgte ihm weiter durch die Halle und staunte über die lautlose Geschäftigkeit um mich herum. Am anderen Ende angekommen durchschritten wir eine Tür, eine weitere Schleuse und betraten einen zweiten, kaum kleiner wirkenden Raum, der im Gegensatz zu dem vorigen geradezu leer wirkte. Den Raum durchmaß der gesamten Länge nach ein Fließband, auf dem in regelmäßigen Abständen das fertige Produkt, ein kleiner weißer Kasten mit abgerundeten Ecken und mir gänzlich unbekannter Funktion, lag und sich gleichmäßig auf einen Ausgang am anderen Ende des Raumes zubewegte. Genau in der Mitte des Raumes stand neben dem Fließband ein Pult, vor dem ein Bürostuhl aufgestellt war.
„Ihr Arbeitsplatz“, erklärte mir der Herr und wies auf den Stuhl. „Setzen Sie sich! Ich werde Sie mit Ihrer Aufgabe vertraut machen. Dabei ist es von größter Wichtigkeit, dass Sie mir genau zuhören. Ihr Beitrag, ich kann es nur wiederholen, ist für das Funktionieren der gesamten Produktion von entscheidender Bedeutung. Nun aber endlich zu Ihrer Aufgabe: In regelmäßigen Abständen werden Sie einen Signalton hören. Wenn dieser ertönt - und nur dann -, drücken Sie den Knopf auf Ihrem Pult, der aufleuchtet, halten ihn ungefähr drei Sekunden gedrückt, dann lassen Sie ihn los und warten auf den nächsten Signalton. Haben Sie das verstanden?“
Ich nickte. „Mir ist aber nicht recht klar, warum diese Tätigkeit nicht auch von einer Maschine gesteuert werden kann? Das scheint mir irgendwie unlogisch“, bemühte ich mich zu verstehen, warum ich überhaupt an diesem Ort war.
„Das ist bedauerlicherweise als Teil unserer technischen Ausstattung einem strengen Betriebsgeheimnis unterworfen. Sie verstehen sicher, dass wir die sensiblen technischen Daten unserer Produktionsmethode, soweit sie nicht für die Ausübung Ihrer Tätigkeit von Belang sind, nicht mit Ihnen teilen können. Was Sie interessieren sollte, ist, dass Ihre Anwesenheit hier aus unserer Sicht eine Notwendigkeit ist und Ihnen zu Lohn und Brot verhilft“, tadelte er mich. „Ihre Schicht beginnt pünktlich um 9:00 Uhr und nicht einen Augenblick später und endet um 18:00 Uhr. Um 12:00 haben Sie eine Stunde Mittagspause.“ Er hielt mir einem Stift und einen dünnen Vertrag hin, der auf der letzten Seite aufgeschlagen war. „Unterzeichnen Sie nun bitte hier“, forderte er mich auf. Ich unterzeichnete. Warum, konnte ich nicht sagen, in diesem Augenblick schien es mir das einzig Mögliche zu sein.
Mein Gegenüber blickte auf seine Uhr. „Wir haben bereits 9:30 Uhr. Da die entstandene Verspätung durch Sie verschuldet ist, endet Ihre Schicht heute folglich um 18:30 Uhr. Alles Weitere entnehmen Sie bitte dem Arbeitsvertrag, den wir ihnen zusenden. Ich muss mich nun verabschieden und wünsche Ihnen einen guten Start in unserem Unternehmen.“
Er ließ mir keine Zeit zu einer Antwort, sondern nahm mir Stift und Vertrag aus der Hand, drehte sich um und war kurze Zeit später durch die Tür verschwunden, durch die wir den Raum zuvor betreten hatten.

Ich saß vor dem Pult und fühlte mich vollkommen durcheinander. Ich war schlicht die gänzlich falsche Person. Ein anderer Max Müller musste gemeint gewesen sein. Ich wollte aufstehen und ihm nachgehen. Ihm sagen, dass es sich hier doch nur um irgendeine perverse Form von Missverständnis handeln konnte, ja, handeln musste. Aber hatte ich nicht gerade einen Vertrag unterschrieben? Mit meiner eigenen Unterschrift klargestellt, dass ich der richtige war. Ich kam mir in diesem Augenblick wie ein Betrüger vor. Was, wenn sich der richtige, der Max Müller, für den diese Arbeit bestimmt war, meldete und man mich zur Rede stellte? Sollte ich dann sagen „Ich bin Max Müller, eigentlich der falsche, aber durch meine Unterschrift habe ich vorgegeben, der richtige zu sein.“? Verwechslungen passierten, aber diese dann auszunutzen …? Hatte ich wirklich alles getan, um klarzustellen, dass ich der falsche bin? Sollte ich einen letzten Versuch wagen, es jetzt, nach geleisteter Unterschrift, noch klarstellen oder war es dafür schon zu spät?
Es schien mir unmöglich, hierzubleiben, vielleicht sollte ich einfach sagen, ich hätte es mir anders überlegt und kein Interesse. Aber was wäre, wenn sich dann herausstellen sollte, dass ich doch der Richtige wäre. Dann wäre ich einer, der die ihm gebotene Chance ausgeschlagen hatte, der widerspenstig war und sich gegen die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt sträubte. Meine Betreuerin hatte mich schließlich in der Sache bereits vermerkt und ein weiterer Vermerk würde mich wohl endgültig zu einem Unwilligen abstempeln, zu jemandem, dem nur mit Sanktionen beizukommen wäre. Es war einfach vertrackt.
In diesem Augenblick riss mich ein lauter Pfeifton aus meinen Gedanken und einer der Knöpfe begann in einem wilden Stakkato zu blinken. Wie automatisch drückte ich den Knopf und das Pfeifen endete. Ich zählte innerlich bis drei und ließ los.
Vor mir rauschten auf der Produktionsstraße die kleinen weißen Quadrate vorbei. Immer in gleichem Abstand und ohne Unterlass kamen sie zur einen Seite des Raumes herein und verschwanden auf der anderen Seite wieder. Waren genug Quadrate an mir vorbeigezogen, ertönte das Pfeifen und ich drückte auf den Knopf, der mich mit heftigem Blinken dazu aufforderte.
Wieder und wieder und wieder.
 

steyrer

Mitglied
Hallo!

Du schreibst in deiner Antwort an Mia Lia, dass dieser Text eine Auskoppelung einer längeren Erzählung ist. Nun, ich traue mir nicht zu, einen Text zu beurteilen, der kein Ganzes ist. Meine Anmerkungen, etwa zum Handlungsbogen, würden sämtlich ins Leere laufen. Ja, nicht einmal der Stil lässt sich unter solchen Umständen beurteilen.

Du solltest so etwas in einer Einleitung anmerken und einen groben Überblick über das Ganze geben. Übrigens: Unter Kurzgeschichten verstehe ich etwas Abgeschlossenes. Für Erzählungen gibt es ein eigenes Forum.


Schöne Grüße
steyrer

Datum: 27. 12. 2016, 19:11
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Steyrer,

ein guter Hinweis, da habe ich mich tatsächlich ein wenig missverständlich ausgedrückt.

Die hier eingestellte Geschichte ist eine Kurzgeschichte, die als solche geschrieben wurde. Du kannst sie also ruhig als kompletten Text mit offenem Ende beurteilen.
Ich habe die Geschichte etwas nach der Fertigstellung noch einmal aus der virtuellen Schiblade hervorgeholt und begonnen, aus ihr eine umfangreichere Erzählung zu machen, weil ich den Eindruck hatte, der Text könnte auch in Form einer längeren Geschichte funktionieren, diese ist aber bei weitem noch nicht fertig. Ob das Ergebnis dann tatsächlich die Qualität hat, dass ich sie hier einstelle, vermag ich im Moment noch nicht zu sagen.

Beste Grüße

Blumenberg
 

steyrer

Mitglied
Hallo Blumenberg!

Nun, ich ordne deinen Beitrag durchaus in das obere Drittel aller Beiträge der Leselupe ein. Dennoch hinterlässt er bei mir ein merkwürdig flaues Gefühl.

Ich fasse den Inhalt, wie er sich mir darstellt, einmal zusammen: Ein bereits psychisch angeschlagener Arbeitsloser rafft seine letzte Würde zusammen, scheitert natürlich krachend (es sieht aus wie Selbstgerechtigkeit) und ergibt sich schließlich seinem Schicksal.

Die Erzählweise wirkt auf mich in sich abgeschlossen und eintönig, obwohl ja tatsächlich etwas passiert, aber alles steuert eben auf diesen Stillstand, diese Scheinbeschäftigung am Ende zu. Das lässt das Ganze sehr gleichförmig aussehen und damit leider auch etwas langweilig. Diese Monotonie müsste gelegentlich durchbrochen werden, etwa mit Gedanken oder Ereignissen, die dem einförmig, traurigen Grundton direkt entgegenstehen, so nach dem Motto: „Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.“


Abschließend noch zwei Kleinigkeiten:

* Neben ihm stand[strike][red]n[/red][/strike] nun allerdings das Ziel meiner Flucht und sah mich durch die Gläser einer Brille hindurch an.

* Ihr [strike][red]Gesrpäch[/red][/strike] [blue]Gespräch[/blue] wurde abgesagt.

Falls noch Diskussionsbedarf besteht: Ich werde zwar nicht sofort antworten können, aber bis Silvester dürfte es sich ausgehen.


Schöne Grüße
steyrer
 

Blumenberg

Mitglied
Angestellt​

Ich war in Eile, um pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt in der Arbeitsagentur bei meiner Betreuerin zu sein. So heißt das heute. Vor ein paar Jahren wären es noch ein Amt und eine Sachbearbeiterin gewesen. Aber sei´s drum, eine Effizienzoffensive besteht eben zu nicht unwesentlichen Teilen aus einer bloßen Umetikettierung.

Als ich durch die Eingangstür in das Foyer eintrat, sprach mich wie aus heiterem Himmel ein älterer Mann an. Überrascht sah ich auf, als mich seine Stimme so unverhofft aus der Vorbereitung des anstehenden Gespräches riss. Ich hatte meinen eloquenten Auftritt vor der Betreuerin mehr als ein Dutzend Mal vor meinem geistigen Auge durchgespielt und war sicher, dass er überzeugend werden, mich in ihren Augen über den Pöbel, der ansonsten hier verkehrte, erheben musste. Er nannte mich beim Namen, was mir eigenartig erschien, hatte ich doch diesen Menschen noch nie zuvor im Leben erblickt.
„Ja bitte, Sie wünschen?“, entgegnete ich immer noch abwesend.
„Sie sind reichlich knapp zu einem so wichtigen Gespräch. Finden Sie nicht?“ Der Mann sah mir direkt ins Gesicht und erzwang sich regelrecht meine Aufmerksamkeit.
Ich sah ihn entgeistert an. Woher wusste er vom Zeitpunkt meines Termins? Warum maßte er sich überhaupt an, mich hier so einfach anzusprechen und mir vorzuwerfen, knapp bei meinem Termin zu sein? Ich wollte schon auffahren, als mir plötzlich ein Gedanke in den Kopf schoss. Wenn ich ihn nun zurechtwiese und er sich dann als ein Mitarbeiter des Amtes, gar als ein neuer Betreuer herausstellen sollte. Sonst konnte er ja nicht wissen, dass und wann ich hier ins Amt bestellt war.
„Nun? Schließlich habe ich Sie etwas gefragt“, unterbrach er meine Überlegungen.
„Ich … Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich bereits eingehend auf das kommende Gespräch vorbereitet, daher bin ich im eigentlichen Sinne nicht zu spät. Es sind noch fünf Minuten bis zu meinem Termin“, entgegnete ich, nicht unzufrieden über die schlagfertige und doch inhaltlich korrekte Aussage.
Er sah auf die Uhr und schien meine Angaben zu prüfen. „Sie haben Recht, aber es ist ohnehin belanglos, da Sie Ihren Termin nicht mehr wahrnehmen werden. Es wurde bereits alles geregelt. Sie fangen unverzüglich an.“
Wieder spürte ich, wie mir ein Schauer über den Rücken lief. „Was soll das heißen? Wo fange ich an?“, stieß ich um Beherrschung ringend hervor.
„Sie werden eine äußerst wichtige Maschine bedienen. Mehr brauchen Sie im Moment noch nicht zu wissen“, entgegnete er, ohne eine Regung erkennen zu lassen.
Dieser sonderbare Mann schien mich auf den Arm nehmen zu wollen. Seine kryptischen Andeutungen ergaben für mich kaum einen Sinn und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Zeit drängte, wollte ich nicht tatsächlich zu spät bei meiner Betreuerin erscheinen. Ich entschloss mich zu handeln.
„Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe einen Termin. Ich bin sicher, dass Sie mich mit jemandem verwechseln, der zufällig denselben Namen und einen Termin zur gleichen Zeit hat.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wollte ich meinen Weg zum Aufzug fortsetzen. Zu meiner Überraschung machte der Mann einen schnellen Schritt nach links, versperrte mir den Weg und nötigte mich, mit nach wie vor ausdrucksloser Miene, zum Anhalten.
„Was erlauben Sie sich!“ fuhr ich auf, endgültig außer Fasson geraten.
„Ich sagte doch bereits, Ihr Gespräch wurde abgesagt. Es besteht keine Notwendigkeit, dass Sie das Büro von Frau Maschke aufsuchen.“
„Oh, diese Notwendigkeit besteht unbedingt. Wenn mein Termin tatsächlich abgesagt worden sein sollte, habe ich wohl das Recht, das von einer offiziellen Mitarbeiterin dieser Einrichtung zu erfahren“, erwiderte ich und merkte dass ich langsam wütend wurde. Wie sich dieser Mann aufführte, seine auf reine Sachlichkeit beschränkte Sprache und Kühle, all das weckte eine mir rational unerklärliche Abneigung gegen ihn.
„Ich sagte Ihnen bereits, dass das nicht notwendig ist. Außerdem ist es Zeit, aufzubrechen. Ich würde eine weitere Verspätung nur sehr ungern in Kauf nehmen. Um ehrlich zu sein, scheint mir eine weitere Verzögerung ihres Dienstantritts genauer betrachtet ausgeschlossen“, erwiderte er, ohne dass seine Stimme auch nur bei einer Silbe aus dem geschäftsmäßig neutralen Ton, der seiner Rede zu eigen war, ausbrach.
Panik begann langsam in mir aufzusteigen und ich sah ihn mit großen Augen an, nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen. Wir standen uns vielleicht eine halbe Minute gegenüber, während ich hilflos nach einem Weg fahndete, wie ich mich diesem sonderbaren Mann gegenüber verhalten, wie ich mit ihm in ein Verhältnis treten sollte. Ich fühlte mich seiner geschäftsmäßigen Bestimmtheit vollkommen ausgeliefert, während alles in mir danach schrie, mich gegen eben diese Fremdbestimmung aufzulehnen. Hatte ich mich bisher immer als selbstbestimmtes Wesen bürgerlicher Herkunft empfunden, spürte ich mit einem Mal, wie dieses Selbstverständnis brüchig zu werden begann. Es war, das wurde mir schlagartig bewusst, kein plötzliches Zerbrechen. Die feinen Risse hatten angefangen sich zu bilden, als ich entlassen wurde und meine Arbeitslosigkeit begann. Die Mühlen der Bürokratie, das Aufenthaltsgebot, das Bewerbungsgebot, die regelmäßigen Visiten und Termine, die Kontooffenlegung vertieften sie ebenso wie das ständige Hinterfragen der eigenen Person, deren wesentlich durch Arbeit determiniertes Selbstverständnis mit dem Satz „Ihre Dienste werden in unserem Unternehmen nicht länger benötigt“ gründlich infrage gestellt war. Zeit genug, darüber nachzudenken, hatte ich als Arbeitsloser ja ohnehin.
Was war ich doch für ein Narr gewesen, tatsächlich anzunehmen, ich unterschiede mich in irgendeiner Hinsicht von den traurigen Gestalten, über die ich vorgehabt hatte, mich in einer Art personaler Allmachtsphantasie zu erheben. Aber noch stand schließlich das Urteil meiner Beraterin, der Richterin über mein Schicksal, aus. Noch war ich entschlossen zum Widerstand. Ohne meinem Gegenüber in die Augen zu sehen - ich schämte mich wohl meines Vorhabens -, machte ich einen plötzlichen Satz nach links und rannte an dem sonderbaren Mann vorbei auf die Treppe zu. Noch waren es ungefähr zwei Minuten bis zu meinem Termin, noch konnte ich es schaffen, konnte alles in die Bahnen lenken, die ich mir wieder und wieder ausgemalt hatte.
Ich hastete hinauf in den zweiten Stock, bog, ohne langsamer zu werden, in den langen Gang ein, an dessen Ende (linke Seite) das Büro meiner Betreuerin lag. Ein kurzes Innehalten (ich bin kein guter Läufer und war außer Atem) und ein Blick auf die Uhr verrieten mir, dass ich es rechtzeitig schaffen würde und ein triumphierendes Gefühl überkam mich. Ich ordnete meinen Anzug, straffte mich und klopfte an die Tür.

Es kam keine Antwort, nichts deutete darauf hin, dass mein Klopfen auf der anderen Seite registriert worden wäre. Ich ließ noch eine kurze Zeitspanne verstreichen, bevor ich erneut meine Hand hob. Sollte die Tür so dick sein, dass ich die ersehnten Worte nicht verstand, fragte ich mich, als mein erneutes, diesmal lauteres Klopfen unbeantwortet blieb. Ich drückte die Klinke nach unten und wollte die Tür öffnen, stieß aber auf einen unerwarteten Widerstand. Sie war verschlossen. Schweiß brach mir aus, ob vom Laufen oder aus Furcht, ich wusste es nicht zu sagen. Gleichzeitig überkam mich die Wut. Ich rüttelte an der Tür. Es fehlte nicht viel und ich hätte mich mit der Schulter dagegen geworfen, um dieser so entsetzlich hilflosen Wut einen Ableiter zu verschaffen. Wie zum Hohn schlug in diesem Moment der Gong einer Uhr, die mir verkündete, dass die Zeit abgelaufen war. Regungslos verharrte ich noch einen Moment vor der Tür, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und schlich geschlagen den Gang zurück zum Aufzug, während mir die hölzernen Zwillingsschwestern der Tür, die mich abgewiesen hatte, rechts und links in perfekter Ausrichtung Spalier standen.
Als der Aufzug im Erdgeschoss seine Türen öffnete und mich entließ, stand der sonderbare Mann immer noch unverändert an dem Platz in der Vorhalle. Neben ihm stand nun allerdings das Ziel meiner Flucht und sah mich durch die Gläser einer Brille hindurch an. In dem Moment, als ich beide sah, schämte ich mich für meine lächerliche Flucht ein paar Minuten zuvor. Von meinem schwungvollen Schritt war nichts mehr übrig, als ich ihnen entgegenlief, um meinen Urteilsspruch zu empfangen.
„Guten Tag, Herr Müller“, empfing mich meine Betreuerin kühl und ich glaubte einen leichten Tadel in ihrer Stimme zu hören. „Mir wurde berichtet, dass Sie plötzlich Reißaus genommen haben, obwohl Ihnen versichert worden war, dass Ihr Gespräch mit mir bereits abgesagt wurde. Sie können von Glück sagen, dass Sie so vernünftig waren, zurückzukommen. Das gibt uns die Möglichkeit, in Ihrer Angelegenheit doch noch zu einem guten Ende zu gelangen, obwohl ich gezwungen bin, einen Aktenvermerk zu machen.“
Ich sah sie an und muss dabei vollkommen verständnislos gewirkt haben, denn sie ergänzte, als ob sie es mit einem unverständigen Kind zu tun habe: „Vielleicht sollten sie sich zunächst einmal für Ihr Verhalten entschuldigen und sich, da der Herr so großzügig ist, weiterhin auf Ihre Verwendung zu bestehen, bei ihm bedanken.“
Bevor ich die Möglichkeit hatte, der Aufforderung nachzukommen oder zu der ganzen Angelegenheit Stellung zu nehmen, winkte er ab. „Eine Entschuldigung oder ein Dank sind unnötig. Herr Müller hat eine Maschine zu bedienen. Jede weitere Verzögerung hält ihn nur davon ab“, sagte er zu meiner Betreuerin gewandt, ohne mich weiter zu beachten. Diese nickte heftig.
„Sie sehen es, Herr Müller, unsere Agentur bringt sogar einen schwierigen Fall wie Ihren zu einem guten Abschluss. Ich freue mich, dass wir Ihnen zu einer Anschlussverwendung verhelfen konnten, und hoffe, Sie werden diese Chance für einen Wiedereinstieg in die produktive Gesellschaft nutzen.“ Sie streckte mir die Hand entgegen. Ich nahm sie kraftlos, unfähig, mich weiter zu wehren. „Leben Sie wohl, Herr Müller.“ Sie gab auch dem ominösen Herrn die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung des Aufzugs davon.

Ich wurde aus dem Amt geleitet und zu einem Wagen geführt. Ohne aufzubegehren, stieg ich ein und der Wagen fuhr, kaum hatte ich die Tür geschlossen, los, um mich zu meiner neuen Stelle zu bringen.
Nach etwa zehn Minuten kamen wir an unserem Zielort, einer unscheinbar wirkenden Industriehalle, an. „Hier werden Sie tätig sein. Sie werden sehen, unser Betrieb ist absolut auf dem neuesten Stand der Technik.“ Er führte mich durch den Eingang und eine Schleuse hindurch in einen großen Raum, der eher einer wissenschaftlichen Einrichtung ähnelte als dem, was ich mir unter einer Industriestätte vorgestellt hatte. Der ganze Raum war in einem blendenden Weiß gestrichen, den größten Teil nahmen mehrere riesige Maschinen ein, die durch ein Gewirr von Kabeln und Laufbändern miteinander verbunden waren. Kaum hatten wir den Raum betreten, erwachte die Anlage und nahm ihren Betrieb auf. Was genau die einzelnen Abschnitte dieser gigantischen Produktionsstraße für eine Funktion hatten, blieb mir verschlossen, da die Tätigkeit, die die Maschinen ausübten, sich ausschließlich in ihrem Inneren abspielte. Dass sie aber tätig sein mussten, bewies das in unzähligen Stadien der Fertigstellung befindliche Produkt, das auf den Produktionsstraßen zwischen den Maschinen hin- und herlief, in seiner Bewegung einer festen, mir aber unbekannten Logik folgend. Trotz der regen Betriebsamkeit herrschte eine beunruhigende Stille. Ich sah mich mit großen Augen um, vermochte aber in der ganzen Halle nicht einen einzigen anderen Menschen auszumachen.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, sagte der Herr lächelnd: „Der ganze Betrieb ist völlig automatisiert, nicht nur die Produktion, die Sie hier beobachten können. Auch die Wartung und Kontrolle werden von einem zentralen Rechner aus gesteuert. Es wird Sie vielleicht überraschen, aber Sie sind unser einziger Angestellter aus Fleisch und Blut.“ Er sah mich eindringlich an. „Aber gerade deshalb kommt Ihnen eine Aufgabe zu, die für den gesamten Ablauf von entscheidender Bedeutung ist, auch wenn Ihnen die Ausführung vielleicht trivial erscheinen mag. Kommen Sie! Ich führe Sie an Ihren Arbeitsplatz.“

Ich folgte ihm weiter durch die Halle und staunte über die lautlose Geschäftigkeit um mich herum. Am anderen Ende angekommen durchschritten wir eine Tür, eine weitere Schleuse und betraten einen zweiten, kaum kleiner wirkenden Raum, der im Gegensatz zu dem vorigen geradezu leer wirkte. Den Raum durchmaß der gesamten Länge nach ein Fließband, auf dem in regelmäßigen Abständen das fertige Produkt, ein kleiner weißer Kasten mit abgerundeten Ecken und mir gänzlich unbekannter Funktion, lag und sich gleichmäßig auf einen Ausgang am anderen Ende des Raumes zubewegte. Genau in der Mitte des Raumes stand neben dem Fließband ein Pult, vor dem ein Bürostuhl aufgestellt war.
„Ihr Arbeitsplatz“, erklärte mir der Herr und wies auf den Stuhl. „Setzen Sie sich! Ich werde Sie mit Ihrer Aufgabe vertraut machen. Dabei ist es von größter Wichtigkeit, dass Sie mir genau zuhören. Ihr Beitrag, ich kann es nur wiederholen, ist für das Funktionieren der gesamten Produktion von entscheidender Bedeutung. Nun aber endlich zu Ihrer Aufgabe: In regelmäßigen Abständen werden Sie einen Signalton hören. Wenn dieser ertönt - und nur dann -, drücken Sie den Knopf auf Ihrem Pult, der aufleuchtet, halten ihn ungefähr drei Sekunden gedrückt, dann lassen Sie ihn los und warten auf den nächsten Signalton. Haben Sie das verstanden?“
Ich nickte. „Mir ist aber nicht recht klar, warum diese Tätigkeit nicht auch von einer Maschine gesteuert werden kann? Das scheint mir irgendwie unlogisch“, bemühte ich mich zu verstehen, warum ich überhaupt an diesem Ort war.
„Das ist bedauerlicherweise als Teil unserer technischen Ausstattung einem strengen Betriebsgeheimnis unterworfen. Sie verstehen sicher, dass wir die sensiblen technischen Daten unserer Produktionsmethode, soweit sie nicht für die Ausübung Ihrer Tätigkeit von Belang sind, nicht mit Ihnen teilen können. Was Sie interessieren sollte, ist, dass Ihre Anwesenheit hier aus unserer Sicht eine Notwendigkeit ist und Ihnen zu Lohn und Brot verhilft“, tadelte er mich. „Ihre Schicht beginnt pünktlich um 9:00 Uhr und nicht einen Augenblick später und endet um 18:00 Uhr. Um 12:00 haben Sie eine Stunde Mittagspause.“ Er hielt mir einem Stift und einen dünnen Vertrag hin, der auf der letzten Seite aufgeschlagen war. „Unterzeichnen Sie nun bitte hier“, forderte er mich auf. Ich unterzeichnete. Warum, konnte ich nicht sagen, in diesem Augenblick schien es mir das einzig Mögliche zu sein.
Mein Gegenüber blickte auf seine Uhr. „Wir haben bereits 9:30 Uhr. Da die entstandene Verspätung durch Sie verschuldet ist, endet Ihre Schicht heute folglich um 18:30 Uhr. Alles Weitere entnehmen Sie bitte dem Arbeitsvertrag, den wir ihnen zusenden. Ich muss mich nun verabschieden und wünsche Ihnen einen guten Start in unserem Unternehmen.“
Er ließ mir keine Zeit zu einer Antwort, sondern nahm mir Stift und Vertrag aus der Hand, drehte sich um und war kurze Zeit später durch die Tür verschwunden, durch die wir den Raum zuvor betreten hatten.

Ich saß vor dem Pult und fühlte mich vollkommen durcheinander. Ich war schlicht die gänzlich falsche Person. Ein anderer Max Müller musste gemeint gewesen sein. Ich wollte aufstehen und ihm nachgehen. Ihm sagen, dass es sich hier doch nur um irgendeine perverse Form von Missverständnis handeln konnte, ja, handeln musste. Aber hatte ich nicht gerade einen Vertrag unterschrieben? Mit meiner eigenen Unterschrift klargestellt, dass ich der richtige war. Ich kam mir in diesem Augenblick wie ein Betrüger vor. Was, wenn sich der richtige, der Max Müller, für den diese Arbeit bestimmt war, meldete und man mich zur Rede stellte? Sollte ich dann sagen „Ich bin Max Müller, eigentlich der falsche, aber durch meine Unterschrift habe ich vorgegeben, der richtige zu sein.“? Verwechslungen passierten, aber diese dann auszunutzen …? Hatte ich wirklich alles getan, um klarzustellen, dass ich der falsche bin? Sollte ich einen letzten Versuch wagen, es jetzt, nach geleisteter Unterschrift, noch klarstellen oder war es dafür schon zu spät?
Es schien mir unmöglich, hierzubleiben, vielleicht sollte ich einfach sagen, ich hätte es mir anders überlegt und kein Interesse. Aber was wäre, wenn sich dann herausstellen sollte, dass ich doch der Richtige wäre. Dann wäre ich einer, der die ihm gebotene Chance ausgeschlagen hatte, der widerspenstig war und sich gegen die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt sträubte. Meine Betreuerin hatte mich schließlich in der Sache bereits vermerkt und ein weiterer Vermerk würde mich wohl endgültig zu einem Unwilligen abstempeln, zu jemandem, dem nur mit Sanktionen beizukommen wäre. Es war einfach vertrackt.
In diesem Augenblick riss mich ein lauter Pfeifton aus meinen Gedanken und einer der Knöpfe begann in einem wilden Stakkato zu blinken. Wie automatisch drückte ich den Knopf und das Pfeifen endete. Ich zählte innerlich bis drei und ließ los.
Vor mir rauschten auf der Produktionsstraße die kleinen weißen Quadrate vorbei. Immer in gleichem Abstand und ohne Unterlass kamen sie zur einen Seite des Raumes herein und verschwanden auf der anderen Seite wieder. Waren genug Quadrate an mir vorbeigezogen, ertönte das Pfeifen und ich drückte auf den Knopf, der mich mit heftigem Blinken dazu aufforderte.
Wieder und wieder und wieder.
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Steyrer,

zunächst einmal vielen Dank für die Beschäftigung mit meinem Text und die Hinweise.
Die beiden Flüchtigkeitsfehler habe ich korrigiert, ich habe den Text so häufig gelesen, dass sie mir gar nicht mehr aufgefallen sind.

Zu deinen Anmerkungen: Du hast den Text inhaltlich gewissermaßen skelletiert. Das der Protagonist psychisch angeschlagen ist, ergibt sich eher im Lauf der Geschichte, in dem das Selbstverständnis des Protagonisten Stück für Stück ins Wanken gerät. Zu Beginn ist er ja noch der Meinung er würde sich von den anderen Arbeitslosen abheben, er müsse nur dafür sorgen, dass dies von seiner Betreuerin auch erkannt wird.
Das es sich bei der Arbeit um eine Scheinbeschäftigung handelt, ist nicht von mir intendiert, es handelt sich um eine tatsächliche Aufgabe (auch wenn der Protagonist nicht informiert wird, warum genau er das tun soll), die vom Protaognisten eine Anpassung an einen maschinellen Vorgesetzten verlangt, ihn nötigt im Sinne Günther Anders, sich anzupassen und ein Teil der Maschine zu werden, um funktionieren zu können. Auch die Frage, ob sich der Protagonist tatsächlich in seine Rolle fügen wird oder, ob er doch noch versucht sich dagegen aufzulehnen, bleibt durch das Ende offen. Hier ist mir nicht ganz klar, was du mit Stillstand gemeint hast.

Über deinen Hinweis, einen Bruch im Verlauf der Geschichte einzubauen, werde ich mal genauer nachdenken.

Beste Grüße und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Blumenberg
 

steyrer

Mitglied
Ein Rädchen im Getriebe

Na ja, jetzt wird mir einiges klar (etwa die Rolle des älteren Herren). Ich möchte dich allerdings darauf hinweisen, dass dieses Konzept so eintönig ist, wie eine zuverlässig arbeitende Maschine.

Einschätzung: Eine brauchbare Kurzgeschichte wird daraus kaum, aber vielleicht fügt sich der Text trotzdem - oder gerade deswegen - in eine Erzählung ein?

Grüße
steyrer
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Steyrer,

zunächst einmal muss ich mich entschuldigen, dass ich dich mit meiner Antwort ein wenig habe warten lassen.

Die Eingliederung in den maschinellen Ablauf ist nur ein Teilaspekt der Geschichte und nicht das einzige Thema, das in dem Text eine Rolle spielt, wie wird ja zum Ende hin lediglich angedeutet. Bei dem von mir in der letzten Antwort benannten maschinellen Vorgesetzen ist nicht "der Herr" gemeint sondern die Maschine, die durch Blinken und Pfeifton eine Reaktion des Protagonisten fordert und diesen zwingt sich dem Rythmus der Produktionsstraße anzupassen ohne überhaupt den Sinn der Tätigkeit verstanden zu haben.

Was die "Brauchbarkeit" der Geschichte als Kurztext angeht, gehen unsere Meinungen wohl auseinander, aber vielleicht überzeugt dich die hoffentlich irgendwann folgende Erzählung.

Beste Grüße und einen guten Jahresanfang!

Blumenberg
 

FrankK

Mitglied
Hallo, Blumenberg
Wiederholt habe ich mich nun mit diesem Text abgemüht. Ich entdecke / empfinde einige markante Punkte:
  • Der Prot ist zu Beginn scheinbar motiviert, er möchte einen qualifizierten Job, möchte sich möglichst Positiv darstellen. Auch wenn er der "Umettikettierung" skeptisch gegenüber steht. (Hier schimmert "Sozialkritik" durch)
  • Der Herr taucht unvermittelt auf, übernimmt die Initiative, führt einen vorgeplanten (geregelten) Ablauf ins Absurde.
  • Der Herr vermittelt den Eindruck, er stünde über dem System (Arbeitsagentur / -behörde)
  • Der Prot wird kontinuierlich demontiert, erniedrigt, seiner Persönlichkeit beraubt.
  • Es gipfelt in der Rückkehr ins Foyer, wo er dann auch seiner Sachbearbeiterin begegnet.
  • Der Prot bekommt seine Machtlosigkeit vorgeführt, es wurde alles bereits "über seinen Kopf hinweg" entschieden.
  • Die triste Arbeit, tätigkeit nach Aufforderung durch eine Maschine, demonstriert den Stellenwert des Prot weit unten in der Gesellschaft.
Alleine für den letzten Punkt der Liste hast Du (gefühlt) mehr als ein Drittel des Textes aufgewendet.

Wenn ich mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster lehne und eine Interpretation versuche - unter Berücksichtigung anderer Texte von Dir - dann beschreibst Du ein System, das zu seinem Selbstzweck existiert, oder bestenfalls nur für eine winzige Minderheit. Die "Produktionsstätte" könnte alles sein, Schnullerfabrik, Kaffeemühle, Vernichtungslager. Durch die Erniedrigung und das "überfahren" wird der Prot degradiert zu einem "Rädchen im Getriebe", unwissend zu einem Assistenten in einer Anlage, von der er nichts weiß. Er hatte keine Wahl, konnte es sich nicht aussuchen. Wird er dadurch zu einem Mitwisser? Mittäter? Mitläufer?

Dystopisch finster. Bedrückend. Unangenehme Vorstellung.

Wie sieht es mit der Arbeitsgesellschaft bei uns heute aus? Ein Stahlarbeiter - hat er mitgeholfen, Material bereitzustellen, dass zum Bau von Bomben dient, welche dann auf Schulen und Krankenhäuser geworfen werden könnten?
Ein Chemie-Facharbeiter - hat er Grundelemente zur Produktion von Giftgas beigesteuert?
Ein Informatiker - hat er Bestandteile einer Drohnensoftware programmiert, die Giftgas in bewohnten Gebieten ...

Ich habe jetzt sehr viel in den Text hinein-interpretiert.

Nicht der Inhalt dieses Textes ist das Problem, glaube ich, sondern seine Länge. In einem Berg von "erzähltem" gehen die eigentlichen Info-Points verloren. Ich, als Dein Leser, sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht.


Herzlich Grüßend
Frank
 

Roman

Mitglied
Angestellt
Lieber Blumenberg,
spät, aber hoffentlich nicht zu spät möchte ich Dir gerne auf das Werk schreiben:
Ich finde Diese Geschichte gut geschrieben. Man könnte diese jedoch verkürzen ohne den Sinn zu verfremden. Sie könnte auch an dieser Stelle anfangen:
Ich saß vor dem Pult und fühlte mich vollkommen durcheinander. Ich war schlicht die gänzlich falsche Person....
und wie geschrieben, bis zum Ende weitergehen.

Dann würde man den Sinn immer noch verstehen. Was hat dich bewogen, die vorhergehenden Teile der Geschichte zu schreiben?

mit lesendem Gruß
Roman
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Frank,

vielen Dank für die ausführliche Auseinanderstzung und das Abmühen mit dem Text, wobei du in deiner Zusammenfassung durchaus die wesentlichen Stationen des Textes nennst.

Zu deinem ersten Punkt ließe sich vielleicht noch ergänzen, dass wir es bei dem Protagonisten mit jemandem zu tun haben, der nicht nur selbstbewusst ist, sondern zu Beginn noch zwischen sich und den anderen Arbeitslosen, die er für minderwertiger hält unterscheidet, ein Irrtum wie sich im Lauf der Geschichte zeigt.

Deinen letzten Punkt habe ich in der Tat recht ausführlich behandelt, dahinter steckt allerdings eine gewisse Intention. Einerseits ging es mir hier um die Automatisierung von Arbeit, wobei der Mensch sich, um mal mit Günther Anders zu sprechen, in die Maschine assimilieren muss um weiterhin zu funktionieren, d.h. seine Arbeitsweise wird von der Maschine bestimmt, womit der Mensch zu einem Rädchen im Getriebe und somit selbst zu etwas maschinellem wird. Andererseits handelt es sich hier um einen Prozess der Entfremdung, den ich dadurch hervorgehoben habe, dass unser Protagonist nur das mitgeteilt bekommt, was benötigt wird, damit er funktioniert. Er erfährt nichts über die genauen Abläufe, noch nicht einmal was genau da eigentlich hergestellt wird und wird damit von der Teilhabe am Sinn seiner Arbeit vollkommen ausgeschlossen.

Hier geht deine Deutung tatsächlich über das von mir intendierte hinaus, da ich bei diesem Text tatsächlich einmal nichts mit Krieg und Vernichtung im Sinn hatte.

Deine Kritik, der Text sei für eine Kurzgeschichte zu ausführlich, kann ich nachvollziehen. Ich habe mich aber für einen anderen Lösungsansatz als den von dir vorgeschlagenen entschieden. Ich habe vor die Geschichte zu einer richtigen Erzählung auszuarbeiten und hoffe das es mir so gelingt sie mit einen konsistenten Plot zu versehen.

Beste Grüße

Blumenberg

Hallo Roman,

vielen Dank für deine Anmerkungen. Das Verkürzen der Geschichte, ist so eine Sache (s.o.). Ich glaube aber, dass die von dir vorgeschlagene Kürzung den Sinn des Geschriebenen verändern würde, da im ersten Teil eine Demontage des Selbstverständnisses des Protagonisten stattfindet, die ich für wichtig halte. Deshalb habe ich den Protagonisten auch so entworfen, dass er als Mitglied eines eher konservativen Bildungsbürgertums erkennbar wird. (siehe Kassandros Kommentar). Ich hoffe so wird die hinter dem ersten Teil stehende Intention für dich deutlicher.

Beste Grüße

Blumenberg
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
spannend! das ist spannend!

Die meiste Prosa läßt mich trocken, aber hier war ich von Anfang an gefesselt.

Hervorragend!

grusz, hansz
 



 
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